26. Juni 2010

Marginalie: Vor der 24. Woche hat der Fötus kein Schmerzempfinden. Implikationen für das Problem der Abtreibung

Durch einen Artikel im gestrigen Guardian bin ich auf den Bericht einer wissenschaftlichen Kommission in Großbritannien (einer Arbeitsgruppe des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists) aufmerksam geworden, in dem der Stand der Forschung zu der Frage des Schmerzempfindens und des Bewußtseins von Föten aufgearbeitet wird (Fetal Awareness - Review of Research and Recommendations for Practice).

Die wesentlichen Feststellungen, zu denen die Kommission nach Durchsicht der aktuellen Forschungsergebnisse gelangt, sind hier zusammengefaßt:
  • Unterhalb von 24 Wochen kann der Fötus keinen Schmerz empfinden, weil im Gehirn die dafür erforderlichen Bahnen zum Cortex noch nicht ausgebildet sind.

  • Solange sich der Fötus in der chemischen Umgebung der Gebärmutter befindet, ist er in einem schlafähnlichen Zustand und nicht bei Bewußtsein.

  • Da der Fötus vor 24 Wochen weder Schmerzen empfinden kann noch Bewußtsein besitzt, ist bis zu diesem Zeitpunkt der Einsatz von Schmerzmitteln bei etwaigen Eingriffen nicht sinnvoll.

  • Hinsichtlich des Einsatzes von Schmerzmitteln jenseits von 24 Wochen und deren langfristigen Auswirkungen sind weitere Forschungen erforderlich.
  • Es wird also unterschieden zwischen den notwendigen und den hinreichenden Bedingungen für das bewußte Empfinden von Schmerz.

    Notwendig ist, daß die Schmerzbahn ausgebildet ist, die von den Schmerzrezeptoren im Körper zur Großhirnrinde führt. Solange sie nicht funktionsfähig ist, kann es aus rein anatomischen Gründen kein Schmerzempfinden geben.

    Aber die Schmerzbahn existiert natürlich zum Beispiel auch bei einem Patienten, der in Narkose versetzt wurde. Er befindet sich aber in einem Zustand, der keine bewußte Wahrnehmung des Schmerzes ermöglicht. Die Schmerzbahn ist vorhanden, aber die Schmerzerregungen, die sie transportiert, werden nicht so weit verarbeitet, daß ein bewußtes Empfinden entsteht. Ähnlich ist es nach den Befunden, auf die sich die Kommission stützt, auch beim Fötus; und zwar auch jenseits der 24. Woche.

    Diese beiden Aussagen kommt eine unterschiedliche Sicherheit zu. Solange Schmerzreize nicht zur Großhirnrinde gelangen, ist ein bewußtes Schmerzempfinden nach heutigem Wissen ausgeschlossen. Über den Bewußteinszustand des Fötus lassen sich so sichere Aussagen jedoch nicht machen; es ist hier lediglich sehr unwahrscheinlich, daß er bewußt Schmerz empfinden kann, wenn er sich in einem chemisch bewirkten schlafähnlichen Zustand befindet.

    Bewußtsein zu diagnostizieren ist schon beim Erwachsenen außerordentlich schwer; siehe Bewußtsein bei Patienten im "Wachkoma" (vegetative state); ZR vom 4. 2. 2010. Beim Fötus ist es nicht einfacher.



    Diese Ergebnisse haben natürlich Implikationen für die Frage der Abtreibung. Die Fristenregelung, die in Deutschland de facto gilt (ein Schwangerschaftsabbruch bis zum dritten Monat ist zwar rechtswidrig, aber straffrei, wenn bestimmte Bedingungen eingehalten werden) ist also, was mögliche Schmerzen des Fötus bei der Abtreibung angeht, auf der sicheren Seite. Erst nach rund sechs Monaten ab der Empfängnis sind dafür überhaupt die anatomischen Voraussetzungen entwickelt.

    Selbstverständlich ist die Frage eines möglichen Leids, das dem Fötus zugefügt werden könnte, nur einer der Aspekte in der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch. Man kann die Abtreibung aus bevölkerungspolitischen Gründen ablehnen. Man kann es tun, weil man der Meinung ist, daß auch der Fötus bereits ein Mensch sei. Ein Abbruch kann des weiteren die Mutter psychisch schwer belasten, auch wenn sie die Abtreibung will oder sie ihr jedenfalls zustimmt. Es gibt viele Argumente, die, je nach Standpunkt, gegen eine Abtreibung sprechen können.

    Das alles ist zu bedenken. Was den Gesichtspunkt möglicherweise zugefügten Leids angeht, sollte man aber sehen, daß hier kein Problem liegt. Wenn ein Tier geschlachtet wird, dann wird ihm zweifelsfrei Leid zugefügt. Wenn ein Fötus innerhalb der Dreimonatsfrist abgetrieben wird, dann ist das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Fall.



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