23. Juni 2010

Zitat des Tages: "Sich aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse erlösen". Zu Joachim Gaucks gestriger Rede in Berlin

Ich träume von einem Land, in dem ich nicht nur zufrieden bin, weil seine Institutionen funktionieren, sondern das imstande ist, sich selber aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse zu erlösen, indem es gestaltet und das Seine eigenständig sucht, erkämpft, betreibt.

Joachim Gauck gestern in seiner Rede "Freiheit - Verantwortung - Gemeinsinn" im Deutschen Theater in Berlin. Die ganze Rede können Sie hier als Video ansehen.


Kommentar: Mir ist an dieser Rede zweierlei aufgefallen.

Erstens wird an ihr das deutlich, was wohl das Lebensmotto von Joachim Gauck ist, die Summa seiner biografischen Erfahrungen: Die Überwindung von Angst, das Annehmen von Verantwortung, der Mut zur Freiheit.

Er sieht Freiheit als etwas an, das man sich erkämpfen muß - und zwar nicht nur gegen diejenigen, die uns die Freiheit nehmen oder sie beschneiden wollen, sondern auch gegen die eigenen Neigungen und Motive, die der Freiheit entgegenstehen:
Mehr noch als die Bewohner in Deutschlands Westen begleitet die Bewohner des Ostens deshalb eine Angst vor der Freiheit, die den schmerzlichen Prozess der Aufklärung und Säkularisierung auf dem Weg in die Moderne immer begleitet hat. Wir haben durch die Freiheit viel gewonnen, aber wir haben auch Bindungen, die äußere festgezurrte Ordnung und Sicherheit verloren. Für ihre Lebensplanung sind die Menschen nun selbst zuständig - aber zu dieser Eigenverantwortung sind einige nicht mehr, und andere noch nicht fähig. Die Gestaltung der Freiheit ist generell der Gefahr ausgesetzt, durch die Angst vor ihr beschnitten und gehemmt zu werden.
Es ist nicht nur eine politische Haltung - die eines überzeugten Liberalen -, die Gauck darlegt, sondern es ist nachgerade eine Ethik und auch eine Lebensphilosophie. Gauck steht in der Tradition der Aufklärung, in der Tradition Kants, wohl auch von Philosophen der menschlichen Freiheit und Selbstverantwortung wie Kierkegaard und Sartre.

Zum zweiten ist diese Rede auf eine angenehme Weise altmodisch. Sie erinnert an das deutsche Lebensgefühl in den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik. Dieses Glück, frei zu sein und sein Leben selbstverantwortlich gestalten zu können, war damals allen Denkenden bewußt; war ihnen bewußt als etwas nicht Selbstverständliches. So wie Gauck gestern redete, dachten und sprachen die Demokraten "der ersten Stunde"; Männer wie Theodor Heuß, Thomas Dehler, Konrad Adenauer, Jakob Kaiser, Kurt Schumacher und Carlo Schmid.

Später wurden uns Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zur Gewohnheit, zur mitunter fast schon lästigen Gewohnheit. Viele neigen heute dazu, nur noch die Mängel des politischen Systems zu sehen, in dem wir leben; in dem wir das Glück haben leben zu dürfen. Es grassieren Dummheiten wie die von der "wachsenden sozialen Ungerechtigkeit"; oder es wird gar behauptet, wir hätten "gar keine Demokratie mehr". Mängel unseres Rechtsstaats werden mit dem Wesen des Unrechtsstaats DDR in einen Topf geworfen.

Daß wir - wir im Westen - das ungeheure Privileg haben, nicht nur seit mehr als 60 Jahren in Frieden und in wachsendem Wohlstand zu leben, sondern auch in Freiheit von staatlicher Unterdrückung und Willkür, von Bevormundung durch eine Ideologie - diese schlichte Wahrheit ist vielen so selbstverständlich geworden, daß sie ihnen gar nicht mehr bewußt zu sein scheint. Joachim Gauck ist sie, wie kann es anders sein bei seiner Biographie, nur allzu gegenwärtig:
Ich erinnere mich daran, wie lange und wie sehnlich ich und andere Bürger Mittelosteuropas darauf warteten, endlich das tun zu dürfen, was für Bürger im Westen seit Großvaters Zeiten ganz selbstverständlich war: in freien, gleichen und geheimen Wahlen die eigene Regierung zu wählen. Ich musste 50 Jahre alt werden, um das zu tun. Ich blicke zurück und sehe mich am Vormittag des 18. März 1990 mit Glückstränen im Gesicht aus dem Wahllokal kommen. Und ich sage zu dem Menschen neben mir, was er doch schon weiß: "Ich habe gewählt".

Für einen kurzen Moment war alle Freiheit Europas in das Herz des Einzelnen gekommen. Ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du auch nur eine Wahl versäumen.
Das mag für manchen pathetisch klingen. Aber es drückt das aus, was auch die Menschen nach 1945 empfanden; was geradezu das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik ausmachte: Diese unbändige Freude an der Freiheit. Für Gauck liegt das erst zwei Jahrzehnte zurück.



Wenn Joachim Gauck gewählt wird, dann bekommt unser Land wieder einen liberalen Bundespräsidenten. Einen, wie es ihn mit dieser in der eigenen Biographie verwurzelten, politisch und philosophisch reflektierten liberalen Überzeugung seit Theodor Heuß nicht gegeben hat.

Wer als Mitglied der Bundesversammlung ein Liberaler aus einer politischen Haltung heraus ist und nicht nur ein Karrierist mit FDP-Parteibuch, der kann eigentlich nicht anders, als Joachim Gauck zu wählen.

Aber spielt, wer das tut, damit nicht das Spiel der Rotgrünen, die Gauck just deshalb nominiert haben, weil sie auf solche "Abweichler" spekulierten, um der Regierung zu schaden? Nein. Wird Gauck gewählt, dann war da das am Werk, was Hegel eine "List der Vernunft" nannte.

Trittin und Gabriel, deren Universum nicht über Machtstrategie und Trickserei hinausreicht, wollten mit der Nominierung Gaucks die Regierung Merkel in Schwierigkeiten bringen; ja gewiß doch. Und die Regierung antwortet auf derselben machtpolitischen Ebene; siehe "Mit der Würde der Demokratie nicht vereinbar"; ZR vom 19. 6. 2010.

Aber wäre es nicht eine grandiose Ironie der Geschichte, wenn alle diese kleinkarierte Taktiererei am Ende das Ergebnis hätte, daß ein Liberaler Bundespräsident wird; ein Mann, der nicht nur politisch auf der anderen Seite steht, sondern dessen Verständnis von Politik auch so ist, daß es Leuten wie Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin die Schamröte ins Gesicht treiben sollte?



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Nachtrag am 20. 2. 2012: Der ursprüngliche Link zu der Rede funktioniert nicht mehr. Ich habe ihn durch einen anderen ersetzt; mit Dank an Frank Böhmert.