14. Januar 2010

Marginalie: Jerusalems Kotau vor Ankara. Über die neue Außenpolitik des Tayyep Recip Erdogan

Erinnern Sie sich an die Szene in Chaplins "Der große Diktator"? Sie können sie hier sehen (ab 3:40): Hinkel (Hitler) wurde von dem Großkotz Benzino Napoloni (Mussolini) bei gemeinsamen Auftritten in den Schatten gestellt und rächt sich nun, indem er diesen nötigt, an Hinkels Schreibtisch auf einem lächerlich niedrigen Stuhl Platz zu nehmen.

Das Video ist passenderweise mit türkischen Untertiteln versehen. Denn just eine solche Szene trug sich am Dienstag dieser Woche zu, als der israelische stellvertretende Außenminister Danny Ayalon den türkischen Botschafter Oguz Celikkol einbestellte und ihn - nicht ohne die Kameraleute darauf hingewiesen zu haben, daß sie das auch im Bild deutlich machen sollten - auf einem niedrigen Sofa Platz nehmen ließ, während er selbst auf einem erhöhten Stuhl saß. Auch verweigerte Ayalon dem Gast den Handschlag, und auf dem Tisch stand zwar ein Fähnlein Israels, aber keines der Türkei.

Es ging um eine israelische Beschwerde gegen die TV-Serie "Tal der Wölfe", die brutal antiisraelisch ist und von dem türkischen Privatsender Star TV ausgestrahlt wird.

Die Demütigung ihres Botschafters ließ die Türken vor Wut schäumen. Netanyahu, mit der Drohung einer Abberufung des türkischen Botschafters konfrontiert, zwang Ayalon gestern, eine von den Türken diktierte Entschuldigung nach Ankara zu schicken, nachdem eine erste Entschuldigung als zu lasch zurückgewiesen worden war.

Vordergründig ist das ein diplomatischer Eklat wegen der Dämlichkeit eines stellvertretenden Außenministers. Der Hintergrund ist eine sich schon lange abzeichnende Verschlechterung des türkisch- israelischen Verhältnisses. Und dessen Hintergrund wiederum ist eine Neuorientierung der türkischen Außenpolitik.



Eine Neuorientierung, die ja vielleicht in Deutschland angesichts des Umstands nicht unbeachtet bleiben sollte, daß unser Außenminister, entgegen der bisherigen Linie der Kanzlerin, der Türkei bei seinem Besuch vor einer Woche Hoffnungen auf eine deutsche Unterstützung in Sachen EU-Beitritt gemacht hat.

Er machte diese Hoffnungen einer Türkei, die im Begriff ist, sich aus der Allianz mit dem Westen zu lösen und sich dem Block Syrien, Iran, Hisbollah und Hamas anzunähern. Dazu schreibt der Jerusalemer Informationsdienst DEBKA:
Turkish prime minister Tayyep Recip Erdogan, buoyed up by is power to force Jerusalem to bend, is reported by DEBKAfile's sources to be planning to intensify his campaign for grinding down the Jewish state, playing to the radical galleries in Tehran, Damascus, Gaza and Beirut. (...)

DEBKAfile's sources disclose Erdogan is now working on a scheme to break the blockade imposed by Israel and Egypt on the Hamas- ruled Gaza Strip. He recently approached Venezuelan president Hugo Chavez and South African president Jacob Zuma with a plan for each to organize aid ships for the Gaza Strip. (...)

Jerusalem's fond illusion is shared by the Obama administration which too refuses to accept that the Erdogan regime has divorced itself from the pro-Western bloc of Saudi Arabia, Egypt, Jordan and Israel and plunged headlong into the new "Northern Islamic Alliance" club, alongside Iran, the Lebanese Hizballah and the Palestinian extremist Hamas.

Der türkische Ministerpräsident Tayyep Recip Erdogan, dem seine Macht, Jerusalem in die Knie zu zwingen, Auftrieb gegeben hat, plant laut Quellen von DEBKAfile, seinen Feldzug zum Zusammenstutzen des jüdischen Staats zu intensivieren, zur Freude der zuschauenden Radikalen in Teheran, Damaskus, Gaza und Beirut. (...)

Die Quellen von DEBKAfile besagen, daß Erdogan jetzt an einem Konzept arbeitet, um die Blockade zu durchbrechen, die Israel und Ägypten über den von der Hamas regierten Gaza- Streifen verhängt haben. Er legte dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und dem südafrikanischen Präsidenten Jacob Zuma Pläne vor, wonach beide Hilfsschiffe für den Gazastreifen organisieren sollen. (...)

Die Obama- Administration teilt die Selbsttäuschung Jerusalems und weigert sich ebenfalls, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Regime Erdogans sich von dem prowestlichen Block aus Saudi- Arabien, Ägypten, Jordanien und Israel gelöst hat und sich kopfüber in die neue "Nordislamische Allianz" stürzt, den Club aus dem Iran, der libanesischen Hisbollah und den palästinensischen Extremisten von der Hamas.
Wenn diese Analyse des über die Vorgänge im Nahen Osten stets bestens informierten DEBKA zutrifft, dann sollten im Westen die Alarmglocken schrillen. Vor allem in der EU, die sich darauf einstellen wird müssen, mit einem Beitrittskandidaten zu verhandeln, der bemerkenswerte Verwandtschaft mit in die Familie bringen würde.

Falls die Türkei ihrerseits überhaupt noch an der EU interessiert ist. Denn die jetzige Neuorientierung der türkischen Außenpolitik paßt bestens in das Bild, das George Friedman von Stratfor schon Anfang 2009 entworfen hat (siehe "Es ist unvermeidlich, daß die Macht der Türkei wächst"; ZR vom 3. 2. 2009). Die Türkei habe die Option, schrieb Friedman damals, sich als Alternative zum EU-Beitritt zur Vormacht der Region zu entwickeln; mit einer Orientierung hin zum arabischen Raum und nach Zentralasien, aber auch mit Interessen in Bosnien.

Es sieht zunehmend so aus, als hätte sich Erdogan bereits für diese Option entschieden.



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