14. Juni 2010

Marginalie: Aufregung über den "inneren Reichsparteitag". ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz entgleist zum zweiten Mal

Gerade erst hat Dieter Gruschwitz, Leiter der ZDF-Hauptredaktion Sport und derzeit Chef des ZDF-Teams bei der Fußball-WM, sich die Entgleisung geleistet, die Vuvuzelas, durch die seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts ein Stück südafrikanische Fußball-Kultur zerstört wird, als "Teil der südafrikanischen Kultur" zu bezeichnen; einen Teil noch dazu, um den man "nicht herumkomme" (siehe Die Vuvuzelas sind eine Zumutung; ZR vom 13. 6. 2010). Und schon leistet er sich die nächste Entgleisung.

Diesmal geht es um eine seiner Mitarbeiterinnen, die Journalistin Katrin Müller-Hohenstein. Sie hat gestern das Spiel Deutschland gegen Australien in der Halbzeitpause kommentiert, im Dialog mit Oliver Kahn. Man sprach, wie auch anders, über das Tor Miro Kloses, das diesem endlich geglückt war, nach einer langen Zeit ohne Torerfolg.

Müller-Hohenstein wollte ausdrücken, daß Klose jetzt wohl innerlich jubiliere, und sie bediente sich dazu einer heute eher aus der Mode gekommenen Redensart. Sie sagte - so der Wortlaut, wie ihn "Welt-Online" gestern am späten Abend berichtete -
Das ist für Miro Klose doch ein innerer Reichsparteitag, jetzt mal ganz im Ernst, dass der heute hier trifft.
Laut "Welt-Online" war das ein "Fehltritt ..., so folgenschwer", daß sich alsbald im Internet ein Sturm erhob:
Zynisch kommentierte ein Zuschauer im Internet: "Hurra, die deutsche Wochenschau berichtet live aus den deutschen Kolonien in Afrika." Ein anderer bangte angesichts der rhetorischen Geschmacklosigkeit: "Demnächst spielen die Gegner noch 'bis zur Vergasung' bei 'Bombenwetter'."
Es wird im Web gar ein Musterbrief an das ZDF angeboten, den möglichst viele Zuschauer unterschreiben und an den Sender schicken sollen. Darin heißt es laut "Welt-Online":
Ich fordere Sie und das ZDF deshalb, auch im Namen aller weiteren international gesinnten Fußball-Zuschauerinnen und Zuschauer, auf, sich von diesem Spruch und dem Nationalsozialismus zu distanzieren und klar zu stellen, dass dies eine massiv zu kritisierende Aussage war und diese zurückgenommen wird.
Daß Katrin Müller-Hohenstein (Jahrgang 1965 und nicht im geringsten einer Neigung zum Nazismus verdächtig) einfach eine Redewendung benutzt hat und keine Anspielung auf die Nazizeit beabsichtigte, sollte eigentlich auch dem beschränktesten politisch Korrekten klar sein, selbst nach reichlich Biergenuß beim Fußball-Gucken.

Aber gut, besserwisserische Ideologen gibt es nun einmal, und manche neigen dazu, gutmenschliche Empörtheit zur Schau zu stellen, wo immer sie können. Die angemessene Reaktion auf derartiges Zelotentum ist ein Schulterzucken. Sie sollte es jedenfalls eigentlich sein.

Aber nicht nur "Welt-Online" brachte die Sache noch am späten Abend groß heraus, mit einem Teaser auf der Startseite. Kurz nach Mitternacht zog auch "Spiegel-Online" nach; jetzt schon mit einer umfangreichen Geschichte und zahlreichen Links.

Und unter diesen Links findet sich auch die zweite Entgleisung des ZDF-Sportchefs Dieter Gruschwitz. Das ZDF verbreitet sie über Twitlonger:
ZDF-Sportchef Dieter Gruschwitz: "Es war eine sprachliche Entgleisung im Eifer der Halbzeitpause. Wir haben mit Katrin Müller-Hohenstein gesprochen, sie bedauert die Formulierung. Es wird nicht wieder vorkommen."



Eine Entschuldigung also; ein Rüffel für die Moderatorin. Dafür, daß sie eine Redensart gebraucht hat. Eine, die wie gesagt aus der Mode gekommen ist; aber das ist auch alles, was man gegen sie einwenden kann. Sie finden diese Redewendung zum Beispiel im Redensarten-Index erläutert und durch Belegstellen illustriert.

Aber mit "Reichsparteitag" sind doch die Parteitage der Nazis gemeint? In der Tat. Der Redensarten-Index sagt, sie beziehe sich
auf die Reichsparteitage der NSDAP in den 1930er Jahren, die mit ihren Aufmärschen, Paraden, Appellen, Totengedenken und Wehrmachtsvorführungen in ihrem Repräsentationsgebaren den Charakter einer offiziellen Staatsfeier trugen. Sie dienten der Demonstration des absoluten Machtanspruches der NSDAP und der Ideologie des NS-Staates: Disziplin und Ordnung, die Unterwerfung des Individuums unter einen gemeinsamen Willen
Diesen Pomp, dieses zur Schau getragene Brimborium hat der Volksmund damals ironisch aufgegriffen, wenn man von einem "inneren Reichsparteitag" sprach.

In einer einschlägigen Diskussion von Wikipedia-Autoren wurde dazu aus dem "Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten" zitiert:
"Es ist mir ein innerer Reichsparteitag" oder "Es ist mir ein innerer Vorbeimarsch", mit parodistischer Beziehung auf die bombastischen Reichsparteitage der Nationalsozialisten in den dreißiger Jahren aufgekommen.
Was also hat der Sportchef des ZDF eine Mitarbeiterin öffentlich zu rüffeln, die in einem umgangssprachlich geführten Gespräch einen solchen umgangssprachlichen Ausdruck verwendet?

Weil dieser Ausdruck aus der Nazizeit stammt? Es ist nun einmal so, daß die Sprache Redewendungen aus vergangener Zeit beibehält, auch wenn das, worauf sie sich einmal konkret bezogen, längst nicht mehr existiert.

Wir benutzen noch heute Ausdrücke aus der Ritterzeit wie "Steigbügelhalter" und "etwas im Schilde führen". Aus der Zeit Wilhelms II sind Ausdrücke wie "Kaiserwetter", "stolz wie ein Husar" oder auch "Köpenickiade" lebendig geblieben.

Aus der Zeit der SED-Diktatur haben Begriffe wie "Babyjahr", "Kulturschaffender" und "Sättigungsbeilage" ihren (teils ironisierten) Eingang ins moderne Deutsch gefunden; auch Redensarten wie "einwandfrei!" oder "sich keinen Kopf machen". Und der "innere Reichsparteitag" ist eben ein solches Relikt aus der Zeit der Nazi-Diktatur (wie übrigens auch "Staatsakt" und "Dachorganisation"). Das ist alles.



Lohnt es sich, über einen solchen lächerlichen Vorgang wie die Rüge der Journalistin Katrin Müller-Hohenstein durch ihren Chef Dieter Gruschwitz zu schreiben und zu debattieren? Ich fürchte, man muß das tun.

Denn es scheint, daß wir uns allmählich zu einem Land entwickeln, in dem niemand, der in der Öffentlichkeit steht, noch einen Satz spontan formulieren kann, ohne fürchten zu müssen, daß ihm die die selbsternannten Hüter der öffentlichen Rede auf den Pelz rücken; diese Anstoßnehmer, Gutmenschen, politisch Korrekten.

Diese Zeitgenossen, die alles verbieten oder mindestens tabuisieren möchten, was nicht ihrem eigenen bornierten Weltbild entspricht. Diese Leute, aus deren Sicht alles - und sei es auch nur ein begeisterter Kommentar einer Moderatorin zur hervorragenden Leistung eines Fußballers - unter der Drohung öffentlicher Zensur stehen soll, unter Sprachregelung.

"Sprachregelung"? Oh Verzeihung. Ich revoziere. Das ist auch so ein Wort aus der Nazizeit.


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