26. Februar 2011

Aufruhr in Arabien (14): Die Stämme Libyens und ihre Rolle im jetzigen Machtkampf

Diesen Bericht von Stratfor hätte ich gern in ZR übernommen; aber er ist leider nicht freigegeben und nur Abonnenten zugänglich. Im folgenden stütze ich mich auf diesen Artikel, ohne ihm in allem zu folgen; und ohne daß alles, was ich schreibe, ihn als Quelle hat.

Libyen ist eine Stammesgesellschaft. Man kann sich über den Begriff "Stamm" streiten. Man kann auch von Clans oder Großfamilien sprechen. Am Sachverhalt ändert das nichts.

Daß Gaddafi sich so lange - mehr als vierzig Jahre - an der Macht halten konnte, basiert wesentlich auf seiner Fähigkeit, sich mit den Stämmen zu arrangieren. Auch das, was im Westen an seinem Verhalten, an seinem bombastischen Auftreten skurril erscheint, ist auf die Mentalität der Stämme abgestimmt. Für die Araber und Berber, die diese Stämme ausmachen, ist keineswegs das lächerlich, was im Westen so wirkt.

Von diesen Stämmen gibt es rund 140 in Libyen, davon 30 größere. Sie leben in den drei Teilen Libyens, die erst durch die italienische Kolonisierung zu einer künstlichen Einheit zusammengefaßt worden sind (siehe Die aktuelle Lage in den arabischen Ländern und im Iran. Teil 3: Libyen; ZR vom 21. 2. 2011): Tripolitanien, die Cyrenaika und Fezzan.

Fezzan liegt im Landesinneren; Tripolitanien (im Westen) und die Cyrenaika (im Osten) sind die beiden Küstenregionen, die durch rund 800 km Wüste voneinander getrennt sind; die Cyrenaika reicht allerdings auch ins Landesinneres hinein, also in die Sahara. Die Trennung zwischen diesen Regionen ist uralt. Schon im 11. Jahrhundert wurden die Cyrenaika und Tripolitanien von verschiedenen Stämmen bewohnt; den Banu Hilal und den Banu Salim.

Der Putsch von Gaddafi und anderen Offizieren 1969 bedeutete auch eine Verschiebung des Machtzentrums von der Cyrenaika nach Tripolitanien. König Idris (der I. und Letzte; siehe Die aktuelle Lage in den arabischen Ländern und im Iran. Teil 3: Libyen; ZR vom 21. 2. 2011) war ein Herrscher aus der Cyrenaika gewesen, wo der Sanussi-Orden, eine sufitische, 1842 gegründete Religionsgemeinschaft dominierte, dem er angehörte. Gaddafis Machtzentrum war und ist Tripolitanien, wo sein Stamm siedelt.

Die Cyrenaika ist nach Ägypten hin orientiert, Tripolitanien in Richtung Maghreb. Man kann das mit der Ukraine vergleichen, deren östlicher Teil sich nach Rußland orientiert, der westliche nach Polen. Zwei Länder in einem Staat.

Die Stämme des Fezzan sind zahlenmäßig von geringerer Bedeutung - aber auf ihrem Gebiet, plus dem Sahara-Teil der Cyrenaika, lagert das Öl.



Der Gaddafi-Stamm besteht aus sechs Teilstämmen, die im östlichen Teil von Tripolitanien beheimatet sind. Er spielte vor dem Putsch von 1969 keine sehr große Rolle, auch nicht im Unabhängigkeitskampf gegen Italien. Aber seine Mitglieder waren stark im Militär vertreten, vor allem in der Luftwaffe, der auch der damalige Hauptmann (er ernannte sich später selbst zum Obersten) Gaddafi angehörte.

Wie jedes Mitglied einer Stammesgesellschaft hat Gaddafi hauptsächlich Leute aus seinem Stamm in die Machtpositionen gebracht; ähnlich, wie Saddam Hussein Verwandte aus Tikrit. Da der Stamm der Gaddafi aber zu klein ist, mußte Gaddafi eine Allianz mit zwei anderen, mächtigen Stämmen aus dem Westen Libyens eingehen, den Warfallah und den Magariha.

Die Warfallah sind der größte Stamm Libyens mit mehr als einer Million Menschen; und sie sind mit den Gaddafi blutsverwandt. Wichtig für das Verständnis der jetzigen Vorgänge ist, daß dieses Bündnis jetzt zerbrochen ist. Die Warfallah haben sich von Gaddafi losgesagt. Vor allem nachdem Gaddafi afrikanische Söldner gegen die Opposition eingesetzt hat, sind viele von ihnen - vor allem aus dem Teilstamm der Bani Walid - zur Opposition übergelaufen.

Die Magariha, der zweite bisher mit Gaddafi verbündete große Stamm, siedeln (bzw. nomadisieren) im Fezzan, also im westlichen Landesinneren. Der starke Mann dieses Stamms ist Oberst Abdullah al-Sanussi, Gaddafis Sicherheitschef, der unter anderem den Lockerbie-Anschlag organisierte. Er ist mit Gaddafi durch Heirat verwandt und gilt als ein brutaler Mann. Beispielsweise ließ er 1996 im Gefängnis Abu Salim rund hundert islamistische Gefangene gleichzeitig hinrichten.

Al-Sanussi hält weiter zu Gaddafi und ist der Hauptverantwortliche für die Massaker der vergangenen Tage. Andere Mitglieder des Magariha-Stamms haben sich aber offenbar inzwischen der Opposition angeschlossen.

Es gibt weitere, überwiegend nomadisierende Stämme, die sich aus den jetzigen Unruhen weitgehend heraushalten; dazu gehören die Tuareg und die Tubu, die Gaddafi bisher mit Geldzahlungen ruhiggestellt hat. Sie könnten sich aber leicht der Opposition anschließen, wenn sie darin einen Vorteil für sich sehen.

Gaddafi ist damit in einer äußerst prekären Situation. Auf seinen eigenen Stamm kann er sich weiter verlassen. Im Westen sind ihm aber die Warfallah und zum Teil die Margariha von der Fahne gegangen, und in der Cyrenaika herrschen der Sanussi-Orden und die Kaida.



Kommentar: Es wird wieder einmal deutlich, wie grotesk irreführend das Schema "Das Volk erhebt sich gegen eine Diktatur" auch hier ist. Natürlich ist Gaddafi ein blutiger sozialistischer Diktator. Aber unter dem Firnis seines "islamischen Sozialismus" sind die alten Strukturen erhalten geblieben.

Er wollte das Land in den Sozialismus führen, wie einst Mugabe in Zimbabwe, Nyerere in Tansania, Kwame Nkrumah in Ghana und so viele andere. Alle sind sie gescheitert; alle haben sie ihr Land nur in Armut und Unterdrückung geführt.

Ist der Sozialismus besiegt, dann kehren die die alten sozialen und politischen Strukturen zurück. Rußland wurde wieder ein Feudalstaat. Polen ist wieder ein katholisches Land. Die Tschechoslowakei zerfiel; das ebenfalls künstliche Gebilde Jugoslawien löste sich in Kriegen auf.

Libyen ist ein Kunstgebilde seit 1911, als Italien sich drei Provinzen des Osmanischen Reichs zusammenraubte. Es ist ein sozialistisches Land, von dem jetzt der Sozialismus abfällt wie Putz von einem alten Haus. Jetzt finden wieder die alten Machtkämpfe statt.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Großmoschee von Kairouan, Tunesien. Vom Autor Wotan unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0-Lizenz freigegeben. Bearbeitet. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.