7. Januar 2011

Gesine Lötzsch und die Wege zum Kommunismus (2): Rosa Luxemburg, die Diktatur des Proletariats und die Freiheit des Andersdenkenden

Rosa Luxemburg spielt für die deutschen Kommunisten eine herausragende Rolle. Die parteinahe Stiftung der Partei "Die Linke" heißt "Rosa-Luxemburg-Stiftung". Und Jahr für Jahr pilgern die Spitzen der deutschen Kommunisten an ihrem Todestag am 15. Januar nach Berlin-Friedrichsfelde zu ihrer offiziellen Grabstätte.

Die alljährlichen Konferenzen der kommunistischen Zeitung "Junge Welt", über die ich im ersten Teil berichtet habe, tragen ihren Namen. Und auch Gesine Lötzsch, die morgen auf der diesjährigen Konferenz sprechen und diskutieren wird, befaßt sich in ihrem dazu vorab veröffentlichten Text ausführlich mit Rosa Luxemburg und preist deren Strategie der "fortschreitenden Machteroberung" als Vorbild für ihre Partei. Darüber konnten Sie ebenfalls im ersten Teil lesen.

Was gibt Rosa Luxemburg diese herausragende Bedeutung für den deutschen Kommunismus? Zum einen eignet sie sich zur Ikone - eine tapfere, intelligente, Frau, die ihr Leben dem Kommunismus gewidmet hat und die ermordet wurde. Das ist der Stoff, aus dem Heiligenlegenden sind.

Zum anderen gibt es diesen Satz. "Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden". Das ist der Satz, den jeder mit Rosa Luxemburg verbindet. Also - so schließt man, so soll man nach dem Willen der Kommunisten schließen - war Rosa Luxemburg eine Demokratin, die für die Meinungsfreiheit eintrat; die den Andersdenkenden auch im Kommunismus ihre Freiheit der politischen Betätigung garantieren wollte.

Es ist aber nicht so. Es ist mit diesem Zitat so wie mit vielen Zitaten: Sie sind in aller Munde; aber kaum jemand hat den Text gelesen, aus dem sie stammen, und kennt den Zusammenhang. Der Zusammenhang ist im Fall des Satzes von der Freiheit der Andersdenkenden eindeutig. Er zeigt, daß Rosa Luxemburg keineswegs auch Nichtkommunisten Meinungsfreiheit oder gar die Freiheit der politischen Betätigung gestatten wollte.



Sehen wir uns das genauer an.

Der Satz steht in einem der Breslauer Gefängnismanuskripte, die erst nach Luxemburgs Tod veröffentlicht wurden. Diesen Text "Zur Russischen Revolution" können Sie hier lesen.

Entstanden ist das Manuskript 1918. Rosa Luxemburg war damals in Breslau inhaftiert, und zwar in "Sicherungsverwahrung", nachdem sie eine Haftstrafe wegen Agitation gegen den Krieg und für die Weltrevolution verbüßt hatte.

Sie hatte gute Kontakte zur Außenwelt und verfolgt intensiv die russische Oktoberrevolution und die Politik Lenins und Trotzkis. Damit befaßt sich das Manuskript "Zur russischen Revolution". Kritisch für das Verständnis dieses Textes sind vier Fragen:
  • Wie stand Rosa Luxemburg zur Diktatur des Proletariats, zur Oktoberrevolution und zur Politik der Bolschewiken?


  • Wie stand sie zur Parlamentarischen Demokratie?


  • Was kritisierte sie an der Politik von Lenin und Trotzki?


  • Was meinte sie mit ihrer Forderung nach Freiheit der Andersdenkenden?


  • Oktoberrevolution, Bolschewiken, Diktatur des Proletariats. Als sie 1918 das Manuskript zur russischen Revolution schrieb, hatte sich Rosa Luxemburg längst von der deutschen Sozialdemokratie gelöst. Der Grund war zunächst ihre Ablehnung der Kriegskredite gewesen; dann unterzog sie aber in der Schrift "Die Krise der Sozialdemokratie" (Juni 1916) die gesamte Sozialdemokratie einer grundlegenden Kritik. Sie wollte keinen Reformismus, sondern die Revolution:
    Nicht an Postulaten, Programmen, Losungen fehlt es dem internationalen Proletariat, sondern an Taten, an wirksamem Widerstand, an der Fähigkeit, den Imperialismus im entscheidenden Moment gerade im Kriege anzugreifen und die alte Losung "Krieg dem Kriege" in die Praxis umzusetzen.
    Als dann in Rußland tatsächlich die Revolution gelang, war Luxemburg begeistert. Am Anfang des Manuskripts über die russische Revolution - also desjenigen Texts, in dem der Satz von der Freiheit der Andersdenkenden steht - schreibt sie:
    Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges. Ihr Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen am besten die Phrase Lügen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig ideologisch bemäntelt hat. (...)

    In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten und die Revolution vorwärts treiben konnte. (...) Die Lenin-Partei war somit die einzige in Rußland, welche die wahren Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff, sie war ihr vorwärtstreibendes Element, als in diesem Sinne die einzige Partei, die wirklich sozialistische Politik treibt.
    Ebenso eindeutig, wie sie auf der Seite der Bolschewiken stand, trat Luxemburg auch für die Diktatur des Proletariats ein:
    Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus.

    Parlamentarische Demokratie
    . Damit ist schon gesagt, wie Luxemburg zur parlamentarischen Demokratie stand. Wie höhnisch, wie vernichtend ihre Ablehnung der parlamentarischen Demokratie war, können Sie dieser Passage entnehmen:
    Damit haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der "Mehrheit des Volkes" gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein Alp auf der Brust liegt.
    Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir eine "Mehrheit". Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg.

    Was kritisierte Luxemburg an der Politik von Lenin und Trotzki? Nicht, daß diese die parlamentarische Demokratie ablehnten, revolutionäre Gewalt übten und die Diktatur des Proletariats wollten. Das haben wir gesehen. Sondern daß sie nicht radikal revolutionär genug waren.

    Ja, Sie haben richtig gelesen. Luxemburg forderte von den Bolschewiken ein rücksichtsloseres Vorgehen, und zwar in zwei Bereichen: Der Nationalitätenpolitik und der Agrarpolitik.

    Lenin hatte den Nationalitäten des einstigen Zarenreichs und nunmehrigen Sowjetreichs Freiheiten eingeräumt, und er hatte den Kleinbauern zunächst ihren Besitz lassen wollen. Wie Rosa Luxemburg das beurteilte, habe ich hier ausführlich zitiert.

    Kurz das Wesentliche zur Verteilung von Ackerland an Kleinbauern:
    Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern (...) ist nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet den Weg zu einer solchen ab (...).

    Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Rußland und die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiß sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem Hunger.

    Lenins Rede über notwendige Zentralisation in der Industrie, Nationalisierung der Banken, des Handels und der Industrie. Warum nicht des Grund und Bodens?
    Und zur Nationalitätenfrage:
    Wenn trotz alledem sonst so nüchterne und kritische Politiker wie Lenin und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopische Phraseologie wie Abrüstung, Völkerbund usw. nur ein ironisches Achselzucken haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer Art Opportunitätspolitik.
    Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf, daß es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen.
    In gewisser Weise traf Luxemburgs Kritik an Lenin ins Schwarze: Denn bald beendete dieser die Freiheiten, die man zunächst den Nationen der UdSSR gewährt hatte, und die Kleinbauern wurden enteignet. Lenin folgte in beiden Punkten den radikalen Ratschlägen Luxemburgs.


    Die Freiheit der Andersdenkenden. Wenn Sie bis hierher gelesen haben, werden Sie sich fragen, wie in aller Welt man auf den Gedanken verfallen kann, in Rosa Luxemburg die Verfechterin eines demokratischen Sozialismus zu sehen.

    Ja, da ist eben dieser eine Satz von der Freiheit der Andersdenkenden.

    Wie erwähnt, existiert der Text "Zur russischen Revolution" nur als handschriftliches Manuskript. Und da beginnt schon die Schwierigkeit, bei der Entzifferung nämlich. An ihr arbeiteten Wissenschaftler der sächsischen Rosa-Luxemburg-Stiftung, und nach ihrer Untersuchung des Textes für eine textkritische Ausgabe der Breslauer Gefängnismanuskripte muß es heißen: "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, sich zu äußern".

    Sich zu äußern. Nicht etwa die Freiheit, mit den Kommunisten auf einem demokratischen Weg um die Regierungsmacht zu konkurrieren.

    Aber mehr noch: Wer sollte überhaupt diese Freiheit genießen? Sozialdemokraten, Liberale, Konservative, Monarchisten? Keineswegs. Luxemburg bejaht ja die Diktatur des Proletariats und hat klargestellt, was sie vom "parlamentarischen Kretinismus" hält, nämlich nichts.

    Es ging ihr nicht um eine pluralistische Demokratie; nicht um die Freiheit des demokratischen Machtwechsels. Es ging ihr lediglich um die beste Art, die kommunistische Erziehungsdikatur zu organisieren; und da war sie anderer Meinung als Lenin:
    ... die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse enggezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag. (...)

    Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.

    Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden [,sich zu äußern]. Nicht wegen des Fanatismus der "Gerechtigkeit", sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die "Freiheit" zum Privilegium wird.

    Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen, daß sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin- und herprobieren mußten und daß ein gut Teil ihrer Maßnahmen keine Perle darstellt. So muß und wird es uns allen gehen, wenn wir daran gehen - wenn auch nicht überall so schwierige Verhältnisse herrschen mögen.

    Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider - oder je nachdem: zum Glück - nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt.
    Die "Freiheit der Anders Denkenden", von der Luxemburg spricht, hat also mit der Rede- und Meinungsfreiheit in einem demokratischen Rechtsstaat nichts gemein; erst recht nicht mit der Freiheit politischer Betätigung für Nichtkommunisten.

    Sie soll innerhalb der kommunistischen Erziehungsdiktatur gelten und lediglich dazu dienen, die "praktische Verwirklichung des Sozialismus" zu verbessern: Die Erziehung soll nicht durch Machtworte von oben geschehen, sondern durch einen Diskussionsprozeß, in dem auch abweichende Meinungen geäußert werden dürfen.

    Luxemburg wollte in Rußland eine Revolution, deren Gang von den Revolutionären in der Diskussion miteinander bestimmt wird, und nicht allein von der Führung der Bolschewiken.

    Und diese Passage wird nun seit Jahrzehnten von den Kommunisten und ihren Nachbetern dazu verwendet, der Öffentlichkeit weiszumachen, Rosa Luxemburg sei eine Demokratin gewesen!



    Sie war keine Demokratin, sondern eine revolutionäre Kommunistin.

    Auch Gesine Lötzsch hat sich spätestens mit ihrem jetzigen Text als eine revolutionäre Kommunistin zu erkennen gegeben. Luxemburg war nicht grundsätzlich gegen eine Revolution wie in Rußland; sie sah nur in Deutschland die Bedingungen dafür nicht als gegeben an und setzte deshalb auf die schrittweise Machteroberung. Darin will ihr Gesine Lötzsch folgen.

    Die Karten der Partei, die sich "Die Linke" nennt, liegen jetzt auf dem Tisch. Niemand soll später einmal sagen, er hätte es nicht gewußt.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Karl Marx im Jahr 1882.