6. März 2010

Kurioses, kurz kommentiert: Was hat Ilse Aigner mit "Google Street View" zu schaffen? Über wuchernde Kompetenzen eines kuriosen Ministeriums

In der Debatte um den Internet-Dienst Google Street View hat Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) ihre Kritik verschärft und zusätzliche Forderungen an Google gerichtet. Es sei nicht akzeptabel, dass sich Bürger erst im Netz informieren müssten, ob ihr Haus fotografiert und ins Web gestellt worden sei, sagte Aigner dem Hamburger Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL.

Aus einer Vorabmeldung zum "Spiegel" der kommenden Woche.


Kommentar: Über Google Street View mag man verschiedener Meinung sein.

Ich freue mich darauf, so wie ich ein begeisterter Nutzer von Google Earth bin. Aber nun gut, das ist Ansichtssache. Mir gefällt, daß man sich virtuell an jeden Ort der Erde begeben kann; ich sehe darin eine wunderbare Erweiterung des Horizonts, im Wortsinn. Andere mögen sich sorgen, daß irgendwer beim Blick von oben auf ihr Haus etwas sehen könnte, was er nicht sehen soll.

Oder eben künftig beim Blick nicht von oben, sondern aus der Perspektive, die man hat, wenn man im Auto an dem betreffenden Haus vorbeifährt. Was ja nun allerdings bisher nicht verboten ist; außer vielleicht bei den Häusern der Nomenklatura in totalitär regierten Staaten.

Aber nicht um diese Seltsamkeit geht es mir, daß das, was jedem Bürger real erlaubt ist - an einem Haus vorbeizufahren und es auf Video aufzunehmen - auf einmal zum Problem wird, wenn Google dasselbe macht. Obwohl das ja eigentlich kurios genug ist.

Sondern das wirklich Kuriose, das nachgerade Paradoxe sehe ich darin, daß es die Ministerin Aigner ist, die sich kraft ihres Amts hier zu Wort meldet.

Dieses Amt ist das der Chefin eines Ressorts, das mit vollständiger Bezeichnung Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz heißt. Das Bauernministerium also. Das jedenfalls war der Kompetenzbereich des Ministeriums, seit es 1920 als "Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft" eingerichtet wurde; nach Gründung der Bundesrepublik hieß es analog "Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten". (Die "Forsten" hatte es schon in der Bezeichnung des entsprechenden preußischen Ministeriums gegeben).

Je nach Wirtschaftslage stand bei der Tätigkeit dieses Ministeriums mehr die Ernährung der Bevölkerung im Vordergrund, wie naturgemäß nach dem Ersten und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg; oder - wenn es wieder genug zu essen gab - die Förderung und der Schutz der Landwirtschaft. So war es, bis Rotgrün alles auf den Kopf stellte.



Am 12. Januar 2001 nämlich wurde das Ministerium um eine Kompetenz erweitert, und zugleich erhielt es eine neue Chefin. Die Kompetenz war "Verbraucherschutz"; die neue Chefin hieß Renate Künast.

Vorausgegangen war der Rücktritt des Ministers Funke als Folge einer "Affäre", die zu den bizarrsten in der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört, nämlich der nachgerade die Züge einer Phobie tragenden Angst vor BSE und den Vorwürfen an zwei Minister, sie hätten uns nicht genügend gegen diese fürchterliche Gefahr geschützt. Die Gesundheitsministerin Andrea Fischer wurde zur Demission gezwungen, und ebenso mußte der Landwirtschafts-Minister Funke gehen.

Karl-Heinz Funke war einer aus der Riege jener bodenständigen Bauernminister gewesen, die wie Heinrich Lübke, Hermann Höcherl, Josef Ertl und Ignaz Kiechle entweder selbst einen landwirtschaftlichen Betrieb hatten oder jedenfalls aufgrund ihrer Herkunft der Landswirtschaft verbunden waren.

Und nun also Renate Künast; Städterin aus dem Ruhrpott, Wahlberlinerin; gelernte Sozialarbeiterin, studierte Juristin. Ihr ursprüngliches berufliches Interessengebiet war die Fürsorge für Häftlinge gewesen, nicht diejenige für Landwirte. Es war ungefähr so, als hätte man einen Börsenmakler zum Arbeitsminister gemacht.

Aber nicht genug damit: Das Ministerium wurde anläßlich des personellen Wechsels und als Reaktion auf die BSE-Hysterie gleich auch noch mit einer neuen Kompetenz ausgestattet, nämlich derjenigen für Verbraucherschutz. Diese wurde sogar in der Bezeichnung des Ministeriums durch die Reihenfolge hervorgehoben; es hieß fortan "Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft".

Gedacht war dabei natürlich zuerst an den Schutz der Verbraucher vor gefährlichen Lebensmitteln, wie eben BSE-verseuchtem Rindfleisch. Aber die clevere Renate Künast erkannte schnell, welches politische Potential in dieser Erweiterung steckte, und bald fühlte sie sich zuständig für alles, wofür man als Konsument Geld ausgeben kann; bis hin zum Wählen einer 0190-Nummer.



Als Rotgrün 2005 durch die Große Koalition abgelöst wurde, hat man immerhin eine kleine kosmetische Operation vorgenommen und den Bereich "Verbraucherschutz" in der Bezeichnung des Ministeriums von der ersten an die letzte Stelle gesetzt; ansonsten blieb es bei der wuchernden Kompetenz.

Und diese Kompetenz nun versucht offenbar die jetzige Amtsinhaberin Ilse Aigner noch weiter auszuweiten. Denn wer ist "Verbraucher" bei Google Street View? Wenn es da überhaupt einen Verbraucher gibt, dann ist es logischerweise derjenige, der diesen Dienst nutzt. Nicht um dessen Schutz aber sorgt sich die Ministerin Ilse Aigner, sondern um den Schutz von Menschen, deren Häuser auf Video aufgenommen werden sollen.

Was, bitteschön, hat das mit Verbraucherschutz zu tun? Und wie läßt sich überhaupt rechtfertigen, daß der Verbraucherschutz beim Ministerium für Ernährung und Landwirtschaft angesiedelt ist, statt dort, wo er hingehört, nämlich beim Wirtschaftsministerium?



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