12. Juni 2010

Warum ist der Fußball eine so attraktive Sportart?

Fußball ist, global gesehen, die Sportart Nummer eins. Nicht regional begrenzt wie Cricket oder Baseball, sondern auf allen Kontinenten vertreten. Also offenbar ein ungewöhnlich attraktiver Sport.

Eine attraktive Sportart muß, so darf man vermuten, zahlreiche Bedürfnisse befriedigen; darunter könnten auch recht archaische sein.

Sport als solcher ist archaisch - das spielerische Realisieren von Situationen, die in der zivilisierten Welt rar geworden sind. Oder die, würden sie nicht in der geregelten Form des Sports stattfinden, sogar tabuisiert oder kriminalisiert wären; etwa das Bemühen, einen Mitmenschen zu Boden zu schlagen. Beim Fußball eher selten; beim Boxen aber das Ziel.

Warum ist der Fußball so schön? Welche Bedürfnisse befriedigt er, der Fußball? Ich rede im folgenden nicht von den Bedürfnissen, die er beim Spieler befriedigen mag. Da dürfte jedenfalls in den oberen Ligen das Gewinnstreben an erster Stelle stehen. Aber warum sehen wir uns so gern Fußballspiele als Zuschauer an, als passive Freunde des Fußballs?



Zunächst einmal befriedigt der Fußball gerade das Bedürfnis, beim Genießen eben nicht völlig passiv zu sein. Fußball-Zuschauer sind in Bewegung. Sie "gehen mit", springen auf, gestikulieren. Vor allem, wenn sie im Stadion sind und nicht vor der Glotze hocken. Oder beim Public Viewing, das bei der WM in Deutschland vor vier Jahren eine ganz neue Form der Freizeitgestaltung wurde. Auf Anhieb ein riesiger Erfolg.

Fußball, anders gesagt, fördert die Ideomotorik - das Sich-Mitbewegen, während man lebhafte Bewegung sieht; sie mit den Augen verfolgt. Im Vergleich dazu sind Tennis-Zuschauer, sieht man vom Hin-und Herrecken des Kopfes und gelegentlichem Raunen ab, vornehm-zurückhaltend. Man ist im Fußballstadion sozusagen mit Leib und Seele dabei: Eben auch mit Leib; vor allem dann, wenn man Teil einer 60.000köpfigen Menge ist.

Das Bedürfnis nach dem Erlebnis der Gemeinschaft, nach diesem wunderbaren Gefühl, gemeinsam mit Zehntausenden zu bangen und zu jubilieren, zu schreien und zu pfeifen, wird vom Fußball perfekt befriedigt. Inniger haben vermutlich nur die griechischen Helden vor Troja und die Kreuzfahrer beim Marsch auf Jerusalem im Gleichklang ihre Affekte moduliert.



Nun gut, das hat der Fußball mit anderen Massen- und Mannschaftssportarten gemeinsam - dem American Football, dem Baseball, dem Eishockey. Schauen wir uns nun aber an, wie denn dieses synchrone Modulieren der Affekte geschieht.

Beim Fußball baut sich Spannung auf, oft über einen langen Zeitraum, und entlädt sich dann im Torschrei. Man wartet auf das Tor.

Daß ein Tor fällt, ist ein vergleichsweise seltenes Ereignis. Anders als beim Handball oder beim Basketball, wo sozusagen Tore in Serie fallen und man eher darauf lauert, daß ein Tempo-Gegenstoß nicht zum Tor führt.

Aber nichts ist schlechter zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen. Tore, die ständig passieren, sind so langweilig wie täglich Kaviar.

In der Bundesliga fallen pro Spiel im Durchschnitt ziemlich genau drei Tore; bis 1990 geringfügig mehr, seither etwas darunter. Man muß also, statistisch gesehen, ungefähr eine halbe Stunde warten, bis jeweils das nächste Tor fällt. Da baut sich ein Spannungsbogen auf.

Eine Vergleich mit den "Erregungskurven", wie man sie in gewissen aufklärenden Schriften finden kann, bietet sich an, soll aber hier nicht vertieft werden. Es mag der Hinweis darauf genügen, daß einer der Ausdrücke im Englischen für das Ausstoßen eines Schreis oder Rufs, also etwa auch eines Torschreis, "to ejaculate" ist.



Verlassen wir nun die Zuschauer und blicken auf das Spielfeld. Was sehen wir da? Rechts und links zwei, sagen wir, Häuschen. Goal heißen sie auf Englisch, was vom mittelenglischen gol kommt, Grenze oder Sperre. Darin steht der Hüter des Hauses, der goal-keeper. Zu deutsch Torwächter, was heute meist zu Torwart abgekürzt wird, wenn nicht gar prosaisch Tormann.

"Torhüter" ist das bessere deutsche Wort. Da hütet einer sein Haus, versucht seine Gehäuse rein zu halten. Er wehrt ab, faustet, wirft sich den Angreifern entgegen, wenn es sein muß. Der Fels in der Brandung, wenn er gut ist. Gar ein Titan; wie - die Älteren werden sich erinnern - Olli Kahn genannt wurde.

Und die Brandung, der er standzuhalten hat, das sind die Angriffe, die Welle um Welle heranrollen. Der Wächter dirigiert "seine Verteidigung", um alle Angriffsversuche zunichte zu machen. Wenn es doch "einschlägt" in seinem Gehäuse, dann ist er "geschlagen". Fischt die Kugel aus dem Netz, steht da, gesenkten Kopfes. Rauft sich die Haare, wenn ihm das sein Temperament gebietet. Man sah auch schon Türhüter nach einem Treffer verzweifelt auf das Erdreich trommeln.

Kurzum, es ist das uralte Drama der Belagerung einer Siedlung, einer Stadt, das sich da abspielt. Mit der Besonderheit allerdings, daß Belagerte und Belagerer ständig die Rolle wechseln. Es ist ein ritualisierter, ein symbolischer und - meist - unblutiger Krieg, der da stattfindet.



Freilich wird mit sehr seltsamen Waffen gekämpft - mit den Füßen, gelegentlich mit dem Kopf. Wie absurd! Zum Kämpfen hat der Mensch seine Hände und das, was er sich als deren Verlängerung ausgedacht hat, um sie schlagkräftiger zu machen - die Keule, den Speer, das Schwert, den Hockeyschläger, den Tennisschläger, den Baseballschläger.

Aber man kämpft doch nicht mit den Füßen!

Ja eben.

Es ist eine Beschränkung, eine Zügelung, fast so etwas wie eine funktionelle Verkrüppelung, die dem Fußball-Feldspieler auferlegt wird. Und genau darin liegt der Reiz: In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.

Die Römer wußten, welche Showeffekte das hervorbringen kann. Es gab - jedenfalls berichet das Cicero - bei den Gladiatorenspielen den Antabes; einen Kämpfer, der einen Helm ohne Augenlöcher trug oder dem man die Augen verbunden hatte.



Die Verwendung der Füße nicht nur als Waffe im Kampf, sondern auch - anders betrachtet - zur Be-Handlung (zur Befußlung sozusagen) eines Gegenstandes bringt aber nicht nur diesen Reiz der Beschränkung mit sich, sondern sie ist auch die Ursache für das, was vielleicht das Wichtigste beim Unterhaltungswert des Fußballs ist: Die fehlende Präzision, die dieser Befußlung eigen ist; mit der Folge, daß die Vorgänge im Spiel einem starken Zufallseinfluß unterliegen.

Jeder halbwegs geübte Handballer kann den Ball so werfen, daß er den Empfänger erreicht - schief geht das nur, wenn ein Gegner den Ball abfängt. Dagegen liegt es im Wesen des Kickens, daß der Ball woanders ankommen kann, als es beabsichtigt ist. Bei Gewalt-Fernschüssen aufs Tor in manchmal geradezu lächerlicher Weise, wenn der Schütze, auch wenn er ein Spitzenspieler ist, das Leder Richtung Tribüne drischt. Weil schon eine kleine Abweichung im Schußwinkel das Projektil weit von der beabsichtigten Bahn entfernt.

Dieses Zufallselement ist ungeheuer spielbelebend. Ohne Fehlpässe, ohne die ständige Gefahr, den Ball zu verlieren, würde es ein monotone Hin und Her geben. Der schnelle Wechsel des Ballbesitzes, und daraus resultierend die ständige Möglichkeit, daß aus Verteidigern Angreifer werden und umgekehrt, macht das Fußballspiel so abwechslungsreich. Im Wortsinn: der Ball wechselt den Besitzer, das Spiel die Richtung. In kurzen Abständen, unvorhersehbar.



Nun sind hierfür allerdings nicht nur Fehlpässe die Ursache. Sondern es sind auch die Aktivitäten des Gegners, der dem Ballbesitzer das "Spielgerät" abzujagen versucht. Der Besitzlose sucht dem Besitzer seinen Besitz zu nehmen.

Auch das ist ein arachaisches Element. Hunde streiten sich so um einen Knochen. Bei allen Rudel- und Hordentieren gibt es dergleichen; es dürfte uns Hominiden im Blut liegen, wie das Rennen und Boxen; vermutlich auch wie das Kriegführen.

Oft hat das, vor allem bei Jungtieren, einen spielerischen Charakter. Mit dem Herrchen um ein Stöckchen oder dergleichen zerrend zu streiten, ist für die meisten Hunde ein großes Vergnügen - die übliche, für den Sport kennzeichnende Mixtur aus Aggression und Freude. Der Hund knurrt dabei und wedelt zugleich.

Diese Aggression nun findet beim Fußball ihren Ausdruck im Zweikampf. Für Sekunden wird aus dem Mannschaftssport ein Einzelsport, der Kampf Mann gegen Mann. Der "Bodycheck" ist ein wesentlicher Teil des Spiels (und vermutlich ein Grund dafür, daß Frauenfußball trotz allen Mühens nicht so recht populär wird). Für einen Augenblick sieht der Spieler sozusagen das Weiße im Auge des Gegners.



"To check" allerdings heißt in diesem Zusammenhang "kontrollieren, bremsen". Gemeint war damit ursprünglich beim Eishockey, daß der attackierende Spieler den im Besitz des Pucks befindlichen Spieler bremst, indem er sich ihm mit seinem ganzen Körper entgegenstellt. Beim Eishockey regelkonform, aber auch beim Fußball nicht selten anzutreffen. Dort meint man mit "Bodycheck" aber meist einfach den körperbetonten Zweikampf.

Aber ein Bremsen, ein Kontrollieren ist der Zweikampf noch in einem anderen Sinn: Er verlangt Selbstbeherrschung in höchstem Maß, nämlich maximalen körperlichen Einsatz bei gleichzeitiger strikter Einhaltung von Regeln.

Es ist eine Gratwanderung. Die Gelbe Karte wird einkalkuliert, aber man versucht sie natürlich nach Kräften zu vermeiden. Wer dennoch einmal seiner Aggression freien Lauf läßt - wer zuschlägt, nachtritt, - der wird erbarmungslos bestraft.

Von den Spielern wird verlangt, alles aus sich herauszuholen und sich dabei doch keinen Augenblick gehen zu lassen.

Auch das ist ein zentrales Moment von Kultur: die Ritualisierung. Gerade die Grundbedürfnisse der Liebe und der Aggression sind im Lauf unserer kulturellen Evolution durch Regeln, Tabus, Sitten, Zeremonien unter Kontrolle gebracht worden. Äußerste Aggressivität bei äußerster Selbstbeherrschung - das wurde vom olympischen Ringer in Athen verlangt, vom Ritter im Turnier. Und es wird heute vom Fußballer verlangt.



Gewiß, es wird auch vom Boxer verlangt, vom Ringer, vom Judoka. Aber beim Fußball ist das eben nur ein Moment unter vielen. Das Spiel ist ja nur für einen Augenblick Zweikampf, danach wieder Mannschaftssport. Der Bildausschnitt wechselt gewissermaßen zwischen Teleobjektiv und Weitwinkel.

Der Stadionbesucher folgt dem durch die Verlagerung seiner Aufmerksamkeit. Mal konzentriert er sich auf die beiden Kontrahenten eines Zweikampfs, mal achtet er darauf, wie auf dem Schachbrett "Spielfeld" die Figuren stehen und sich bewegen, mal folgt er mit seiner Aufmerksamkeit einem weiten Paß.

Das Fernsehen bekommt diesen Fokuswechsel aber viel perfekter hin. Das TV ist das ideale Medium für den Fußball, so wie der Fußball, wie kaum eine andere Sportart, im TV wenig von seinem Reiz verliert. Der schnelle Bildschnitt, das Hinein-und Herauszoomen ist sozusagen der Wesenskern dieses Mediums, und das Spielgeschehen auf dem Rasen paßt bestens dazu. Es ist vielleicht kein Zufall, daß der weltweite Siegeszugs des Fußballs mit demjenigen des TV einherging.



Das sind, soweit ich sehe, einige der wesentlichen Momente, die den Fußball so attraktiv machen.

Und da ist dann noch eines, das manche Soziobiologen gern hervorheben: Elf Freunde sind's auf jeder Seite, gerade elf. So viele ungefähr, wie ein Aufsichtsrat Mitglieder hat. So viele ungefähr, wie Jesus Jünger hatte. Und, sagen diese Soziobiologen, so viele, wie ungefähr in der Horde des jagenden Homo Sapiens in seiner Frühzeit ein Jagdtrupp hatte. Damals, nach der Auswanderung in die Savanne, als das Nicht-Raubtier Mensch das Jagen erlernen mußte und das tat, indem man dem Tier im Kollektiv nachjagte, es ermüdete, schließlich umringte und gemeinsam zur Strecke brachte.

Mag sein. Vielleicht sind die zehn Feldspieler wirklich so etwas wie ein Jagdtrupp. Und für ihre soziale Kohärenz mag das auch wichtig sein - zehn oder zwölf, das ist für gemeinsame Unternehmungen eine gute Gruppengröße.

Aber was das mit dem Reiz des Fußballs zu tun haben soll, habe ich nie verstanden. Den prähistorischen Jagdtrupps guckte doch niemand zu.

Wir dagegen gucken und gucken und gucken; seit gestern einmal wieder.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Die Weltcup-Trophäe. Vom Fotografen Sussepudim unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, freigegeben. Dies ist die überarbeitete Version eines Artikels, der vor vier Jahren in ZR erschien. Ich vermute aber, daß Sie ihn nicht gelesen haben; denn damals, wenige Tage nach dem Start von ZR, freute ich mich, wenn einmal zwei Dutzend Leser am Tag ihren Weg hierher fanden.