7. Juni 2010

Zitat des Tages: Gauck und die christlichen, bürgerlichen, liberalen Parteien. Nebst Leseempfehlungen und einer Erinnerung an Zieten aus dem Busch

Gauck ist zugleich ein Intellektueller, der ein originäres, begeisterndes Verständnis von christlicher Politik, von Liberalismus und Bürgerlichkeit entwickelt hat. Die drei Parteien, die in diesen Traditionen zu stehen vorgeben, werden ihn aber nicht zum Bundespräsidenten wählen. Das ist intellektuell nicht zu begründen, also denken sie am besten nicht drüber nach. Jedes Innehalten scheint derzeit die Gefahr des Absturzes zu bergen.

Nils Minkmar heute in der FAZ.



Kommentar: Über den Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" und Autor der FAZ Nils Minkmar war in diesem Blog schon zweimal etwas zu lesen; einmal Zustimmendes (Warum ist Kurt Beck eigentlich SPD-Vorsitzender?; ZR vom 29. 6. 2008), und einmal ein kräftiger Verriß eines Artikels von ihm über den Kandidaten Barack Obama ("Den Obama-Fans in Europa steht eine große Überraschung bevor"; ZR vom 27. 10. 2008).

Den jetzigen Artikel Minkmars über Joachim Gauck und über die Berliner Reaktionen auf den Rücktritt von Bundespräsident Köhler möchte ich Ihnen ausdrücklich empfehlen. Sie erfahren darin viel über die Person Gauck; auch über dessen autobiographisches Buch "Winter im Sommer – Frühling im Herbst". Und mit dem obigen Zitat bringt Minkmar das Absurde der Situation, die jetzt entstanden ist, auf den Begriff.

Der Rücktritt Köhlers hätte zum Nachdenken führen müssen; die Kandidatur Gaucks hätte es erst recht müssen. Stattdessen hat die Kanzlerin sich in der Art des Zieten aus dem Busch benommen: Am Montag hatte Köhler seinen Rücktritt mitgeteilt; bereits am Dienstag setzte Angela Merkel die Abläufe in Gang, die zur Kandidatur Wulffs führen sollten. Augen zu und durch, das war offenbar die Devise.

Husarenritte müssen manchmal sein; aber dieser Husarenstreich der Kanzlerin war keine gelungene Aktion. Und wenn sogar in der FAZ diese kritische Sicht geteilt wird, dann sollte man im Kanzleramt nachdenklich werden.



Oder sollten wir es vielleicht eher so sehen, daß auch die Kanzlerin Gefangene dieses erbarmungslosen Politbetriebs in Berlin ist, dieses journalistisch-politischen Komplexes, vor dem der ausgezeichnete und im besten Sinn redliche Bundespräsident Köhler kapituliert hat? Ist es vielleicht so, daß die Kanzlerin Husarenritte für erforderlich hält, um in diesem Biotop aus Gerüchten, Intrigen und Enthüllungen überhaupt noch handlungsfähig zu sein?

Auch der Nominierung Gaucks durch ausgerechnet Jürgen Trittin und Sigmar Gabriel wird man Intrigantes nicht absprechen wollen. Seinen politischen Vorstellungen stehen sie fern. Aber dazu, Verwirrung in die Reihen des Gegners zu tragen, schien er ihnen tauglich. Eine Kriegslist, wenn man so will, auf welche die Kanzlerin mit ihrem Husarenritt reagiert hat.

Man hätte freilich, statt des Merkel'schen Parforceritts, auch List mit List beantworten und das Angebot der Rotgrünen annehmen können, Gauck zu wählen. Die Listigen, Trittin und Gabriel, hätten dann etwas belämmert dagestanden, denn ein Vorzeichen für eine Volksfront-Koalition 2013 wäre eine solche Wahl nicht eben gewesen.



Zu den Gründen für Köhlers Rücktritt finden Sie heute im gedruckten "Spiegel" einen sehr guten Artikel von Stefan Berg und Jan Fleischhauer ("Spiegel" 23/2010 vom 7. 6. 2010; S. 26-27). Darin steht:
Das politische Berlin mit seinen Intrigen, Durchstechereien und Verdrehungen hat Köhler immer verachtet, seine Frau Eva Luise hat es gehasst. Die beiden sprachen zuletzt fast mit Ekel über das Hauptstadtgeschäft, in dem eine unglückliche Formulierung zum Fallstrick werden kann.
Fürwahr. Wobei Stefan Bergs und Jan Fleischhauers Kollegen vom "Spiegel" freilich kräftig beim Anlegen der Fallstricke mitgeholfen haben.

Ist in einem solchen Milieu eine ernsthafte, eine sachbezogene Debatte möglich, wie Minkmar sie fordert; wie auch ich sie gestern gefordert habe (Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010)? Oder bleibt am Ende vielleicht doch, will man erfolgreich sein, nur die Methode des Husaren Zieten?



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