9. Juni 2010

Gaza, die langfristige Gefahr für Israel und die mögliche Rolle der Türkei. Eine Analyse von George Friedman

Kürzlich habe ich hier die pessimistische Sicht des Starkolumnisten der Washington Post Charles Krauthammer beschrieben, was die Sicherheitslage Israels angeht. Nach seiner Auffassung hat sie sich in den vergangenen Jahrzehnten schrittweise immer mehr verschlechtert.

Zu einer anderen Bewertung kommt in der gestrigen Ausgabe des auf Sicherheitspolitik spezialisierten Informationsdienstes Stratfor dessen Chef George Friedman. Er sieht vorläufig eher eine Verbesserung, befürchtet aber langfristig eine Gefährdung Israels. Dabei könne die Türkei eine Schlüsselrolle spielen.

Die ersten Generationen der Israelis, argumentiert Friedman, lebten in der ständigen Gefahr, daß ihr Staat einer militärischen Intervention der miteinander verbündeten arabischen Nachbarn zum Opfer fallen würde.

Diese Gefahr besteht jetzt nicht mehr. Israel operiere heute in einem "vorteilhaften strategischen Kontext" - mit Ausnahme der Öffentlichen Meinung im Ausland und der iranischen Atomrüstung. Diese, meint Friedman, seien aber keine unmittelbare Bedrohung, vergleichbar der militärischen Bedrohung seitens einer Allianz arabischer Staaten.

Diese Allianz gibt es nicht mehr. Ägypten und Jordanien haben ihren Frieden mit Israel gemacht. Syrien unterstützt zwar die Hisbollah und auch die Hamas, aber seine Interessen liegen primär im Libanon. Die arabischen Staaten seien heute unfähig, auch nur Teilkoalitionen gegen Israel zu schmieden.

Was die palästinensischen Organisationen angeht, so sind die Fatah und die Hamas feindlich gegeneinander eingestellt. Die beiden spielten, meint Friedman, ein Nullsummenspiel: Jeder Sieg der einen Organisation ist eine Niederlage für die andere. Die Fatah würde jetzt zum Beispiel versuchen müssen, die Hamas nach dem Erfolg, den sie mit der Flottenaktion erlangt hat, auf einem anderen Gebiet zu schwächen.



Weil Israel derzeit nicht wirklich militärisch bedroht wird, kann es - so Friedman - eine seinen Interessen entsprechende Politik gegenüber Gaza betreiben und gelassen auf die massive Kritik aus dem Ausland reagieren:
Given this environment, it is extremely difficult to translate hostility to Israeli policies in Europe and other areas into meaningful levers against Israel. Under these circumstances, the Israelis see the consequences of actions that excite hostility toward Israel from the Arabs and the rest of the world as less dangerous than losing control of Gaza. The more independent Gaza becomes, the greater the threat it poses to Israel. The suppression of Gaza is much safer and is something Fatah ultimately supports, Egypt participates in, Jordan is relieved by and Syria is ultimately indifferent to.

Angesichts dieser Umgebung ist es extrem schwierig, die Feindseligkeit gegenüber der Politik Israels in Europa und in anderen Regionen in sinnvolle Druckmittel gegen Israel umzusetzen. Unter diesen Umständen sehen die Israelis feindselige Reaktionen seitens der Araber und des Rests der Welt als Folge ihrer Aktionen als weniger gefährlich an als einen Verlust der Kontrolle über Gaza. Es ist viel sicherer, Gaza niederzuhalten; und es ist etwas, das letztlich von der Fatah unterstützt wird, woran sich Ägypten beteiligt, das zu Erleichterung in Jordanien führt und das Syrien letztlich gleichgültig ist.
Israel sieht angesichts dieser Interessenlage in der Region keinen Vorteil darin, den Druck auf die Hamas zu reduzieren.

Damit würde man, meint Friedman sarkastisch, zwar den Schweden eine Freude machen, aber Ägypten und die Fatah verprellen. Da Israel an Schweden weniger Interesse hat als an der Fatah und Ägypten, betreibt es die jetzige Politik gegenüber Gaza.

Und die Reaktion der USA? Israel hängt heute, schreibt Friedman, viel weniger von den USA ab als in den Jahren nach dem Sechstagekrieg von 1967. Seine eigene Wirtschaftskraft hat sich inzwischen so verbessert, daß die Hilfe aus den USA an Bedeutung verloren hat. Jedenfalls vorübergehend könnte Israel einen Bruch mit den USA in Kauf nehmen.



Für die unmittelbare Zukunft beurteilt Friedman die Sicherheitslage Israels also positiv. Wo liegen langfristige Gefahren? Friedman sieht sie darin, daß die arabischen Staaten doch wieder zu einem Bündnis gegen Israel zusammenfinden könnten, und zwar in Zusammenarbeit mit der Türkei.

Ägypten käme dabei eine Schlüsselrolle zu. Es sei, meint Friedman, das "Gravitationszentrum der arabischen Welt".

Mubarak hält Frieden mit Israel, und Ägypten hat unter ihm abgerüstet. Sein Nachfolger aber könnte, unter dem Druck der öffentlichen Meinung in seinem Land, wieder eine israelfeindliche Politik betreiben. In einem solchen Fall sieht Friedman die Türkei ins Spiel kommen:
A hostile Turkey aligned with Egypt could speed Egyptian military recovery and create a significant threat to Israel. Turkish sponsorship of Syrian military expansion would increase the pressure further. Imagine a world in which the Egyptians, Syrians and Turks formed a coalition that revived the Arab threat to Israel and the United States returned to its position of the 1950s when it did not materially support Israel, and it becomes clear that Turkey’s emerging power combined with a political shift in the Arab world could represent a profound danger to Israel.

Eine [gegenüber Israel] feindselige Türkei könnte als Verbündeter Ägyptens dessen Wiederaufrüstung beschleunigen und eine erhebliche Bedrohung Israels schaffen. Eine türkische Unterstützung der militärischen Expansion Syriens würde den Druck weiter erhöhen. Man stelle sich eine Welt vor, in der die Ägypter, die Syrer und die Türken eine Koalition eingehen, welche die alte Bedrohung Israels wiederherstellt, und in der die USA zu ihrer Position der fünfziger Jahre zurückkehren, als es Israel nicht materiell unterstützte. Dann wird deutlich, wie die im Entstehen begriffene Macht Türkei zusammen mit einem Politikwechsel in der arabischen Welt eine schwerwiegende Gefahr für Israel darstellen würde.
Wenn auch Israel auf die öffentliche Meinung kurzfristig gelassen reagieren kann - langfristig könnte sie eben doch zu einer solchen Entwicklung führen oder sie jedenfalls begünstigen.



Zwei Anmerkungen zu Friedmans Analyse:

Zum einen geht er auf die iranische Atomrüstung nur am Rande ein. In der Tat bedroht diese ja nicht als solche direkt Israel. Teheran wird keine Raketen auf Israel abschießen und sich damit einem vernichtenden atomaren Gegenschlag aussetzen. Die Gefahr liegt vielmehr darin, daß eine iranische Atomrüstung die israelische atomare Abschreckung gegenüber einem konventionellen Angriff durch die arabischen Staaten neutralisieren würde.

Aus meiner Sicht ist also die iranische Atomrüstung so etwas wie ein verstärkender Faktor für das, was Friedman analysiert: Solange es nicht die Gefahr eines Angriffs der arabischen Staaten gibt, bedroht sie Israel nicht unmittelbar. Sollte es aber zu der von Friedman für möglich gehaltenen Entwicklung kommen, dann würde ein konventioneller Angriff einer arabischen Allianz unter einem iranischen atomaren Schutzschirm erfolgen können.

Die zweite Anmerkung betrifft die Türkei. Es wird immer offensichtlicher, daß sie sich inzwischen nicht mehr als eine Nation am Rand Europas sieht, sondern als eine aufstrebende Macht im Nahen Osten (siehe "Es ist unvermeidlich, daß die Macht der Türkei wächst"; ZR vom 3. 2. 2009; Über die neue Außenpolitik des Tayyep Recip Erdogan; ZR vom 14. 1. 2010, sowie Ahmadinedschad, das Weltkind in der Mitten; ZR vom 21. 5. 2010).

Das wird viele Probleme mit sich bringen; zumal für Israel, wie hier erläutert. Aber es hat auch einen positiven Aspekt: Auch der letzte verantwortliche Politiker in Europa dürfte jetzt erkennen, daß dieses Land in der EU nichts zu suchen hat.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Propagandafoto des Free Gaza Movement (freegazaorg). Unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic License freigegeben. Bearbeitet.