21. Januar 2011

Schrumpft die Mittelschicht? Geht die "soziale Schere immer weiter auseinander"? Nicht in Deutschland

Sie werden das sicher schon oft gelesen und im TV oder Radio gehört haben: Die soziale Schere in Deutschland geht immer weiter auseinander. Die soziale Kluft wird immer größer. Die Reichen werden immer reicher. Die Armut wächst. Die Mittelschicht schrumpft.

Was von derartigen Behauptungen zu halten ist, habe ich schon früher anhand der Fakten dargelegt: Nichts, schlicht nichts (Die soziale Kluft in Deutschland wird immer größer - stimmt's? Über Schlagworte und die Wirklichkeit; ZR vom 23. 10. 2008 und ein ähnlicher Artikel zu den USA: Die Reichen werden immer reicher. Wirklich? Eine Analyse aus den USA; ZR vom 13. 6. 2009).

Jetzt hat das Roman-Herzog-Institut, dessen Ehrenvorsitzender der Altbundespräsident ist, eine Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt, deren wichtigste Ergebnisse Sie in dieser Pressemitteilung lesen können. Die vollständige Untersuchung "Mythen über die Mittelschicht" von Dominik H. Enste, Vera Erdmann und Tatjana Kleineberg kann hier heruntergeladen werden. Über sie möchte ich berichten.



Wer gehört zur Mittelschicht? Es gibt verschiedene Definitionen; zum Beispiel anhand der Bildung und der Stellung im Beruf. Am objektivesten ist eine Definition anhand des Einkommens. Die Autoren orientieren sich an der Definition im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung und anderen offiziellen Definitionen. Danach
.. wird die Mittelschicht durch die Haushalte gebildet, deren Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent des Medianeinkommens (mittleres Einkommen aller Haushalte) betragen. (...)

Dies entsprach im Jahr 2009 einem Nettoeinkommen zwischen monatlich 860 und 1.844 Euro für einen Singlehaushalt. Für Mehrpersonenhaushalte wird das Nettoäquivalenzeinkommen berechnet. Dazu wird das Haushaltseinkommen mit der Anzahl der Haushaltsmitglieder gewichtet. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verwendet dabei für den ersten Erwachsenen ein Gewicht von eins. Jedem weiteren Erwachsenen wird jedoch nur ein Gewicht von 0,5 und Kindern unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3 zugeordnet.

Es wird also davon ausgegangen, dass der Bedarf eines zusammenlebenden Paares deutlich geringer ist als der von zwei Alleinstehenden. Diese Gewichtung ermöglicht den Vergleich von Haushalten mit verschiedenen Strukturen.
Schrumpft nun die so definierte Mittelschicht? Keineswegs. Sie liegt seit 1993 ziemlich stabil bei 60 bis 67 Prozent aller Haushalte. Auch die untere Einkommensgruppe (um 20 Prozent) und die obere (16 bis 19 Prozent) haben sich kaum verändert; vor allem gibt es keinen Trend in eine bestimmte Richtung. Sie können sich diese Daten in der Pressemitteilung zu der Untersuchung oder im "ÖkonomenBlog" als Grafik ansehen.

Nicht nur schrumpft die Mittelschicht nicht; auch die Behauptung, daß in Absetzung von der Mittel- und Unterschicht "die Reichen immer reicher" würden, ist ein Mythos (so die Untersuchung; man könnte auch sagen: Sie ist Agitprop). Die Autoren fassen den tatsächlichen Sachverhalt so zusammen:
Die Einkommensunterschiede zwischen der Mittelschicht und niedrigeren beziehungsweise höheren Einkommen haben sich in Deutschland in der Vergangenheit insgesamt weder stetig vergrößert, noch gibt es einen Trend, der darauf hindeutet, dass dies zukünftig zu erwarten ist.
Ein anderer Mythos, mit dem sich die Untersuchung befaßt, betrifft die Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg. Hier zeigen die Daten eine bemerkenswerte Diskrepanz: In ihrer subjektiven Beurteilung sehen die Angehörigen der Unterschicht relativ wenige Aufstiegsmöglichkeiten für sich; tatsächlich liegt der Anteil der Aufsteiger aber international im Mittelfeld. Dazu schreiben die Autoren:
Da die Bundesbürger ihre Aufstiegschancen pessimistisch einschätzen, fordern sie eine stärkere Umverteilung. Diese kann jedoch zu Fehlanreizen führen, die den Aufstieg durch harte Arbeit, Bildung und Engagement unattraktiver – und dadurch auch unwahrscheinlicher – machen. Der Verbleib im Transfersystem kann für manchen attraktiver erscheinen als der anstrengende Aufstieg in die Mitte. Somit würde die pessimistische Einschätzung der Aufstiegschancen zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden.
Eine einleuchtende Analyse. Und hinzu kommt aus meiner Sicht: Je attraktiver das Verbleiben in der Unterschicht durch Transferleistungen gemacht wird, umso mehr Menschen verbleiben in dieser Schicht. Je mehr Menschen in ihr verbleiben, umso stärker sieht sich "die Sozialpolitik gefordert". Und je mehr die Sozialpolitik tut, umso attraktiver ist das Verbleiben in der Unterschicht. Der perfekte Teufelskreis.



Bei Untersuchungen wie der jetzigen fragt man natürlich, wer dahintersteht. Wer ist das Roman-Herzog-Institut? Wer neben Roman Herzog dem Vorstand angehört, können Sie hier lesen. Den Wissenschaftlichen Beirat bilden Professoren aus dem Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Träger sind die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft und die Arbeitgeberverbände der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie.

Also?

Also kann man einer solchen Untersuchung nicht trauen, da das betreffende Institut doch von der Wirtschaft finanziert wird? Es ist seltsam: Die linke Propaganda hat es geschafft, diesen Einwand nachgerade reflexartig in den Köpfen entstehen zu lassen. Ich finde das bemerkenswert, und zwar aus zwei Gründen:
  • Erstens ist ein analoger Einwand kaum je zu vernehmen, wenn Untersuchungen zu derartigen Themen aus dem Bereich etwa der Gewerkschaften kommen oder von ausgewiesen linken Wissenschaftlern vorgelegt werden. Einer von ihnen, der Armutsforscher Christoph Butterwegge (einst als Stamokap-Theoretiker aus der SPD ausgeschlossen; dann wieder aufgenommen und wieder ausgetreten; kürzlich als Minister für die Partei "Die Linke" in NRW im Gespräch) war am vergangenen Sonntag bei Anne Will zu Gast.

  • Zum zweiten drückt das Mißtrauen gegen Forschung, die von der Industrie finanziert wird, einen im Grunde skandalösen Pauschalverdacht aus: Wissenschaftler würden nicht so forschen, wie es ihnen ihr Beruf gebietet, also voraussetzungslos und ergebnisoffen, wenn sie für ihre Projekte bestimmte Geldgeber haben.
  • Natürlich ist so etwas nicht ausgeschlossen; so wenig, wie es ausgeschlossen ist, daß gewerkschaftsnahe oder sonstige Forscher gegen ihren Berufsethos verstoßen. Aber das muß ja nun allerdings nachgewiesen werden.

    Im jetzigen Bericht habe ich keine Ungenauigkeit und nichts Einseitiges oder Propagandistisches finden können. Der Erstautor, Dominik H. Enste, ist ein ausgewiesener Wirtschaftswissenschaftler.

    Falls es wissenschaftliche Kritik an der Untersuchung geben sollte, wird diese anhand der üblichen wissenschaftlichen Maßstäbe zu prüfen sein. Allein der Hinweis auf die Geldgeber des Roman-Herzog-Instituts ist keine Kritik, die es verdienen würde, ernstgenommen zu werden.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Eigene Aufnahme. Mit Dank an den ÖkonomenBlog.