19. Juni 2010

Zitat des Tages: "Mit der Würde der Demokratie nicht vereinbar". Dagmar Schipanski und Kurt Biedenkopf zur Wahl des Bundespräsidenten

Ich bin tief betroffen über ein solches Vorgehen, wenn man sich auf sein Gewissen beruft, verspielt man offenbar das Vertrauen. So wenig Vertrauen zu den eigenen Leuten - das ist kein gutes Zeichen. Das habe ich auch allen Fraktionsmitgliedern in einem Brief mitgeteilt. Ich empfinde diese Handlung als unverständlich, nicht gerechtfertigt und mit der Würde der Demokratie nicht vereinbar.

Dagmar Schipanski in einem Interview mit sueddeutsche.de. Die Physikprofessorin Schipanski war 1999 die Kandidatin der Union für das Amt des Bundespräsidenten, damals noch als Parteilose. Sie trat im Jahr 2000 in die CDU ein, war zunächst Mitglied von deren Präsidium und gehört seit 2006 ihrem Bundesvorstand an. Unter Ministerpräsident Vogel war sie in Thüringen Wissenschaftsministerin; Mitglied des Landtags war sie bis zu den Wahlen 2009.


Kommentar: Die Äußerung von Frau Schipanski bezieht sich auf einen Vorgang, den sie in dem Interview so schildert:

Sie war von der Thüringer CDU für die Wahl des Bundespräsidentin als Wahlfrau aufgestellt worden. (Die Landtage wählen die auf das jeweilige Bundesland entfallenden Mitglieder der Bundesversammlung; diese müssen jedoch nicht dem Landtag angehören; siehe Wahl des Bundespräsidenten: Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010).

Schipanski stand also zunächst auf der Liste der CDU in Thüringen. Dann gab sie der "Thüringer Allgemeinen" ein Interview, in dem sie sagte, daß sie sowohl Wulff als auch Gauck für einen geeigneten Kandidaten halte. Darauf wurde - so Schipanski - ihr Name von der Liste gestrichen und durch den eines CDU-Landrats ersetzt.

In einer nichtöffentlichen Sitzung sagte ihr dazu der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Erfurt, Mike Mohring, "man könne aus den Interviews nicht ablesen, für wen ich mich entscheide. Er habe zwei Wochen versucht, mich zu erreichen, was ihm nicht gelungen sei, und deshalb erscheine ich nicht auf der Liste". Schipanski sagte dazu, sie sei in der fraglichen Zeit stets zu Hause erreichbar gewesen.

Im Anschluß an das Interview steht in sueddeutsche.de eine Stellungnahme der thüringer Landtagsfraktion der CDU, die einigermaßen kryptisch die Darstellung Schipanskis bestreitet.



Vorgänge, wie ihn Dagmar Schipanski beschreibt, spielen sich offenbar in den Landtagen auch andernorts ab. Union und FDP wollen, wie "Spiegel-Online" schon am 7. Juni berichtete, "fast ausschließlich Parteisoldaten" in die Bundesversammlung entsenden.

Es soll durchgestimmt werden. Auf Biegen und Brechen soll Christian Wulff, selbst der perfekte Parteisoldat, zum Bundespräsidenten gemacht werden, ein Geschöpf der Kanzlerin.

Gut möglich, daß es gelingt. Die erhoffte Entlastung der Koalition in ihrem gegenwärtigen beklemmenden Zustand (siehe Merkels Stärke, Merkes Schwäche; ZR vom 16. 6. 2010) wird das nicht bringen.

Eher im Gegenteil. Der große alte Mann der CDU, Kurt Biedenkopf - auch er wäre, in jüngeren Jahren, ein herausragender Bundespräsident gewesen - hat vorgestern in der FAZ unter der Überschrift "Gebt die Wahl frei!" einen bemerkenswerten Artikel zur Wahl des Bundespräsidenten publiziert. Darin heißt es:
Die Bundesversammlung als Vertretung des Volkes wählt den Bundespräsidenten aus der Reihe der vorgeschlagenen Kandidaten. Auf die Mitwirkung der politischen Parteien ist sie dabei nicht angewiesen. Wäre es anders, käme dies in unserer heutigen Verfassungswirklichkeit einer Wahl des Bundespräsidenten durch die politischen Parteien gleich. Mit der Idee unserer Verfassung wäre das nicht vereinbar.
Die Wahl des Bundespräsidenten dürfe nicht mit der Entscheidung über den Fortbestand der momentanen Regierung belastet werden, schreibt Biedenkopf, und weiter:
Dass die Bundesversammlung dennoch mit dieser Frage belastet wird, wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf den schwindenden Respekt vor den grundlegenden Prinzipien unserer Verfassung und ihrer Institutionen. Es lässt auch das Ausmaß der Relativierungen erkennen, denen der Inhalt und die Bindungswirkung der Verfassungseinrichtungen ausgesetzt sind. Zwischen diesem Prozess, dessen Beginn über viele Jahre zurückverfolgt werden kann, und der wachsenden Distanz der Bevölkerung bestehen durchaus Zusammenhänge.
Wenn die Kanzlerin, wenn die Parteien der Regierungskoalition am 30. Juni die Wahl von Christian Wulff durchpeitschen, dann wird das ein Pyrrhussieg sein.

Kurzfristig wird man noch einmal davon gekommen sein. Aber glaubt denn die Kanzlerin, glaubt denn ihr Vizekanzler, daß diese Art, wie dann der Parteisoldat Wulff auftragsgemäß zum Bundespräsidenten befördert worden sein wird, das Vertrauen in diese Regierung stärken wird?

Es wird es selbstredend weiter erodieren lassen. Eine Regierung, die als zerstritten wahrgenommen wird und die ausgerechnet dann, wenn es einen Posten zu besetzen gilt, einmal Einigkeit demonstriert - das würde doch die schlimmsten Klischees bestätigen. Wenn es um unsere Zukunft geht, können sie sich nicht einigen, würde man zu Recht sagen; aber wenn es ein Amt zu vergeben gilt, dann geht das auf einmal.

Nichts wäre gewonnen, nichts wäre zugunsten der Regierung gedreht, sollte Merkel ihren Wulff ins Schloß Bellevue bugsieren.

Der Kanzlerin, bisher als nüchtern, zuverlässig und effizient geschätzt, droht durch diesen ganzen, zunehmend beschämenden Vorgang das Image einer rücksichtslosen Strippenzieherin.

Guido Westerwelle, der an der Entscheidung für Wulff offenbar so intensiv beteiligt war wie der Kellner an der Zubereitung der Menüs in der Restaurantküche, würde zügig in die Rolle von Merkels Hündchen hineinwachsen.

Die Regierung sollte sich einen Ruck geben. Im Augenblick ist sie in einer Lose-Lose-Situation. Verbeißt sie sich in die Kandidatur von Wulff und verliert, dann steht sie schlecht da. Gewinnt sie auf die beschriebene Weise, dann steht sie kaum besser da.

Kurt Biedenkopf, der ja kein abgehobener Professor ist, sondern der einmal Wirtschaftsmanager war, jahrelang Generalsekretär der CDU und zuletzt Ministerpräsident Sachsens, hat die Lage erkannt. Seine Empfehlung:
Es liegt deshalb im eigenen Interesse beider Kandidaten: die Verbindung der Wahlentscheidung mit dem Schicksal der Regierungskoalition abzulehnen und als Bedingung ihrer Kandidatur die "Freigabe" der Wahlentscheidung durch die Mitglieder der Bundesversammlung zu verlangen.

Auch Regierungskoalition und Opposition sollten sich darauf verständigen, die entstandene Vermengung des Auftrages der Bundesversammlung mit ihren jeweiligen politischen Zielen aufzulösen. (...) Damit würden sie nicht nur der Verfassung und ihrem Auftrag an die Bundesversammlung gerecht werden. Sie gäben den Mitgliedern der Bundesversammlung auch die Möglichkeit, als freie Bürger mit dem Ergebnis ihrer Wahl vor der Öffentlichkeit zu bestehen.
Und damit hätte die Regierung die Möglichkeit, aus ihrem Dilemma zwischen Niederlage und Pyrrhussieg herauszukommen. Würde Wulff trotz einer solchen Freigabe gewählt, dann hätte er zusätzliche Legitimation. Würde - was nicht unwahrscheinlich ist - dann Gauck gewählt werden, dann wäre das keine Niederlage für die Koalition.

Es wäre Ausdruck der Einsicht, daß über Sieg und Niederlage einer Regierung allein im Bundestag entschieden wird, und nicht in einem Verfassungsorgan, das dafür von den Vätern des Grundgesetzes ausdrücklich nicht vorgesehen wurde.



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