26. Februar 2011

Lernen Studenten die Wissenschaft kennen? Subjektive Überlegungen, persönliche Erfahrungen. Nebst einer Anmerkung zur Ethik

Die meisten Deutschen scheinen an dem Verhalten des früheren Doktors zu Guttenberg, das nach allen akademischen Maßstäben skandalös ist, weiter nichts zu finden. Er hat nach Strich und Faden - so nennt das die Umgangssprache nun einmal - betrogen. Na und? scheinen da viele zu denken. Schulterzucken.

Mir erscheint das erklärungsbedürftig. In den USA wäre so etwas undenkbar. Kein Politiker würde es da in seinem Amt oder Mandat überleben, als akademischer Betrüger entlarvt worden zu sein. Nicht anders wäre es in Frankreich oder im Vereinigten Königreich.

Woher diese Nachlässigkeit, diese Wurschtigkeit gegenüber dem Fall Guttenberg in Deutschland?

Teils mag das an der besonderen Rolle dieses Mannes in der deutschen Politik liegen, mit der ich mich in früheren Artikeln befaßt habe (siehe Guttenbergs Glanz. Guttenbergs Fall. Glamour, Enttäuschung, kognitive Dissonanz; ZR vom 21. 2. 2011, sowie Der Lügenbaron vor dem Bundestag. Tartuffe Guttenberg; ZR vom 23. 11. 2011). Aber mir scheint, das reicht zur Erklärung nicht aus.

Mir will es scheinen, daß viele Deutsche Guttenbergs Versuch, sich den Doktortitel zu erschleichen, deshalb als gar nicht so schlimm ansehen, weil sie denken, daß es ohnehin in der Wissenschaft unsauber zugeht. Mein Gott, er hat halt das gemacht, was alle machen; nur hatte er das Pech, erwischt zu werden.



Die Causa Guttenberg wirft insofern ein Licht auf die Art, wie Wissenschaft im heutigen Deutschland von Außenstehenden wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmung ist das Ergebnis von vierzig Jahren einer Entwicklung, die mit marxistischer Kritik an der "bürgerlichen Wissenschaft" begann und die dann in eine feministisch-ökologistisch geprägte Kritik an der "Männerwissenschaft", am "Machbarkeitswahn", an einer vorgeblichen "Faktenhuberei" und dergleichen überging.

Ab ungefähr 1970 wurde das auf Karl Marx zurückgehende Wort "Fachidiot" populär. Der Fachidiot versteht sein Fach und ist ansonsten borniert. Und natürlich ist er käuflich; finanziert doch das Kapital einen Teil der Forschung, ist doch auch der Staat als Träger von Universitäten der Büttel des Kapitals.

Dieser Wissenschaftler, der im Dienst von Interessen steht, tut das, was seine Auftraggeber verlangen. Er "findet heraus", was sie hören und lesen wollen; so verkündet man es. Daß es der Wissenschaft um Wahrheit gehe, wird als Schein entlarvt; dahinter stehen doch immer Interessen. Oh ja, man blickt durch. Man guckt hinter die Kulissen. Man läßt sich doch kein X für ein O vormachen.

Kommunisten verbreiten dieses Bild, weil ihnen jede offene, ehrliche Wissenschaft ein Dorn im Auge ist; Wissenschaft muß aus marxistischer Sicht bekanntlich parteilich sein. Viele, sehr viele plappern es ihnen nach. Nicht nur am linken, sondern auch am rechten Rand ist der Generalverdacht weit verbreitet, daß es in der Wissenschaft nicht ehrlich zugehe. Verbreitet bis jeweils weit in die Mitte hinein.

Wenn viele in der Wissenschaft tricksen und täuschen - was soll man es da einem Guttenberg vorhalten, daß er mit den Wölfen heult? So dürften viele denken.

Nur gibt es diese Wölfe nicht. Das Bild von der Wissenschaft, das diese Kritiker entwerfen, ist lächerlich. Es ist so lächerlich wie die Vermutung, die deutschen Notare würden in der Regel bewußt falsch beurkunden, oder die meisten deutschen Beamten wären durch ein paar ihnen diskret überreichte 100-Euro-Noten zu jeder Gefälligkeit zu bewegen.

Wir leben aber nicht in einer korrupten Bananenrepublik. Auch nicht, was die Wissenschaft angeht.

Warum denken das aber nicht nur diejenigen, die Wissenschaft nie selbst erlebt haben? Wieso auch Menschen, die studiert haben oder studieren? Wieso haben ihre akademischen Lehrer ihnen kein richtiges Bild davon vermitteln können, wie Wissenschaft funktioniert?



Als ich in den sechziger Jahren studierte, hatte ich das Glück, vom ersten Semster an mit Wissenschaftlern in Kontakt zu kommen.

Die Vorlesungen, die Praktika und die Übungen waren damals zwar meist so überfüllt wie heute; aber die Größenordnung war eine andere. Die Räume waren klein, oft winzig; es gab wenig Lehrpersonal. Aber in einem typischen naturwissenschaftlichen Fach gab es an einer Universität vielleicht 20 Studienanfänger pro Semester.

Sie wurden - so habe ich es erlebt - vom Institutsdirektor angeschrieben und zu einem Gespräch eingeladen, damit man sich kennenlernen konnte. Diese Institute waren oft in angemieteten Häusern oder Wohnungen untergebracht; beliebt waren Villen mit diesem typischen Grundriss eines zentralen Flurs, um den herum die Zimmer angeordnet sind. Dort hatte dann der Professor sein Zimmer, daneben sein Assistent (es war selten mehr als einer, allenfalls zwei) und die Doktoranden, die als Hilfskräfte einen großen Teil der Lehre trugen.

Man wuchs vom ersten Semester an in diese wissenschaftliche Gemeinschaft hinein. Experimentalpraktika wurden von den Doktoranden durchgeführt, die von den Anfängern kleinere Experimente aus ihrer eigenen Forschung machen ließen. Man diskutierte mit den Doktoranden und Assistenten. Der Chef ging von Experiment zu Experiment; man konnte auch ihn fragen und mit ihm diskutieren.

So habe ich das wissenschaftliche Handwerk gelernt, das in dieser Zeit vor der Ära der Laborrechner wirklich noch ein Handwerk war. Fast jedes Institut hatte seine eigene Werkstatt, in der Elektriker, Werkzeugmacher usw. die Forschungsgeräte bauten.

Und dabei habe ich eben auch - ohne daß man mir das ausdrücklich predigen mußte - die Ethik der Wissenschaft gelernt. Ich habe gelernt, wie penibel man mit Daten umgehen muß. Ich habe gelernt, daß streng zwischen Versuchsergebnissen und deren Interpretation zu unterscheiden ist.

Und es war selbstverständlich, daß man sich nicht mit fremden Federn schmücken durfte. Das Plagiat wäre dabei die äußerste Form gewesen; so völlig unakzeptabel, daß das eigentlich gar nicht diskutiert zu werden brauchte. Aber ich lernte auch, daß man dann, wenn man von einem anderen Wissenschaftler auch nur einen Gedanken übernimmt, dies in der betreffenden Arbeit anerkennen muß. Wenn man diese Idee aus einem Gespräch mit dem Betreffenden hat, dann schreibt man zum Beispiel eine Fußnote "Persönliche Mitteilung von Herrn Dr. XYZ" oder dergleichen.

Während ich dann später an den Experimenten zu meiner Dissertation arbeitete, habe ich einmal einem Professor an einer anderen Universität von einer Versuchsidee erzählt, die ich gerade ausprobierte. Später stellte ich fest, daß er sofort ins Labor gegangen war, das Experiment selbst gemacht hatte und es vor mir publizierte.

Ich war selbst schuld gewesen; ich hätte ihm das ja nicht erzählen müssen. Aber der Mann war in meinen Augen erledigt. Ich habe kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Wohl aber habe ich die Sache herumerzählt; und ich hoffe, es hat seinem Ruf geschadet.



Ehrlichkeit, Offenheit und das Anerkennen der Leistung anderer sind die Grundlage jeder Wissenschaft. Sie kann nicht anders funktionieren. Eine betrügerische Wissenschaft geht zugrunde. Sie scheitert an der Realität.

Daß diejenigen, die nicht studiert haben, das nicht wissen, ist ihnen nicht anzulasten. Warum wissen es aber heutzutage auch viele von denen nicht, die studiert haben oder die noch studieren?

Es liegt, wie anders, am heutigen Studienbetrieb. Die bescheidene Idylle, die ich aus meiner Zeit als Studienanfänger geschildert habe, ist eben Vergangenheit; Postkutschenzeit.

Vor ein paar Jahren ist es mir passiert, daß mich ein Student auf dem Gang fragte: "Wo sitzt denn der Professor Zettel? Ich habe bei dem jetzt Prüfung". Gut, das war ein Extremfall. Irgendwann einmal gesehen haben mich die meisten meiner Studenten vor dem Examen; aber mit vielen hatte ich nie ein Wort gewechselt, bevor sie zur Prüfung erschienen.

Diese Studienanfänger wachsen nicht mehr in den Wissenschaftsbetrieb hinein. Und für viele bleibt das so, bis sie ihr Abschlußexamen machen. Sie stecken ihre Köpfe in die Lehrbücher. Sie bimsen die Ergebnisse der Wissenschaft. Sie lassen sich diese von Lehrenden eintrichtern, für welche die Lehre eine lästige Pflicht ist.

Diese Studenten erleben die Wissenschaft nicht als den Prozeß der Forschung, sondern als eine Ansammlung von Lernmaterial. Da sie nicht wissen, wie tatsächlich geforscht wird, glauben sie jede Verdrehung über die Wissenschaft. Sie sind anfällig für antiwissenschaftliche Propaganda, auch wenn sie selbst am Ende einen wissenschaftlichen Abschluß haben.



Was kann man dagegen tun? Die Rezepte sind jedem bekannt: Ein günstigeres numerisches Verhältnis von Lehrenden zu Lernenden. Mehr Engagement der Professoren in der Lehre. Eine strengere Auslese bei den Studierenden, so daß an die besten Universitäten auch nur die besten Studenten kommen.

Mit anderen Worten: Es so machen wie im amerikanischen System der privaten Universitäten, die sich u.a. aus Studiengebühren finanzieren. Also geht das nicht in einem Land, in dem die bescheidenen Versuche, Studiengebühren einzuführen, schon wieder zum Teil kassiert werden.

Professoren sind dann daran interessiert, hervorragende Lehre anzubieten, wenn die ganze Universität daran interessiert ist. Diese ist es dann, wenn sie ein Interesse daran hat, die besten Studenten anzuziehen. Private Universitäten haben das, weil mit ihrem Ansehen auch ihre Einnahmen wachsen. Staatlichen Hochschulen kann das in der Regel weitgehend egal sein.

Trotz einer "Exzellenzinitiave" hier und da. Das verhält sich zur freien Konkurrenz zwischen den Hochschulen wie die Titel, Medaillen und Belobigungen in der DDR zur Marktkonkurrenz als motivierendem Faktor. Wenn der Student für die Lehre zahlt, so wie man für jede Dienstleistung einen angemessenen Preis zahlen muß, dann ist er Kunde und wechselt gegenbenfalls den Anbieter, wenn er mit der Leistung nicht zufrieden ist. Wenn ihm die akademische Lehre vom Staat geschenkt wird, dann muß er sie hinnehmen. Einem geschenkten Gaul schaut man bekanntlich nicht ins Maul.

Solange die deutschen Universitäten so sind, wie sie sind - was kann man tun, um Studenten ein richtiges Bild von wissenschaftlicher Forschung zu vermitteln? Man kann zum Beispiel in Vorlesungen etwas tun.

Viele Professoren delegieren die Vorlesungen für Anfänger an ihre Mitarbeiter. Ich habe sie immer selbst gehalten; denn nichts ist wichtiger, als Studenten schon ganz am Anfang ihres Studiums ein richtiges Verständnis von Wissenschaft nahezubringen. Man darf dann freilich nicht aus den eigenen Werken vorlesen; sondern man muß den Studenten an Beispielen zeigen, wie Forschung funktioniert und warum sie so ist, wie sie ist. Studienanfänger sind begeisterungsfähig. In der Regel wird ihnen die Begeisterung schnell ausgetrieben.



Die Wurschtigkeit, die ethische Indifferenz, mit der viele Deutsche offenkundig auf die Verfehlungen des gescheiterten Doktors reagieren, hat aber wohl noch einen anderen Grund: Man nimmt es ja selbst nicht so genau. Man versucht hier zu tricksen und dort zu täuschen - warum soll man das nicht auch dem Freiherrn zubilligen?

Auch diese Haltung geht auf die Zeit um 1970 und danach zurück. Damals kursierte nicht nur das Wort "Fachidiot", sondern man konnte auch ein Buch mit dem Titel "Klau mich" kaufen. Nein, natürlich nicht kaufen. Man tat das, was auf dem Umschlag stand. Mir hat ein Dokorand einmal, leicht angeheitert, erzählt, daß er alle Bücher während seines Studiums "geklaut" hätte. Er dachte offenbar, ich würde das lustig finden. Ich fand es aber nur beschämend.

Man war damals stolz darauf, die "bürgerliche Moral" über Bord zu werfen. "Man darf das alles nicht so eng sehen" wurde zu einem beliebten Spruch. Der Freiherr, der nachfolgenden Generation entstammend, hat es nicht so eng gesehen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Wilhelm v. Humboldt, der das Konzept der Universität als Ort der Einheit von Forschung und Lehre entwickelte; Stich aus der Sammlung der Humboldt-Universität Berlin.