28. Juni 2010

Marginalie: Die Unbeliebtheit der Parteien und die Freiheit der Wahlleute in der Bundesversammlung. Wulffs geschickte Rhetorik

Der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten Christian Wulff hat der "Rheinischen Post" ein Interview gegeben.

An einer Stelle sagte der Interviewer Michael Bröcker: "Die Parteien scheinen im Volk derzeit sehr unbeliebt zu sein". Darauf Wulff:
Parteien und Politiker sind besser als ihr Ruf und für ein erhebliches Maß an dem Erfolg unseres Landes verantwortlich. Die Antiparteienstimmung mancher Anhänger Joachim Gaucks ist gefährlich, denn wir brauchen Hunderttausende, die sich ehrenamtlich und freiwillig vor allem auf kommunaler Ebene für ihre Gemeinde engagieren und sich dafür Zeit nehmen.
Eine geschickte Antwort, wenn man es freundlich ausdrücken möchte. Ein rhetorischer Trick, weniger freundlich formuliert.

Denn natürlich will niemand die Arbeit der Parteien auf der kommunalen Ebene anrühren. Es ist abwegig, die Vorbehalte gegen die Parteien, die es in der Tat offenbar verstärkt gibt, mit der Arbeit des Gemeinderats von Winsen an der Luhe oder des Frankfurter Stadtrats in Zusammenhang zu bringen. Wulff lenkt vom Thema ab; er weicht der Frage aus.

Die aktuelle Kritik - die Wut zum Teil -, die derzeit den Parteien entgegenschlägt, zielt selbstredend auf eine andere als die kommunale Ebene; nämlich auf die Art, wie im Bund die Entscheidungen, die das Grundgesetz bestimmten Gremien zuweist, von den Parteien okkupiert werden. Die Art also, wie zum Beispiel der Kandidat Christian Wulff via einsamem Entschluß der Kanzlerin und Vorsitzenden der CDU in die Bütt gestellt wurde; siehe Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010).



Es ist in diesen Tagen, wo die Entscheidung zwischen Wulff und Gauck näher rückt, eine seltsame Diskussion zum Thema "Freigabe der Abstimmung" entstanden. Der Professor Biedenkopf hatte das mit einem Artikel in der FAZ angeregt; siehe Dagmar Schipanski und Kurt Biedenkopf zur Wahl des Bundespräsidenten; ZR vom 19. 6. 2010. Inzwischen haben sich die beiden Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Roman Herzog Biedenkopf angeschlossen.

Dieser Forderung wird nun entgegengehalten, die Abstimmung sei doch geheim, ergo ohnehin frei. "Die Wahl in der Bundesversammlung ist eine geheime Wahl. Und freier als eine geheime Wahl geht es nicht", sagte zum Beispiel Alexander Dobrindt, Generalsekretär der CSU.

Ja hält er denn die Professoren Biedenkopf und Herzog, beide übrigens Juristen, für Deppen, der Alexander Dobrindt? Glaubt er denn, dem Altbundespräsidenten von Weizsäcker sei nicht bekannt, daß die Wahl in der Bundesversammlung geheim stattfindet?

Es geht doch nicht um Formales. Es geht darum, ob von den Führungen der Parteien der Eindruck erweckt wird, es würden keine sich frei zwischen den Kandidaten entscheidenden Wahlleute in die Bundesversammlung geschickt, sondern Parteisoldaten mit einem Auftrag.

Dieser Eindruck entsteht, wenn zum Beispiel die CSU keine nicht parteigebundenen Persönlichkeiten in die Bundesversammlung entsendet; entgegen der bisherigen Gepflogenheit. Dieser Eindruck wird massiv herbeigeführt, wenn die thüringische CDU Dagmar Schipanski von der Liste der Wahlleute streicht, weil Zweifel daran aufgetaucht waren, ob sie auch Wulff wählen würde.

Dieser Eindruck ist es, der den Interviewer Bröcker zu der Aussage veranlaßte, die Parteien schienen derzeit im Volk unbeliebt zu sein.

Diesem Eindruck könnten die Führungen der Parteien entgegenwirken, wenn sie gemeinsam vor der Wahl am kommenden Mittwoch eine Erklärung abgeben würden, die beispielsweise so lauten könnte:
Wir - die im Bundestag vertretenen demokatischen Parteien - haben zwei Kandidaten nominiert. Es ist jetzt an jedem einzelnen der 1244 Mitglieder der Bundesversammlung, frei und unbeeinflußt, allein nach eigenem besten Wissen und Gewissen, zwischen diesen beiden Kandidaten zu entscheiden. Die Nominierung der beiden Kandidaten ist nicht mit der Erwartung verbunden, daß sich die Wahlmänner und Wahlfrauen an diese Entscheidungen ihrer jeweiligen Parteiführung gebunden fühlen.
Natürlich wird es eine solche Erklärung nicht geben. Natürlich wird man sich einerseits auf die Formalie zurückziehen, die Wahl sei doch geheim, also frei; und andererseits werden beide Seiten wie bisher alles dafür tun, damit ihre Wahlleute genau das sein werden: "Ihre" Wahlleute. Verantwortlich nicht ihrem eigenen gewissenhaften Urteil, sondern der Parteiräson.

Und da wundert man sich darüber, daß die Parteien "derzeit im Volk sehr unbeliebt" sind?



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