6. Juni 2010

Wahl des Bundespräsidenten: Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin. Liberale für Gauck!

Wenn am 30. Juni Christian Wulff zum Nachfolger Horst Köhlers gewählt werden sollte, dann hat er das allein einer einsamen Entscheidung von Angela Merkel zu verdanken. Wie die Abläufe in der vergangenen Woche waren, das haben in "Welt-Online" Robin Alexander und Ulrich Exner rekonstruiert:

Am Montag Mittag erfährt die Kanzlerin vom Rücktritt Horst Köhlers. Am Dienstag tritt die "Krönungsrunde" aus Merkel, Seehofer und Westerwelle zusammen. Man verabredet, daß die CDU einen gemeinsamen Kandidaten der Koalition vorschlagen soll.

Da hatte sich die Kanzlerin offenbar bereits für Wulff entschieden; jedenfalls soll sie schon im Gehen zu Horst Seehofer gesagt haben, sie werde zuerst mit Wulff sprechen.

Das tat sie - immer nach dem Bericht von "Welt-Online" - bereits wenige Stunden später in einem Telefonat am Dienstag zwischen 15 und 16 Uhr, bei dem sie Wulff zum Abendessen am selben Tag nach Berlin einlud. Dort erhielt er das Angebot, erbat sich eine Nacht Bedenkzeit und sagte am Mittwoch Mittag zu.

Zu diesem Zeitpunkt schien für die Medien noch alles auf Ursula von der Leyen hinauszulaufen. Auch diese selbst wurde, wie heute die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" schreibt, weiter im Unklaren gelassen und von der Kanzlerin erst am Donnerstag Nachmittag über die Entscheidung für Wulff informiert, zeitgleich mit den Medien.

Die Kanzlerin hatte sich wieder einmal - und zwar mühelos, wie es scheint - durchgesetzt. Diesmal als Königsmacherin.



Das Grundgesetz aber sieht für die Wahl des Bundespräsidenten keine Königsmacherin vor, und auch keinen Königsmacher.

Es sieht vor, daß der Bundespräsident von dem größten parlamentarischen Gremium in Deutschland bestimmt wird, der Bundesversammlung mit diesmal 1244 Wahlleuten, nämlich den 622 Abgeordneten des Bundestags und einer gleichen Zahl von Wahlleuten, die von den Landesparlamenten gewählt werden.

Es sind Wahlleute und keine Abgeordneten, denn sie werden zwar von den Landtagen gewählt, aber nicht notwendig aus deren Mitte. Jeder Bürger - er braucht nicht einmal einer Partei anzugehören - kann von einem Landtag in die Bundesversammlung gewählt werden, unter denselben Voraussetzungen, die auch für die Wahl in den Bundestag gelten.

So bestimmt es der Artikel 54 des Grundgesetzes; die Einzelheiten sind in dem Gesetz über die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung vom 25. April 1959 festgelegt.

Die Bundesversammlung weist also drei ungewöhnliche Merkmale auf: Ihre Größe; sodann ihre Zusammensetzung aus zwei Gruppen, die von verschiedenen Gremien entsandt werden; drittens den Umstand, daß ihr auch Nichtpolitiker angehören können.

Warum hat man das so kompliziert und so ungewöhnlich angelegt? Warum haben die Väter des Grundgesetzes sich nicht einfach dafür entschieden, daß der Bundestag den Präsidenten wählt; ebenso, wie er den Kanzler wählt?



Um zu verstehen, wie die Abgeordneten des Parlamentarischen Rats zu dieser Konstruktion kamen, muß man sich klarmachen, wie das Grundgesetz entstand: Einerseits auf dem Boden der ersten demokratischen deutschen Verfassung, derjenigen der Weimarer Republik; gestaltet von Parlamentariern, die überwiegend schon in dieser politisch tätig gewesen waren. Andererseits aber wollte man deren Fehler vermeiden, welche die Schwäche dieses Verfassungssystems mit begründet und damit schließlich die Diktatur der Nazis möglich gemacht hatten.

Es war, wie es Friedrich Karl Fromme 1960 formulierte, eine "modifizierte Neubelebung der Weimarer Verfassung".

Diese nun hatte bekanntlich die Direktwahl des Präsidenten durch das Volk beinhaltet. Das war ein Stück unmittelbare Demokratie gewesen, in bewußter Absetzung von der vorausgegangenen Monarchie. Auch heute werden noch in vielen Staaten die Präsidenten unmittelbar vom Volk gewählt; nicht nur in Präsidaldemokratien wie den USA und Frankreich, sondern auch in parlamentarischen Systemen wie zum Beispiel bei unseren Nachbarn Österreich und Polen.

Der Weimarer Republik hatte aber diese Direktwahl nichts Gutes gebracht; das deutsche Volk hatte zuletzt den Generalfeldmarschall a.D. Paul Hindenburg gewählt, von dem der Weg zu Hitler führte. Die Direktwahl gab dem Amt ein politisches Gewicht, das sich als verhängnisvoll erwiesen hatte.

Deshalb erdachte man die Bundesversammlung als ein Gremium, welches das deutsche Volk so umfassend wie möglich repräsentieren sollte. Also nicht nur mit den gewählten Abgeordneten des Bundestags; vielmehr sollten auch alle Länder repräsentiert sein. Diese aber nicht unbedingt durch Abgeordnete, sondern auch durch gewöhnliche Bürger. Ein Querschnitt des deutschen Volks, gewissermaßen.



Kehren wir zum jetzigen Verfahren zurück. Der einsamen Entscheidung der Kanzlerin für Christian Wulff ist keine öffentliche Debatte vorausgegangen, keine Diskussionen in den Parteien und ihren Gremien. Dasselbe gilt für die Entscheidung der SPD und der Grünen für den Kandidaten Gauck, über deren Ablauf bisher nur weniger bekannt geworden ist.

Diese Entscheidungen sind gefallen, bevor auch nur die Bundesversammlung gewählt worden ist. Von ihr wird allgemein erwartet, daß sie sich zwischen diesen beiden Kandidaten entscheidet, die auf sie herabgefallen sein werden wie Fallschirmspringer vom Himmel. Ohne eigenes Zutun dieses Gremiums.

Ja, aber bestand denn nicht dringlicher Entscheidungsbedarf, da die Bestimmungen des Grundgesetzes eine Neuwahl innerhalb von 30 Tagen nach dem Rücktritt von Bundespräsident Köhler verlangen?

Es bestand überhaupt kein dringlicher Entscheidungsbedarf. Denn für die Wahlvorschläge in der Bundesversammlung gibt es keine Nominierungsfrist.

Es wäre völlig ausreichend gewesen, wenn die Parteien ihre Kandidaten am Morgen des 30. Juni nominiert hätten, nach ausführlicher vorausgehender Meinungsbildung. Das Gesetz erlaubt es sogar, daß zwischen den Wahlgängen - wenn es zwei oder drei gibt - noch neue Kandidaten nominiert werden. Und immer nur aus der Bundesversammlung selbst heraus. So bestimmt das Gesetz im Paragraphen 9, Absatz 1:
Wahlvorschläge für die Wahl des Bundespräsidenten kann jedes Mitglied der Bundesversammlung beim Präsidenten des Bundestages schriftlich einreichen. Für den zweiten und dritten Wahlgang können neue Wahlvorschläge eingebracht werden. Die Wahlvorschläge dürfen nur die zur Bezeichnung des Vorgeschlagenen erforderlichen Angaben enthalten; die schriftliche Zustimmungserklärung des Vorgeschlagenen ist beizufügen.
Es wären also vier Wochen Zeit gewesen für eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit, in die auch die Gründe für den Rücktritt von Bundespräsident Köhler hätten einbezogen werden können; im Grunde hätten einbezogen werden müssen. Denn es ging Köhler ja um die Beschädigung dieses Amts durch die Art, wie über den Präsidenten hergezogen worden war.

Die Vertreter der Parteien hätten sich in Mitgliederversammlungen ein Bild von der Stimmung unter ihren Mitgliedern machen können. Die Bundesregierung hätte sich ein Bild von den Präferenzen in den sie tragenden Parteien machen können. Die Kanzlerin hätte sich ein Bild davon machen können, wie die Mitglieder ihres Kabinetts die Frage der Kandidatur sehen. Natürlich hätte sie ein gewichtiges Wort mitzureden gehabt.

Aber nichts von dem geschah. Daran, daß einmal ein Bundeskanzler so selbstherrlich, so ohne jede Einbeziehung Anderer innerhalb weniger Stunden bestimmt, wer der Kandidat der Mehrheitsfraktionen für das Amt des Bundespräsidenten sein würde - daran hat wohl keines der 50 Mitglieder des Parlamentarischen Rat im Traum gedacht, als man die Institution der Bundesversammlung beschloß. Eine Institution, die durch ihre Zusammensetzung mehr als jedes andere Verfassungsorgan den Volkssouverän repräsentieren sollte.



Es geht hier nicht nur um Formales. Es geht auch darum, daß durch solche auf den Kopf gestellten Entscheidungsprozesse die Kluft zwischen Regierenden und Regierten immer größer wird.

Bundespräsident Köhler war, wie alle Umfragen zeigen, bis zuletzt im Volk hochbeliebt.

Wie wenig andererseits Politiker auch selbst der Regierungsmehrheit hinter ihm standen, hat die vergangene Woche gezeigt; siehe Bundespräsident Köhler ist zurückgetreten; ZR vom 1. 6. 2010.

Ebenso hätte eine Debatte in der Öffentlichkeit leicht dazu führen können, daß auch die FDP, vielleicht sogar die Union sich hinter die Kandidatur von Joachim Gauck stellte. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß ein Präsident von allen großen Parteien gewählt wird; so war es bei Theodor Heuß 1954, so war es bei Richard von Weizsäcker 1984 und 1989.

Zumindest die FDP hätte sich, wenn sie schon nicht einen eigenen Kandidaten durchsetzen konnte, für Joachim Gauck entscheiden können; für einen Mann, den man, sofern man ihn einer politischen Richtung zuordnen möchte, einen Liberalen wird nennen dürfen.

Wenn Sie Zeit haben, hören Sie einmal diese Rede und diese Rede von Gauck an; beide gehalten auf Veranstaltungen der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Besser kann man liberale Grundsätze kaum formulieren.



Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend. Was eigentlich sollte Wahlleute der FDP in der Bundesversammlung veranlassen, nicht für diesen liberalen Kandidaten Joachim Gauck zu stimmen, sondern für den CDU-Mann Christian Wulff?

Fraktionsdisziplin? Es gibt in der Bundesversammlung keine Fraktionen. Wahlmänner und -frauen sind vollkommen frei in ihren Entscheidungen.

Die Furcht vor der Blamage, wenn der Kandidat der Koalition durchfällt? Das freilich wäre eine Blamage. Aber es wäre eine heilsame Blamage. Es wäre die Blamage eines FDP-Vorsitzenden, der sie verdient hätte und der in dieser vergangenen Wochen offenbar noch nicht einmal den Versuch gemacht hat, auf den Entscheidungsprozeß einzuwirken; siehe Es wird Zeit, daß in der FDP über Guido Westerwelle geredet wird; ZR vom 4. 6. 2010.

Oder fürchten FDP-Angehörige der Bundesversammlung, daß Stimmen für Gauck ihre Partei in den Umfragen weiter nach unten bringen würden?

Ich glaube das überhaupt nicht. Nur müßten die Wahlmänner und -frauen der FDP, die Joachim Gauck für den besseren, für den liberaleren Kandidaten halten, öffentlich sagen, daß sie ihn wählen werden.

Ein solches Bekenntnis, ein solcher Mut gegenüber einer von der Kanzlerin unter Billigung von Westerwelle oktroyierten Entscheidung könnte die FDP nur stärken.

In den USA ist es nichts Ungewöhnliches, daß Abgeordnete von der Entscheidung ihrer Parteispitze abweichen. In Deutschland sollte es - zumal in der Bundesversammlung, so wie sie von den Vätern des Grundgesetzes konstruiert wurde - auch möglich sein. Warum nicht eine Bewegung "Liberale für Gauck!"?



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: IMF; in der Public Domain. Mit Dank an Herr.