24. Juni 2010

Özils Scheitern, Özils Treffer. Und noch einmal Joachim Gauck

In der 25. Minute des gestrigen Spiels gegen Ghana erhielt Mesut Özil einen - so die sonst eher zurückhaltende FAZ - "traumhaften Pass" von Cacau und lief allein auf den ghanaischen Torhüter Kingson zu; nicht eben ein Weltklasse-Mann (dritter Torhüter von Wigan Athletics; dort seit 2008 insgesamt viermal eingesetzt).

Es schien nur noch eine Formsache zu sein, den Ball ins Tor zu befördern. Aber Mesut Özil - er auf dem Weg zur Weltklasse - brachte es fertig, genau auf Kingson zu schießen; "dessen in Lilatönen schattiertes Trikot offenbar eine magische Anziehungskraft ausübte", so Christian Zaschke in sueddeutsche.de. Nichts war es mit dem Führungstreffer.

In der 60. Minute gelang er Mesut Özil dann doch, der Führungstreffer; das - so "Spiegel-Online" - "Traumtor aus der Distanz", welches (darunter tut man's heutzutage nicht) "Deutschland ins Glück" beförderte.

Wie konnte derselbe Mann im selben Spiel einmal so glänzend treffen und einmal so eklatant versagen?

Zufall, vielleicht. Das Element des Zufalls spielt nun einmal beim Fußball eine große Rolle und macht nicht zuletzt dessen Reiz aus; siehe Warum ist der Fußball eine so attraktive Sportart?; ZR vom 12.6. 2010.

Aber die beiden Situationen unterschieden sich auch in einer möglicherweise ausschlaggebenden Hinsicht.

Als in der 60. Minute Özil den Querpass von Thomas Müller erhielt, gab es nicht viel zu überlegen. Özil hat einfach aufs Tor gehalten; so ähnlich hat er es nach dem Spiel auch gesagt. Die Situation war da, und Özil tat, was sie verlangte.

Wenn ein Spieler allein mit dem Ball auf das Tor zuläuft, dann muß er aber eine bewußte Entscheidung treffen. Er muß überlegen, ob er den herausstürzenden Tormann zu umdribbeln versuchen soll; ob der Winkel es erlaubt, den Ball an ihm vorbei ins Tor zu schießen; ob er den Ball vielleicht über den Torwart hinweglupfen soll (was Günter Netzer in seinem Dialog mit Gerhard Delling nachträglich empfahl); oder ob er gar den Versuch machen soll, den Torhüter zu "tunneln", also den Ball zwischen dessen Beinen hindurch ins Tor zu befördern.

Vielleicht wollte Özil den Towart Kingson tunneln; vielleicht wollte er auch den Ball an ihm vorbeischießen, wurde aber von dem Mann, siehe oben, "magisch angezogen". Jedenfalls ballerte er genau auf Kingson. Jedenfalls scheint es, daß er in dieser Entscheidungssituation versagt hat; nervös, wie er war, so wie die ganze Mannschaft. Nicht verwunderlich angesichts des Drucks, unter dem man stand. Özil ist noch keine 22 Jahre.

Es gibt im Fußball, wie in vielen Sportarten, Situationen, die dem Spieler "sagen", was zu tun ist; in denen er, wenn er routiniert ist, ohne viel Überlegen richtig handelt. In einer solchen Situation war gestern Mesut Özil glänzend; es ist die Art von Situation, in der beispielsweise auch Lukas Podolski glänzt.

Und es gibt Situation, in denen die bewußte Bewertung von Handlungsmöglichkeiten, die Entscheidung zwischen Alternativen erforderlich ist. Das verlangt ein ganz anderes Talent. Als er die Torchance in der 25. Minute vergab, hat Mesut Özil es vermissen lassen.

In der sagenhaften Nationalelf der frühen siebziger Jahre verkörperte übrigens Gerd Müller perfekt den intuitiv spielenden Fußballer, der aus der Situation heraus richtig handelt; während Franz Beckenbauer nah an das Idealbild des blitzschnell die Alternativen abwägenden, bewußt entscheidenden Spielers herankam.



Zurück zu Mesut Özil. Er ist ein sympathischer, introvertiert wirkender junger Mann. Nach dem Spiel hat er ein kurzes Interview gegeben; Ausschnitte können Sie hier sehen.

Und da bin ich regelrecht erschrocken: Dieser junge Mann, der in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen ist, kann nicht richtig Deutsch! Er sagt Sätze wie "Ich wußte, daß ich heute Tor mache". Und das war nicht der Aufregung geschuldet. Hier können Sie ein etwas älteres Interview mit Mesut Özil sehen, in dem er zum Beispiel sagt "Also, ich will so schnell als möglich, also, in ersten Elf komm".

Nein, ich will kein Wasser in den Wein der Freude über das Weiterkommen der deutschen Mannschaft gießen. Schon gar nicht will ich es Mesut Özil ankreiden, daß er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ohne richtig Deutsch zu lernen.

Er hat das Pech, in Gelsenkirchen geboren zu sein und nicht in Urach (wie der Schwabe Cem Özdemir); oder in Deggendorf (wie der Bayer Django Asül). Diese beiden wuchsen in Bundesländern auf, deren Regierungen die Assimilation der Nachkommen von Einwanderern anstreben. Sie sprechen Schwäbisch und Bayerisch wie jeder andere Schwabe und Bayer auch. Sie sind assimiliert.

Özil kam hingegen in einem Bundesland auf die Welt und ging dort zur Schule, das bis vor fünf Jahren von den Multikulti-Parteien SPD und Grüne beherrscht wurde. Sie wollten ausdrücklich nicht die Assimilation der Einwanderer, sondern wünschten sich, daß diese "ihre Kultur" erhalten sollten.

Ich erinnere mich an eine Sendung des WDR-Hörfunks; es mag in den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren gewesen sein. Drei Stunden lang, von neun bis zwölf Uhr vormittags, widmete man sich dort den Kopftüchern türkischer Frauen. Und zwar in einer lobenden, ja enthusiastischen Weise. Wie schön es sei, daß sie dadurch ihr Eigenes bewahrten, ihre Identität zeigten. Wie wunderbar, daß die Türkin durch die Wahl ihres jeweiligen Kopftuchs ihre Stimmung ausdrücken könne. Und so fort.

In diesem Klima ist Mesut Özil aufgewachsen. Er ist dem Paß nach Deutscher, aber er ist mental noch nicht wirklich in Deutschland angekommen. Als er im Februar 2009 erstmals für die A-Nationalmannschaft nominiert worden war, sagte er:
Ich habe mir die Entscheidung in den letzten Wochen nicht leicht gemacht, weil meine Familie und viele Freunde aus der Türkei stammen. Das ist auch keine Entscheidung gegen meine türkischen Wurzeln. Doch meine Familie lebt jetzt in der dritten Generation in Deutschland und ich bin hier aufgewachsen, habe mich immer wohl gefühlt, hier habe ich meine Chancen in den Junioren-Auswahlteams bekommen. Ich weiß, dass es die richtige Wahl ist.
Da ringt einer um seine Identität. Er spielt für Deutschland; sein Geburtsland. Aber die Nationalhymne singt er nicht mit.



Gestern habe ich aus Joachim Gaucks Rede im Deutschen Theater in Berlin zitiert. Dort hat er auch dies gesagt:
Wir wollen eine aufnehmende und einladende Gesellschaft sein; jeder weiß, dass wir Zuwanderer schon aus demographischen Gründen brauchen.

Vor kurzem war ich tief bewegt, als ich die mangelnde Beheimatung spürte, die viele von ihnen immer noch verspüren, selbst wenn sie hier geboren wurden. In den USA begegneten mir Menschen, die erst zwei, drei Jahre im Land lebten, aber dennoch stolz erklärten: This is my country. Hier aber begegnete mir eine junge Frau, die als Tochter türkischer Eltern hier zur Schule ging, hier als akademisch Gebildete in führender Position im politischen Leben aktiv ist, aber mich dennoch mit großen Augen ansah: "Gehöre ich dazu, wenn Sie sagen: Wir sind ein Volk?"

Offensichtlich haben wir zu lange zu wenige und zu halbherzige Einladungen ausgesprochen und dadurch mit befördert, was uns heute große Probleme bereitet: Ressentiments gegenüber fremden Kulturen auf der einen Seite und mangelnde Integrationsbereitschaft in bestimmten Milieus der Zuwanderer auf der anderen Seite.
Die Multikulti-Ideologie sah Deutschland als ein Einwanderungsland, wollte uns aber das vorenthalten, was das zentrale Bestreben jedes Einwanderungslandes sein muß: Die Einwanderer zu assimilieren. Aus Einwanderern also normale, gute Staatsbüger zu machen, mit der nationalen Identität ihrer neuen Heimat, mit demselben Nationalbewußtsein wie diejenigen, die Gauck, bezogen auf unser Land, in einem Extempore - nicht enthalten im schriftlichen Redetext - die "Altdeutschen" genannt hat.

Neudeutsche sollen die Einwanderer und ihre Nachfahren werden, das muß unser Ziel sein. Eine solche Assimilation streben alle klassischen Einwanderungsländer an, von den USA über Australien bis Brasilien.

Ich erwähne Brasilien, weil Özils Kollege in der deutschen Nationalmannschaft Claudemir Jeronimo Barreto, Künstlername Cacau, ein Einwanderer aus Brasilien ist. Er ist erste Generation; geboren wurde er in Santo André im brasilianischen Bundesstaat São Paulo. Er kam 1999 nach Deutschland und besitzt erst seit Februar 2009 die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber als gebürtiger Brasilianer hat er offenbar eine normale Beziehung zur Einwanderung und zur Assimilation. Er singt die Nationalhymne mit.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Mesut Özil bei einem Spiel am 10. Oktober 2009. Von der Autorin Julia Nowikowa unter Creative-Commons-Lizenz freigegeben.