13. Juni 2010

Zitat des Tages: "59 Prozent wissen, wo die Sonne aufgeht. Das ist doch gar nicht schlecht". Über das Naturwissen der Jugend und den Aufklärer Miersch

Die Ergebnisse sind doch aber gar nicht so schlecht. 59 Prozent wissen wo die Sonne aufgeht und 64 Prozent wie viele Zitzen ein Kuheuter hat. Das kann man doch auch positiv sehen.

Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze, zitiert von Michael Miersch in "Welt-Online", über eine Erhebung, in der 3000 Schüler im Alter zwischen elf und fünfzehn Jahren nach ihren Kenntnissen über die Natur befragt worden waren.


Kommentar: Schulze meint das augenscheinlich ernst. Er hält es nicht für schlimm, wenn vierzig Prozent der Befragten nicht wußten, wo die Sonne aufgeht. Offenbar findet Schulze - er wird die Untersuchung ja gesehen haben, bevor er sich dazu äußerte - auch die weiteren Ergebnisse nicht weiter besorgniserregend. Einige Schmankerl:
  • Wieviele Wochen liegen zwischen zwei Vollmondnächten? "Eine" oder "zwei" war die Schätzung von 13 Prozent. Hingegen vermuteten 20 Prozent der Schüler eine Zahl zwischen fünf und zehn. Die richtige Antwort kannten 40 Prozent.

  • Wie heißt das Junge vom Hirsch? Die größte Gruppe derer, die eine Antwort gaben, vermutete, daß das Reh das Junge vom Hirsch ist (30 Prozent der gesamten Stichprobe: Reh, Rehkitz oder Rehkid). Ein weiteres knappes Drittel (32 Prozent) gab zu, es nicht zu wissen. Sechs Prozent kannten die richtige Antwort "Kalb". Es gab auch Antworten wie Ricke, Frischling, Hirschling und Kid.

  • Wieviele Eier legt ein Huhn am Tag? Die Antworten reichten von eins bis mehr als sechs; das (arithmetische) Mittel aller Antworten lag bei 3,1. Die richtige Antwort wußten 32 Prozent.

  • Welche Art von Kühen gibt nur H-Milch? Daß keine Kuh H-Milch gibt, wußten ganze 20 Prozent. Vermutet wurde ansonsten so ziemlich alles. Zu den schönsten Antworten gehört: Milchkühe, weibliche Kühe, Biokühe, Kühe aus Massentierhaltung, Alm-Kühe, Holsteiner Kühe.

  • Daß die Hagebutte die Frucht der Rose ist, wußten zehn Prozent. Zusammen 13 Prozent vermuteten, daß Blatt, Knospe oder Blüte die Frucht ist.

  • Daß Sauerkraut aus (Weiß)Kohl hergestellt wird, wußten 44 Prozent. Manche vermuteten Sauerampfer, Gras oder Meerwasser.
  • Nicht wahr, da bleibt einem schon ein wenig das Lachen im Hals stecken? Der Soziologe Gerhard Schulze aber kann das "doch auch positiv" sehen. Er möchte gern erst einmal, wie es die Art von Soziologen ist, alles gründlich hinterfragen: "Was ist denn das richtige Maß an Naturwissen und warum?" gibt er, laut Michael Miersch, zu bedenken.

    Ja, da kann man natürlich ins Grübeln kommen. Elf- bis Fünfzehnjähriege wurden befragt, also Schüler der Mittelstufe. Die Untersuchung zeigt, welches offenbar nach den Maßstäben der deutschen Schulen - befragt wurden Schüler aller Schularten - das "richtige Maß" dessen ist, was Schüler auf dem Gebiet der Naturkunde beigebracht wird. Es ist weit unterhalb des Niveaus der einstigen Volksschule.



    Nun ist es keineswegs so, daß die befragten Schüler sich nicht für die Natur interessierten. Ganz im Gegenteil.

    In dem Fragebogen wurde nicht nur nach Wissen gefragt, sondern auch nach Interessen. Auf die Frage "Wo verbringst du deine Freizeit am liebsten?" antwortete fast die Hälfte (47 Prozent) "Draußen im Grünen", dann erst folgten die Stadt und das eigene Zimmer. 74 Prozent würden gern im Wald Mountainbike fahren, 56 Prozent gern quer durch den Wald gehen, 49 Prozent gern Rehe (wir erinnern uns: die Kinder vom Hirsch) in freier Wildbahn beobachten.

    Erst recht sind diese Schüler, die ein derart erbärmliches Wissen von der Natur haben, geradezu rührend um Naturschutz besorgt. 70 Prozent halten es für "eher schädlich", daß im Wald Bäume gefällt werden. 67 Prozent halten es für "eher schädlich", Rehe und Wildschweine zu jagen ("eher nützlich" 13 und 16 Prozent).

    Was diese Schüler in der Schule, aus den Medien oder vielleicht ja auch von ihren Eltern gelernt haben, das ist also, auch ohne Wissen über die Natur eine emotionale Einstellung zu ihr zu haben: "Bewahren" muß man sie, diese Natur, von der man nichts weiß. Und zwar - eben weil man nichts weiß - mit so absurden Mitteln wie die Bejagung von Rehen und Schwarzwild einzustellen und im Wald keine Bäume zu schlagen.



    Nicht wahr, jemandem, der für Aufklärung und Vernunft eintritt, sollten sich da eigentlich die Haare sträuben? Aber seltsam - ausgerechnet der Aufklärer Michael Miersch geht kritisch mit dieser Untersuchung ins Gericht, und nicht nur der Soziologe Schulze, sondern auch noch der Aufklärer Matthias Horx leistet ihm dabei Schützenhilfe.

    Horx kritisiert einige Fragen ("Wie viel Prozent der Rohstoffe, aus denen ein Handy gemacht ist, kommen aus der Natur?" oder Fragen nach Nachhaltigkeit), weil diese Voraussetzungen machten, "über die sich nicht einmal Philosophen einig" seien und wo auch "Wirtschaftsführer und Politiker" passen müßten. Das mag ja sein - aber was ändert das an dem dürftigen Grundwissen, das die Schüler zeigten?

    Es gab am vergangenen Freitag in "Welt-Online" gleich zwei Artikel zu dieser Untersuchung. Um 15.13 Uhr stellte man einen Artikel von Sebastian Geisler ins Netz, der über die Studie im Einzelnen berichtet, und zwar mit positivem Tenor. Um 18.09 folgte der Artikel von Michael Miersch, in dem sich Schulze und Horx äußern. Die beiden Artikel lesen sich wie Alarm und Entwarnung, wie Behauptung und Dementi.

    Wie kommen Miersch, Schulze und Horx dazu, abzuwiegeln, wenn es um das desaströse naturkundliche Grundwissen von Schülern geht? Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es nicht an den Ergebnissen der Untersuchung, sondern an deren Leiter und den Auftraggebern.

    Unterstützt wurde diese Untersuchung mit dem Titel "Jugendreport Natur 2010" von der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald, dem Deutschen Jagdschutz-Verband und information medien agrar, der Medienorganisation der deutschen Landwirtschaft.

    Der Leiter der Untersuchung ist Dr. Rainer Bäumer, ein Wissenschaftler mit einer etwas eigenartigen Karriere:

    Er ist promovierter Physiker mit dem ursprünglichen Forschungsschwerpunkt Festkörperphysik. Dann interessierte er sich für die Soziologie der Naturwissenschaften, auch im schulischen Unterricht. Und von dort führte ihn seine Wanderung zum Wandern.

    Seit 1991, so berichtet die Wikipedia, untersucht er das Wandern aus wissenschaftlicher Sicht; in diesem Zusammenhang nun wiederum die Frage, wie Schüler zum Wandern stehen, zum Wald, zur Natur überhaupt. Inzwischen gilt er als der deutsche "Wanderpapst".

    Wenn Forschung in einem solchen Kontext des Engagements für eine Sache stattfindet, dann sollte man sie sich sorgfältig auf methodische Sauberkeit hin ansehen; insofern kann ich die Skepsis von Miersch und Horx nachvollziehen. Mit welcher Art von Fragen Bäumer arbeitet, kann man beispielsweise hier in Augenschein nehmen. Ich kann nicht erkennen, daß an dieser Methodik etwas zu beanstanden wäre.

    Horx mag ja Recht haben, daß Begriffe wie "Natur" und "Nachhaltigkeit" unterschiedlich definiert werden können. Aber nicht bei den diesbezüglichen Fragen liegt das erschreckende Ergebnis der Untersuchung. Wieviele Zitzen das Euter einer Kuh hat, ob das Reh das Junge vom Hirsch ist und woraus Sauerkraut gemacht wird, das sind keine Fragen der Definition.



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