14. September 2023

Der grüne Komet





Komet Nishimura am 8. September 2023



"Ich bin heute morgen aufgewacht, bevor es hell wurde," sagte Bob Starr. "Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. Aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Als ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich etwas Neues am Himmel - bloß einen kleinen grünen Fleck. Er befand sich im Sternbild Jungfrau, nahe dem Stern Vindemiatrix. Er war nicht sehr groß. Aber er war mir ein Rätsel. Und während ich dort lag, überfiel mich eine schreckliche Vorahnung. Es war, als ob mich ein furchtbares Auge aus dem Weltraum anstarren würde. (...) Aber es ist kein Stern. Er ist zu unscharf, um eine Nova zu sein. Und außerdem zeigt kein Stern solch eine merkwürdige hellgrüne Farbe. Vielleicht ist es ein Komet - aber jeder Komet hätte längst von den großen Observatorien draußen im Weltraum in der Schwerelosigkeit entdeckt werden müssen."


So beginnt der zweite Teil von Jack Williamsons Trilogie um die „Weltraumlegion,“ die „Legion of Space,“ mit dem Titel „The Cometeers,“ dessen Vorabdruck im Mai 1936 im Magazin „Astounding Stories“ (damals noch unter der Herausgeberschaft von F. Orlin Tremaine) anlief. Williamson legt sich nicht fest, in welchem Jahrhundert seine archetypische Space Opera spielt – nur daß die Menschheit vor kurzem einen überlichtschnellen Antrieb erfunden und als erstes Barnards Stern erreicht hat. Aber auch für uns, die wir uns kalendarisch eher in der Nähe der Star-Trek-Universums befinden, wo der erste Einsatz des Warpantriebs durch Zephram Cochrane am Donnerstag, dem 5. April 2063 stattfinden wird (so die Festlegung im achten Spielfilm de Serie, „First Contact“ von 1996 [*]) ist die en passant erfolgte Erwähnung der „big gravity-free observatories out in space“ keine Science Fiction mehr, sondern nüchterner Science Fact (als 1960 Tremaines Nachfolger John W. Campbell Jr. den Titel des Magazins von „Astounding Stories“ zu „Analog“ änderte, fügte er „Science Fact and Fiction“ als Untertitel hinzu). Zwar sind es nicht die Weltraumobservatorien wie das James Webb Space Telescope und Hubble, die mit anderen Beobachtungsprogrammen rund um die Uhr ausgelastet sind – aber von den bislang 37 Kometen, die im laufenden Kalenderjahr 2023 entdeckt worden sind, geht dies bei 15 davon auf eines der beiden Teleskope des Pan-STARRS-Programms zurück, die seit 2018 automatisch von Haleakala-Observatorium auf Maui, der zweitgrößten Insel von Hawaii, den Himmel nach Objekten durchmustern, die im Lauf einiger Stunden ihre Position leicht verändern – Asteroiden und Kometen eben. Seitdem das erste 1,8-m-Spiegelteleskop des (…holt tief Luft…) „Panoramic Survey Telescope and Rapid Response System“ im Dezember 2008 seinen Betrieb aufgenommen hat, hat das Programm fast 6000 Asteroiden neu entdeckt (davon im Februar 2011 19 in einer einzigen Nacht) – darunter am 28. März 2023 einen „zweiten Mond der Erde“ – ein Objekt mit gut 20 Metern Durchmesser mit der offiziellen Bezeichnung 2023 FW13 – allerdings ist die in den Medienmeldungen verwendete Bezeichnung des „zweiten Monds“ irreführend [**]. Der kleine Himmelskörper kreist nicht um Mutter Erde, sondern umläuft die Sonne in fast der gleichen Umlaufbahn und sich ihr dabei bis auf 14 Millionen Kilometer nähern. Nach den Berechnungen der Bahn tut er dies etwa seit dem Jahr 100 v. Chr., um das Jahr 3700 werden die Störeinflüsse der Sonne zu einem Ende dieses kosmischen Synchronschwimmens führen. Astronomen sprechen in einem solchen Fall von einem „Quasisatelliten.“ 2023 FW13 ist der fünfte solche Beinahe-Trabant der Erde, der bislang aufgefunden worden ist; der Asteroid 2003 YN107, der von 1996 bis 2006 eine solche Umlaufbahn beschrieben hat und sie ab dem Jahr 2066 wieder einnehmen wird, wird möglicherweise bei der größten Annäherung an die Erde im Jahr 2120 so von ihrer Schwerkraft abgelenkt, daß er tatsächlich, praktisch-faktisch, zu einem zweiten Erdmond wird. ­

Obwohl also 4 von 10 Haarsternen mittlerweile durch automatisierte Durchmusterungsprogramme aufgespürt werden, sobald sie auf ihren zumeist stark elliptischen Umlaufbahnen der Sonne näher als der Jupiter kommen und durch Ausgasung einen „Kopf,“ einen Halo entwickeln, ist bei den restlichen 60% immer noch die Aufmerksamkeit menschlicher Beobachter dafür verantwortlich. So wurden etwa sieben dieser erwähnten 37 Kometen vom ATLAS-Team entdeckt, den Mitarbeitern am „Asteroid Terrestrial-Impact Alarm,“ das seit 2015 vom Institut für Astronomie der University of Hawaii betrieben wird. Die Aufnahmen der vier Spiegelteleskope mit einem Hauptspiegel von 50 Zentimetern Durchmesser, von denen zwei auf Hawaii selbst arbeiten, eines in Südafrika und einem in Chile auf dem Observatorium in Rio Hurtado, werden zwar durch automatisierte Programme aufgenommen, ihre Auswertung erfolgt aber immer noch sozusagen „händisch“ (bislang hat das Team in diesem Jahr 7 neue Kometen ausgespürt). 2023 A1, die erste Entdeckung in diesem Jahr, gelang Gregory Leonard mit dem 1,5-Meter-Reflektor des Mount-Lemmon-Observatoriums. Komet 2023 A2 (SWAN) wurde am 26. Januar von Wiktor Besuglij aus Dnjepropetrowsk entdeckt, als er Aufnahmen des „Solar Wind Anisotropy“-Instruments des Weltraumteleskops SOHO auswerte, dessen Hauptaufgabe in der Beobachtung der Sonne besteht. Seit es 1996 um den L1-Lagrangepunkt zwischen Erde und Sonne kreist (ja, der Punkt im Weltraum, zu dem auch das vor 10 Tagen gestartete indische Sonnenobservatorium Adhitya unterwegs ist), sind mit Hilfe dieser Spezialkamera mehr als 3000 Kometen entdeckt worden.

Typischerweise beläuft sich die Helligkeit dieser kurzfristigen Besucher im inneren Sonnensystem zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung auf die 19. Größenklasse. Das ist für einen Laien ein ziemlich unanschauliches Maß. Zur Erinnerung: die Astronomen messen die Helligkeit eines Objekts „in umgekehrter Reihenfolge“ – je größer der angegebene Wert, desto lichtschwächer erscheint es. Das menschliche Auge kann unter optimalen Bedingungen (weitab den der Lichtglocke von Städten, bei aufgeklartem Nachthimmel) gerade noch Objekte der Größenklasse 6 erfassen; diese Skala ist logarithmisch aufgebaut, wobei jede Erhörung des Zählers um 1 bedeutet, daß die Helligkeit um das 2,31-fache geringer ist. Ein Stern, Asteroid oder Komet mit mag. 19 leuchtet demnach gut 70.000-fach zu schwach, um mit „unbewaffnetem Auge“ aufgefunden zu werden.

II.



Komet Nishimura, Position 14. September 2023





Und da im Zentrum dieses Beitrags das Land der aufgehenden Sonne steht, noch einmal auf Japanisch.

Und genau solcher menschlicher Handarbeit verdankt sich auch die Entdeckung des aktuellen Besuchers aus den Außenbezirken unseres Sonnensystems, des Kometen C2023 P1, von Medien wie Sternfreunden nur nach seinem Entdecker Hideo Nishimura „Komet Nishimura“ genannt, der hin vor genau einem Monat, am 12. August 2023 mit Hilfe eines 200-Millimeter-Teleojektivs aufspürte, als der Komet sich in Erdentfernung von der Sonne befand. Vor zwei Tagen, am 12. September um 9 Uhr 20 Mitteleuropäischer Sommerzeit ist er uns auf seiner langgezogenen elliptischen Umlaufbahn mit 128 Millionen Kilometern am nächsten gekommen; am Samstag um 17:24 wird er der Sonne am nächsten kommen, wenn er sich ihr bis auf 33 Millionen Kilometer nähert (der innerste Planet, Merkur, umläuft sie in 56 Millionen km Distanz) – danach wird er sich wieder in die äußeren Bereiche des Sonnensystems zurückziehen, bis in eine Distanz von 8,5 Milliarden km und erst im September des Jahres 2430 eine weitere Stippvisite einlegen. Das vorige Mal, als er sich bei uns sehen ließ, war im Juli 1588, genau in jenen Wochen, als im Ärmelkanal die versuchte Invasion Englands durch die Spanische Armada mit der Schlacht von Graveslines und dem sich anschließenden Sommersturm so final endete wie 300 Jahre zuvor, 1281, der Versuch der Mongolen unter Kublai Khan, Japan zu besetzen. Wobei „sich sehen ließ“ hier die falsche Wendung ist: der winzige Lichtpunkt ist vor 400 Jahren keinem Betrachter aufgefallen – und wenn die unendliche Fleißarbeit der erbsenzählenden Registratoren nicht wäre, so wäre er auch wohl jetzt, im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts, unbemerkt geblieben.

An dieser Stelle müssen die Meldungen, die während der letzten Wochen auf diversen Nachrichtenportalen zu lesen waren, leicht korrigiert werden. Demnach war „der grüne Komet“ Nishimura kurz vor Sonnenaufgang im Osten knapp über dem Horizont im Bereich des Sternbilds Löwe als gerade noch zu erkennender Lichtpunkt auszumachen. Solche Agenturmeldungen stammen vermutlich von Journalisten, deren tatsächliche Vertrautheit mit dem Nachthimmel sich darauf beschränkt, die beiden markantesten Sternbilder ausmachen zu können (den „großen Wagen“ und den Himmelsjäger Orion) wenn man sie darauf hinweist. Vorgestern morgen, eben kurz vor seiner größten Annäherung an uns, stand der Komet ungefähr da, wo sich im Sternbild Leo (das als eine der wenigen der 88 Konstellationen tatsächlich einige Ähnlichkeit mit dem, was es bezeichnet, aufweist) bei einem tatsächlichen Löwen der Schwanz beginnt, auf 11 Stunden, 9 Minuten und 38 Sekunden rechter Aszension (für Laien: westlich des Frühlingspunkts entlang dem Himmelsäquator) und einer Deklination von +19°40‘45‘‘, also gut 20 Bogengrad nördlich davon (heute, einen Tag später sind diese Werte: 11h 43min 05sek und +15°51‘33‘‘). Für mich hier im Westen des Münsterlandes ging er damit um 5:24 auf, mit gut 10 Grad Winkelabstand von der sich ankündigenden Sonne. Nur nützt es einem irdischen Beobachter nicht viel, wenn das obskure Objekt seiner Begierde (frei nach Luis Bunuel) gerade über den Horizont steigt – und gut sichtbar zu werden, muß ein Stern, ein Planet oder ein Komet mindestens zehn Bogengrad darüber stehen – ansonsten versinkt er in Unschärfe und Dunst. Diese Höhe hat Nishimura heute morgen erst um 6:43 erreicht; der Sonnenaufgang folgte eine Viertelstunde später um 6:58. Schon mit dem Anbruch der sogenannten bürgerlichen Dämmerung um 6:24, wenn sich die Sonne noch 6 Grad unter dem Horizont befindet, ist der Morgenhimmel bereits soweit aufgehellt, daß nicht einmal mehr helle Sterne zu erkennen sind – geschweige denn ein Fünkchen an der Grenz zur Sichtbarkeit, dessen Helligkeit heute bei mag 5,92 lag.

Am sonnennächsten Punkt seiner Bahn wird der Komet eine Geschwindigkeit von fast 90 Kilometern erreichen; da diese Bahn um 132 Grad gegen die Ekliptik „gekippt“ verläuft, ist die „rückläufig,“ retrograd. Anders als anständige Planeten – und das Gros der Kometen – umläuft er sein Zentralgestirn im Uhrzeigersinn; wir sehen ihn also nicht, wie üblich, schwach bei seinem Anflug „hinter“ der Sonne, um dann in größerer Nähe wieder aufzutauchen, sondern nur bei seinem Anflug.

III

Anders als es Bob Starr von der eingangs zitierten Williamson‘schen Weltraumlegion und der üblichen Tonus der Medienmeldungen nahelegen, ist grün für Kometen allerdings keine ungewöhnliche Einfärbung. (Schon im Januar konnte man im Vorfeld des Besuchs des Kometen C/2022 E3 (ZTF), im März 2022 in Kalifornien entdeckt, keine Meldung lesen, in der nicht betont wurde, daß es sich (a) um einen „grünen Kometen“ handeln würde, der (b) „seit der Steinzeit nicht mehr gesehen worden sei.“) Von den Kometen, die ich selber im Laufe eine gelegentlichen Beobachtertätigkeit durch ein kleines Teleskop (einen dreizölligen Refraktor) oder einen Feldstecher in Augenschein genommen habe (Komet Kohoutek im Januar 1974; den Halleyschen Kometen im März 1976, die Kometen Hyakutake und Hale-Bopp 1996 und 1997, McNaught 2007 und Neowise 2020), wiesen die letzten vier eine deutlich sichtbare grünliche Einfärbung auf. Vielleicht liegt der Grund, das als leicht spukhaft“ zu empfinden, darin, daß bei astronomischen Erscheinungen die Farbe grün praktisch nicht vorhanden ist – es sei denn auf den über Stunden belichteten Fotografien von Nebeln. Unter Sternen ist diese Einfärbung - anders als gelb, rot oder blau, nicht zu finden. Das liegt nicht daran, daß sie nicht in diesem Bereich des sichtbaren Spektrums Strahlung emittieren. Im Gegenteil: unsere Sonne leuchtet dort sogar am stärksten – das ist der Grund, warum Blattgrün, Chlorophyll, unseren Augen GRÜN erscheint, weil es diesen Frequenzbereich absorbiert. Aber dieser Teilbereich wird durch das Licht aus den anderen Bereichen des Spektrums, für die die Erdatmosphäre durchlässig ist, überlagert – und durch die Farbaddition ergibt sich die weiße Farbe des Sonnenlichts (außer bei Tiefstand der Sonne, wenn der längere Weg durch die Luftschichten den blauen Anteil des Lichts absorbiert und sich der höhere Rotanteil bemerkbar macht.) Die Ausnahmen bilden Polarlichter – und eben die Köpfe von Kometen – auch wenn die grüne Einfärbung auf unterschiedliche Gründe zurückgeht. Bei Polarlichtern entsteht die ganz überwiegende hellgrüne Tönung der wehenden Lichtvorhänge dadurch, daß die schnellen (und entsprechend „heißen“) Gaspartikel aus Sonneneruptionen auf die Gasmoleküle der obersten Erdatmosphäre treffen. Beim Zusammenprall wird diese Energie absorbiert, was zur Folge hat, daß Elektronen aus den äußeren Elektronenschalen dieser Atome verschwinden und auf energetisch höheren, inneren Elektronenschalen neu entstehen. Die Atome behalten diesen „überhitzten,“ angeregten Zustand nicht bei; wenn die Elektronen wieder auf ihren alten Ort zurückfallen, werden zum Ausgleich der energetischen Differenz Photonen emittiert, die je nach der Art dieses Quantensprungs eine bestimmte Frequenz aufweisen – und bei der Lymanreihe des Sauerstoffs eben im grünen Bereich des sichtbaren Spektrums. Bei Kometen hingegen leuchtet es grün, wenn die harte Strahlung der Sonne auf zweiatomigen Kohlenstoff trifft, der aus dem Inneren des Kometen ausgast, wenn sich dieser den wärmeren Bereichen des inneren Sonnensystems nähert und die Strahlungsintensität der Sonne mit dem Quadrat der abnehmenden Entfernung ansteigt. Dabei zerfallen die C2-Moleküle rasch – und das ist der Grund, warum sich der Grünstich eines Kometen allein auf seinen Kopf, den Halo, beschränkt und im Schweif nicht zu sehen ist.



Komet C2022 (ZTF) am 27. Januar 2023



Komet C2023 Atlas J87 am 24. Juli 2023



Komet Nishimura. Umlaufbahn

IV.

Im „wirklichen Leben“ kommt ins Grüne changierenden Kometen als keine außergewöhnliche Bedeutung zu – anders als in dem Literaturgenre, das sich als einziges im kosmischen Weiten tummelt, wo es „der grüne Komet“ immerhin zwei Mal zu einem Buchtitel gebracht hat – freilich nur im deutschen Sprachbereich: im Fall der allerersten Buchveröffentlichung des späteren Doyens der deutschsprachigen Science Fiction nach 1945, Herbert W. Franke, der im vergangenen Juli im Alter vor 95 Jahren gestorben ist. „Der grüne Komet,“ als einer der ersten acht Titel in der Reihe von Goldmanns Zukunftsromanen im Herbst 1960 erschienen, war nicht nur die erste Kurzgeschichtensammlung auf diesem Gebiet seit dem Kaiserreich (als Carl Grunert und Kurd Laßwitz sich als Autoren ganz auf diesen Bereich beschränkten), sondern führte auch der Form der „Kürzestgeschichte,“ der Vignette ein, mit einem Umfang von 3 bis 5 Seiten und entweder auf eine Pointe hin gebaut oder den Prosagedichten des französischen Symbolismus nachgeschlagen, wie man sie von Baudelaires „Spleen de Paris“ her kennt. Im englischen Sprachbereich hatte Fredric Brown (1906-1972) diese Skizzenform in den 1940er Jahren geprägt (etwa wenn in einer galaktischen Zukunft ein über die Welten der Milchstraße verteilter Computer konstruiert wird, der nach Inbetriebnahme auf die erste Frage, „Gibt es einen Gott?“ die Antwort liefert: „JETZT gibt es einen!“). Lange Zeit wurden solche Texte auf Englisch als „Short-short story“ bezeichnet; seit einigen Jahren hat sich dafür der Ausdruck „Flash Fiction“ eingebürgert. Im Japanischen gibt es dafür seit Yasunari Kawabata die Bezeichnung „Handtellergeschichten“ (掌の小説, Tenohiro no shosetsu).

Frankes kleiner Band (die insgesamt 65 Skizzen füllen gerade einmal 180 Seiten) war nicht nur so unverhofft aus dem publizistischen Nichts auftaucht wie sein reales Vorbild – auch die Form ergab sich völlig ungeplant. Der Münchner Verleger Wilhelm Goldmann hatte angesichts des beginnenden Weltraumzeitalters entschieden, sein Programm entsprechend auszubauen und um des publizistischen Knalleffekts willen gleich mit acht Titeln auf der Frankfurter Buchmesse in Erscheinung zu treten – und die entsprechenden Druckkapazitäten, vor allen für acht zweifarbig gehaltene Buchumschläge pro Druckbogen, reserviert. Als sich zwei Monate vor dem geplanten Auslieferungstermin herausstellte, daß die Übersetzungsrechte für einen der acht angekauften Titel nicht freigegeben wurden, erinnerte Goldmann sich daran, warum er den studierten Physiker Franke, der in der Presseabteilung der Firma Siemens untergekommen war, mit der Titelauswahl für seine Reihe beauftragt hatte: Franke hatte zwischen 1952 und 1954 einige dieser Texte als Lückenfüller in der Wiener Kulturzeitschrift „Neue Wege“ untergebracht hatte. Gefragt, ob er sich zutrauen würde, in zwei Wochen genügend solcher Texte abfassen zu können, um einen kleinen Band zu füllen, Tat Franke das, was er als angehender Autor mit Selbstvertrauen gar nicht anders konnte: er sagte zu. Franke hat später in Interviews oft beschrieben, wie er während der kommenden Sommerferien die Villa eines Fabrikanten, eines Bekannten seines Verlegers, hütete, im leeren Swimmingpool mit einem Diktaphon im Schatten saß und nur den Kopf über den Rand hob, wenn er die Schritte des Postboten auf dem Rasen hörte. (Ironischerweise erschien exakt im gleichen Monat, im Oktober 1960, der andere Texte des Genres, in dem ein leeres Swimmingpool eine rätselhafte, aber jedem Leser unvergessliche Rolle spielt. J. G. Ballards „The Voices of Time,“ gedruckt in der Nr. 99 des englischen Magazins “New Worlds.”

„Später dachte Powers oft an Whitby und an die seltsamen Furchen, die der Biologe auf dem Boden des leeren Schwimmbeckens gezogen hatte, in scheinbar zufälliger Anordnung. Einen Zoll tief und zwanzig Fuß lang, bildeten sie ein Ideogramm wie ein chinesisches Schriftzeichen, für dessen Fertigstellung er den ganzen Sommer gebraucht hatte, und er hatte offenkundig an nichts anderes gedacht, während er unermüdlich während der langen Wüstennachmittage daran arbeitete.“ („The Voices of Time“)




(Die erste Taschenbuchausgabe von 1964, mit einem etwas schmuckeren Umschlagbild von Eyke Volkmer)

Beim zweiten „grünen Kometen“ der deutschsprachigen SF handelt es sich um den eingangs aufgeführten, der sich in Williamsons Roman als ein Raumschiff entpuppt, dessen Besatzung darauf aus ist, die Erdlinge zu unterwerfen. In der zweiten Übersetzung ins Deutsche durch Andreas Brandhorst, 1984 im Moewig Verlag erschienen, wurde er titelgebend. Die erste Übertragung durch Rainer Eisfeld, die 1959 im Verlag Balowa in Balwe in Westfalen herausgebracht, trug das Buch noch den Titel „Der Geist der Legion.“



(Die Taschenbuchausgabe von 1984. Der Name des Künstlers findet sich nirgendwo angegeben.)

IV.

Ich habe gerade den berühmtesten aller dieser Schweifsterne erwähnt, den Halleyschen Kometen, der alle 75 bis 76 Jahre an unserem Nachthimmel auftaucht. Es dürfte nicht wenige Leser geben, die sich noch an die letzte Passage im Mai 1986 erinnern werden – wenn auch nicht an seine Erscheinung am Himmel, da wir uns vor 37 Jahren in einer ausgesprochen ungünstigen Position befangen und der Komet nur als ein leuchtschwacher Punkt am bereits aufgehellten Morgenhimmel zwischen 5 und 6 Uhr, gute 20 Grad über dem Horizont im Osten, auszumachen war - aber vielleicht doch an die ersten vernebelten Bilder, die die Raumsonde Giotto der ESA vom Kern und dem Halo gefunkt hat. 76 Jahre: das markiert einen Rhythmus, dessen Taktschlag die meisten Menschen nur einmal im Leben erfahren werden. Ernst Jünger hat dem Tagebuch seiner Reise seiner Reise nach Südostasien, die er zur Feier seines 91. Geburtstags zu dieser Zeit unternommen hat, deshalb den Titel „Zwei Mal Halley“ gegeben - weil er den Kometen schon als 15jähriger im elterlichen Garten in Hannover gesehen hatte und sein Vater bei der Gelegenheit bemerkt hatte, daß höchstens sein jüngster Bruder eine Chance haben könnte, ihn im Leben ein zweites Mal sehen zu können. Insofern ist es schon leicht erschreckend, wenn man registriert, daß seitdem die Hälfte dieses Pendelschlags verstrichen ist und auch dieser Komet in diesem Jahr einen Wendepunkt seiner Bahn erreicht: am 9. Dezember 2023 gelangt er in 5,5 Milliarden km Entfernung, im Sternbild Wasserschlange, in die größte Entfernung zur Sonne und beginnt dann, uns wieder näher zu kommen.

In der Tat – Halley stand ebenso deutlich am Himmel zu Rehburg vor sechsundsiebzig Jahren, als ich ihn mit Eltern und Geschwistern gesehn hatte. Damals schien er mir etwas größer, doch ebenso wenig imponierend wie damals – schweiflos, diffus, etwa wie ein Garnknäul. Er stand auch höher - unter dem südlichen Sternbild des Triangulums, mit dem er ein gestrecktes Trapez bildete. (…) Der Vater hielt nicht viel vom Jenseits. Er meinte, daß man in seinen Kindern weiterlebt. Es war wohl in dieser Stimmung, als er sagte, als wir damals beisammenstanden: „Von euch allen wird Wolfgang vielleicht den Kometen noch einmal sehen.“ Wolfgang war unser Jüngster, och auch der erste von uns Geschwistern, der starb. So trete ich für ihn ein.“ (Ernst Jünger, Tagebucheintrag vom 15. April 1986; jetzt in „Strahlungen VI, Sämtliche Werke in 22 Bänden: Tagebücher VII,“ S. 45, 48)


V.

„Nishimura,“ „Hyakutake“ – die nach ihren Entdeckern benannten Kometen könnten den Eindruck erwecken, daß es in Japan eine gar nicht so kleine Schar von Amateurastronomen gibt, die sich der Jagd nach diesen flüchtigen Erscheinungen widmet (daß die meisten dieser Entdeckungen, ob nun durch eigene Beobachtungen am Teleskop oder die Auswertung eigener oder bei Routinedurchmusterungen entstandener Aufnahmen, durch Amateure erfolgt, ist kein Zufall: professionelle Astronomen haben keine jahrelange Muße, sich einer solchen Passion hinzugeben – sie verfolgen entweder konkrete Beobachtungsprogramme zur Datengewinnung oder führen sie im Auftrag anderer Forscher an den Sternwarten durch). Hinzu kommen noch Namen wie Nobuhisa Kojima (*1930-), Toshihiko Ikemura (*1952-), Takeshi Urata (1947-2012) oder Tsuneo Iijima (*1936-). Begonnen hat diese Tradition mit Minoru Honda (1913-1990), der zwischen Oktober 1940 und August 1968 insgesamt 12 Kometen entdeckte (und anschließend zwischen 1970 und 1987 dreizehn Novae). Wie Clyde Tombaugh, über den ich an dieser Stelle vor kurzem als Entdecker des Planeten Pluto geschrieben habe, war Honda als Sohn eines Bauern geboren, entwickelte aber etwas höhere Interessen und übernahm nach dem Krieg die Leitung der 1926 gegründeten Sternwarte Kurashiki in der Präfektur Okayama (als er am 26 August 1990 in Kurashiki starb, hatte er zwei Tage zuvor seine 1453. Beobachtungsnacht protokolliert). International prägte sich diese Koppelung ein, als am 18. September 1963 – vor fast exakt 60 Jahren! - Tsutomi Seki (geb. 1930) und Kaoru Ikeya (geb. 1943) nur eine Viertelstunde getrennt, einen kleinen Nebelflecken achter Größenordnung entdeckten, gut 10 Bogengrad westlich von Alphard, dem hellsten Stern im weitgespannten Sternbild Wasserschlange, der sich pro Tag um gut einen Bogengrad in westlicher Richtung bewegte. Ende Oktober hatte sich der Komet Ikeya-Seki über mehr als -3 mag zu einem der großen Kometen des vorigen Jahrhunderts entwickelt, übertraf die Helligkeit des Vollmonds und blieb bis Anfang Dezember ein nächtlicher Blickfang – just zu der Zeit, als am 22. November in Dallas Präsident Kennedy in Dallas von zwei Kugeln des Kalibers 6,5x55 mm getroffen wurde – und sich somit ausnahmsweise einmal die Feststellung bewahrheitete, die Shakespeare seinem Julius Caesar in den Mund legt, als seine Gattin Calpurnia ihn ihm die warnenden Omina aufzählt, die den Iden des März des Jahres 44. v. Chr vorausgehen: „When beggars die, there are no comets seen. / The heavens themselves blaze forth the death of princes.“ („Kometen sieht man nicht, wenn Bettler sterben. Der Himmel selbst flammt Fürstentod herab“ heißt es in der Übersetzung von Ludwig Tieck und August Wilhelm Schlegel.)



Der 20-cm-Refraktor in der Beobachtungskuppel



Und an diese Verküpfung – „Japan“ plus „Durchmusterung des Nachthimmels mit den Mitteln der klassischen Moderne“ – soll auch die letzte optische Zugabe erinnern: das Gemälde „Frauen, die Sterne betrachtend“ (星をみる女性, Hoshi o miru josei) des Malers Chou Ota (1896-1958). Das Bild aus dem Jahr 1936, mit Farbtusche auf Seide gemalt, Höhe 260 cm, Breite 206 cm, hängt heute im Nationalmuseum für moderne Kunst (国立近代美術館) in Tokio. Ota Chou (太田聴雨), der mit bürgerlichem Namen eigentlich Ota Eikichi hieß, war in Sendai in der Präfektur Miyagi geboren und wurde mit 13 Jahren von Kawabata Gyokusho (1848-1915), einem Maler der traditionellen Shijo-Schule, als Schüler angenommen. Nach dem Krieg wurde er Professor an der Staatlichen Kunsthochschule in Tokio und gehörte zur Jury der Nihon Bijutsu Tenrakai (日本美術展覧会), kurz „Nitten“ (日展) genannt, der jährlich stattfindenden staatlichen Kunstausstellung. Das Teleskop, um das die traditionell in Kimonos gewandeten Sternfreundinnen versammelt sind, ist nicht, wie in einigen Quellen zu lesen ist, von der Firma Carl Zeiss in Jena gefertigt, ähnelt aber in seiner Bauweise frappant den dort konstruierten Refraktoren. Es handelt es sich das erste astronomische Großteleskop aus japanischer Eigenproduktion, 1931 von der Firma Goto (五藤光学研究所, Goto Kogaku Kenkyujo, „optisches Labor Goto“ – heute trägt sie den etwas bekannteren Namen Nikon) angefertigt worden, ein Linsenfernrohr mit 20 cm lichter Öffnung und äquatorialer Montierung, das von seiner Indienststellung Ende 1931 bis zum März 2005 73 Jahre lang ununterbrochen zur Beobachtung und Registrierung von Sonnenflecken diente – unter anderem auch von Hisako Koyama (1916-1997), die ebenfalls als Amateurastronomin begonnen hatte. Nach einem Besuch in Tonichi-Planetarium war sie von der Astronomie fasziniert, mußte aber feststellen, daß das kleine Teleskop im Format 36x60, nicht wie sie beabsichtigt hate, für Mondbeobachtungen ausreichte. Stattdessen verlegte sie sich auf das Studium der Sonnenflecken. Nachdem sie 1944 erste Skizzen von Sonnenflecken Issei Yamamoto (1889-1959), Professor für Astronomie an der Universität von Kyoto, vorgelegt hatte, dem Leiter des japanischen „Orientalischen Astronomischen Gesellschaft,“ verschaffte er ihr zwei Jahre später im Mai 1946 eine reguläre Anstellung am Museum für Wissenschaft in Tokyo, dem heutigen Nationalmuseum für Natur und Wissenschaft, für das das Teleskop gebaut worden war. Bis 1981 fertigte sie damit über 8000 Zeichnungen von Sonnenflecken an – wobei das auf das Zeichenpapier projizierte Bild der Sonnenscheibe mit 30 Zentimetern Durchmesser stets die gleiche Größe beibehielt.



Hisako Koyama, Zeichnung der Sonnenscheibe vom 5. April 1947. Die dargestellte Sonnenfleckengruppe mit der Greenwich-Gruppennummer 14886 ist die größte, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts je beobachtet wurde. Zur Zeit ihrer größten Ausdehnung am 7. Mai 1947 bedeckte sie 6,3 Prozent der sichtbaren Oberfläche oder 18 Milliarden km².



Zeichnung der Sonne vom 13. Dezember 1978.



Chou Ota, „Frauen, die Sterne betrachtend“ (1936). Der Titel des Bildes, 星をみる女性, ist vielleicht tatsächlich eine Anspielung auf Caspar David Friedrichs berühmtes Bild „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“ (1819-1820), das in Japan unter dem Titel 月を眺める二人の男 (Tsuki o nagameru futari no otoko) bekannt ist. Das Gemälde ist das bekannteste des Künstlers. Als Rania, die Königin Jordaniens, Ende April 2023 auf Staatsbesuch in Japan war und das Museum besuchte, meldeten die japanischen Medien ausführlich, daß sie sich vor allem für dieses Bild interessiert hat. 1990 hat die japanische Post es als Motiv für eine 62-Yen-Briefmarke verwendet (der Betrag entspricht in € ungefähr 40 Cent).





Chou Ota, „Impfung“ (種痘), 1934, Farbe und Tusche auf Papier, 119 x 190 cm. Kyoto: Städtisches Museum für Kunst.



(Hisako Koyama am 20-cm-Teleskop, 1951.)

Um (a) bei Thema „Amateurastronomie in Japan“ zu bleiben und (b) ein wenig Einblick in meine Quellensichtungen zu geben: das obenstehende Bild entnehme ich einer kleinen Porträtgalerie in der japanischen Illustrierten „Asahigraph“ (アサヒグラフ), die Anfang 1923 gegründet worden war und im Nachkriegsjapan so etwas wie ein Pendant zum amerikanischen „Life“-Magazin darstellte. In der Ausgabe vom Oktober 1951 stellte das Magazin auf den Seiten 18 und 19 insgesamt 7 „Sternforscher“ vor (so der rechts oben sichtbare Titel „星研究家“ mit dem Untertitel „wir betreiben das als Liebhaberei“) vor, mit ein paar kurzen Zeilen als Selbstvorstellung, in denen Koyama-san berichtet, daß sie während der Verdunkelungen während der Bombardierungen Tokios im Sommer 1944 einen Futon in den elterlichen Garten geschafft habe, um den dunklen Nachthimmel für Beobachtungen nutzen zu können – und sich dafür schweren Tadel eingefangen habe.





(Die vollständige Porträtgalerie. Aufgrund der „umgekehrten Schriftrichtung“ ist die rechte Seite die erste des Beitrags. Zu sehen sind: S. 18: l.o.: Noriji Hukaye, r.u.: Tsuyuro Ebisawa, r.u.: Hisako Koyama – S. 19: R.o: Minoru Honda, r.u.: Kojiro Komaki, l.o.: Keiji Saito, r.u.: Narumaru Kibe.)



Titelbild der Ausgabe der アサヒグラフ vom 3.10.1951. Bei der jungen Dame auf dem Titelbild handelt es sich um die damals 19-jährige Ineko Arima, die in diesem Jahr ihre beiden ersten Filmauftritte hatte, zuerst in der Rolle der Hanazora Sumire im Film „Das Fräulein von Takarazuka“ (寶塚夫人), unter der Regie von Motoyoshi Oda. Ich sollte den Titel besser in den Dativ setzen: das Takarazuka ist eine bis heute bestehende Tanz- und Revuetruppe, die der Direktor der privaten Bahnlinie Tokio-Takarazuka 1913 gegründet hat, um damit eine Touristenattraktion nach dem Vorbild des Pariser Folies Bergères zu schaffen; das Besondere/Pikante an der Takarazuka-Revue bestand darin, daß im Gegensatz zum klassischen Kabuki-Theater, wo sämtliche Rollen von Männern gespielt wurden/werden, hier in den männlichen Rollen Schauspielerinnen auftraten - 男役/Otokyaku, „Männerrollen“ genannt), der am 3. März in den japanischen Kinos anlief – und später im Sommer in Yuzuru Katos Film „Das Lied von Sekira“ (せきれいの曲, Sekirei no kyoku), eine Koproduktion der Studios Sogei und Toho, dessen Leinwandpremiere am 20. Juli stattfand.



Ineko Arima in “Tokio im Zwielicht“ (東京暮色, 1957). Regie: Yasujiro Ozu, dessen Filmen Arima-san ihren bleibenden Ruf als Schauspielerin verdankt. Wer hier eine „Antwort des japanischen Kinos auf Audrey Hepburn“ erkennt, liegt nicht ganz falsch. Allerdings täuscht dieser unschuldige Anblick, weil es sich bei dem Film um ein zutiefst hoffnungslos und verzweifeltes Psychodrama um das Zerbrechen einer Familie handelt, in der die Totalen, mit der die bewegungslose Kamera die Tristesse und Schäbigkeit des schnell wieder hochgezogenen Tokio einfängt, die seelenlose Kälte der Moderne unterstreicht. Wer beim Stichwort „japanisches Kino der Nachkriegszeit“ an Samurai-Schwertkampfepen wie Akira Kurosawas „Die sieben Samurai“ oder „Das Schloß im Spinnwebwald“ denkt oder aber an Gangsterfilme im Yakuza-Milieu wie Kurosawas „Yojimbo,“ der wird überrascht sein, welchen Raum solche hoffnungslos-verzweifelten Porträts des Scheiterns und der existentialistischen Leere dort einnehmen – wie etwa in Kurosawas „Ikiru“ oder „Donzoko“ („Nachtasyl“).



* * *

Fußnoten

[*] Wie es der chronologische Zufall wollte (oder die Programmierer der Matrix) wählte die NASA den Tag 40 Jahre bevor Cochrane am 5. April 2063 um 10 Uhr morgens nach amerikanischer Westküstenzeit die Warp-Grenze durchbrach, nämlich den 5. April 2023, um die Namen der vier Raumfahrer bekannt zu geben, die Ende 2024 zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder den Erdmond (das große Original) umrunden werden.

[**] SF-Leser der älteren Gebührenklasse werden sich daran erinnern, daß ein solcher „zweiter Mond der Erde“ schon auf dem allerersten literarischen Ausflug dorthin mit Anspruch auf technologische und astronomische Korrektheit, nämlich Jules Vernes „Autour de la lune,“ in Buchform erschienen am 13. Januar 1870, seine irritierende Bahn zieht (der Vorgängerroman „De la terre à la lune“ hatte bekanntlich fünf Jahre vorher mit dem Abfeuern der 270 Meter langen Kanone und dem Verschwinden der „Columbiad“ in der niedrigen Wolkendecke über Florida geendet [***]. Dort, eine halbe Stunde, nachdem der Bolide mit einer Geschwindigkeit von 16,5 Kilometern pro Sekunde das monströse Geschützrohr mit seinem Kaliber von 274 Zentimetern verlassen hat, angetrieben von der Explosion von 122 Tonnen Schießbaumwolle und durch die Atmosphärenreibung auf 11 km/s abgebremst worden ist, steht den drei Insassen eine Begegnung der unheimlichen Art bevor.

Au moment où Barbicane allait abandonner la vitre pour procéder au dégagement du hublot opposé, son attention fut attirée par l’approche d’un objet brillant. C’était un disque énorme, dont les colossales dimensions ne pouvaient être appréciées. Sa face tournée vers la Terre s’éclairait vivement. On eût dit une petite Lune qui réfléchissait la lumière de la grande. Elle s’avançait avec une prodigieuse vitesse et paraissait décrire autour de la Terre une orbite qui coupait la trajectoire du projectile. Le mouvement de translation de ce mobile se complétait d’un mouvement de rotation sur lui-même. Il se comportait donc comme tous les corps célestes abandonnés dans l’espace.



("C’était un disque énorme." Ill. von Alphonse de Neuville für die zweite, illustierte Ausgabe des Romans, Paris: Julius Hetzel et Cie., 1872.)

« Eh ! s’écria Michel Ardan, qu’est cela ? Un autre projectile ? »

Barbicane ne répondit pas. L’apparition de ce corps énorme le surprenait et l’inquiétait. Une rencontre était possible, qui aurait eu des résultats déplorables, soit que le projectile fût dévié de sa route, soit qu’un choc, brisant son élan, le précipitât vers la Terre, soit enfin qu’il se vît irrésistiblement entraîné par la puissance attractive de cet astéroïde.

Le président Barbicane avait rapidement saisi les conséquences de ces trois hypothèses qui, d’une façon ou d’une autre, amenaient fatalement l’insuccès de sa tentative. Ses compagnons, muets, regardaient à travers l’espace. L’objet grossissait prodigieusement en s’approchant, et par une certaine illusion d’optique, il semblait que le projectile se précipitât au-devant de lui.

« Mille dieux ! s’écria Michel Ardan, les deux trains vont se rencontrer ! »

Instinctivement, les voyageurs s’étaient rejetés en arrière. Leur épouvante fut extrême, mais elle ne dura pas longtemps, quelques secondes à peine. L’astéroïde passa à plusieurs centaines de mètres du projectile et disparut, non pas tant par la rapidité de sa course, que parce que sa face opposée à la Lune se confondit subitement avec l’obscurité absolue de l’espace.

« Bon voyage ! s’écria Michel Ardan en poussant un soupir de satisfaction. Comment ! l’infini n’est pas assez grand pour qu’un pauvre petit boulet puisse s’y promener sans crainte ! Ah çà ! qu’est-ce que ce globe prétentieux qui a failli nous heurter ?

– Je le sais, répondit Barbicane.

– Parbleu ! tu sais tout.

– C’est, dit Barbicane, un simple bolide, mais un bolide énorme que l’attraction a retenu à l’état de satellite.

– Est-il possible ! s’écria Michel Ardan. La terre a donc deux Lunes comme Neptune ?

– Oui, mon ami, deux Lunes, bien qu’elle passe généralement pour n’en posséder qu’une. Mais cette seconde Lune est si petite et sa vitesse est si grande, que les habitants de la Terre ne peuvent l’apercevoir. C’est en tenant compte de certaines perturbations qu’un astronome français, M. Petit, a su déterminer l’existence de ce second satellite et en calculer les éléments. D’après ses observations, ce bolide accomplirait sa révolution autour de la Terre en trois heures vingt minutes seulement, ce qui implique une vitesse prodigieuse.

– Tous les astronomes, demanda Nicholl, admettent-ils l’existence de ce satellite ?

– Non, répondit Barbicane ; mais si, comme nous, ils s’étaient rencontrés avec lui, ils ne pourraient plus douter. Au fait, j’y pense, ce bolide qui nous eût fort embarrassés en heurtant le projectile permet de préciser notre situation dans l’espace.

– Comment ? dit Ardan.

– Parce que sa distance est connue et, au point où nous l’avons rencontré, nous étions exactement à huit mille cent quarante kilomètres de la surface du globe terrestre.

– Plus de deux mille lieues ! s’écria Michel Ardan. Voilà qui enfonce les trains express de ce globe piteux qu’on appelle la Terre !

– Je le crois bien, répondit Nicholl en consultant son chronomètre, il est onze heures, et nous n’avons quitté le continent américain que depuis treize minutes.

– Treize minutes seulement ? dit Barbicane.

– Oui, répondit Nicholl, et si notre vitesse initiale de onze kilomètres était constante, nous ferions près de dix mille lieues à l’heure ! (Ch. II, „La première demi-heure“)


In dem Augenblick, als Barbicane sich vom Fenster abwenden wollte, um das gegenüberliegende Bullauge zu öffnen, wurde er auf ein hell leuchtendes Objekt aufmerksam, das sich ihnen näherte. Es war eine immense Scheibe, deren Größe sich nicht einschätzen ließ. Die der Erde zugewandte Seite war hell beleuchtet. Man hätte sie für einen kleinen Mond halten können, der das Licht des großen zurückwarf. Sie bewegte sich mit rasender Geschwindigkeit und schien sich auf einer Bahn um die Erde zu bewegen, die die Flugbahn des Geschosses kreuzte. Zu dieser Bewegung kam noch eine Drehbewegung um die eigene Achse hinzu – sie bewegte sich also wie jeder Körper im Weltraum, der sich selbst überlassen ist.

„Oh!“ rief Michel Ardan, „Was ist das? Noch ein Geschoß?“

Barbicane gab keine Antwort. Er war von dem Auftauchen dieses gewaltigen Körpers überrascht und beunruhigt. Ein Zusammenstoß schien möglich, mit verhängnisvollen Folgen – sei es, daß das Geschoß von seinem Kurs abgelenkt würde, sei es, daß der Zusammenprall dazu führen konnte, daß sie zum Stillstand kamen und wieder auf die Erde stürzen würden, oder sie der Anziehungskraft dieses Asteroiden nicht mehr entkommen konnten.

Der Präsident Barbicane hatte unverzüglich die Resultate dieser drei Möglichkeiten überdacht, die allesamt das Ende ihres Unterfangens bedeuten würden. Seine Gefährten blickten einander an, ohne ein Wort zu sagen. Immer größer wurde das Objekt, während es sich näherte, und es sah so aus, als wäre es ihr Geschoß, das darauf zuraste.

„Bei allen Göttern!” rief Michel Ardan. „Die beiden werden zusammenstoßen!“

Unwillkürlich hatten die Reisenden einen Schritt nach hinten getan. Ihre Panik war gewaltig, aber sie dauerte nicht lang – nur wenige Sekunden. Der Asteroid passierte das Geschoß im Abstand von mehreren hundert Metern und verschwand – nicht so sehr wegen seiner immensen Geschwindigkeit, sondern weil seine dunkle, dem Mond zugewandte Seite mit der vollkommenen Schwärze des Weltraum verschmolz.

“Gute Reise!” rief Michel Ardan und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Die ganze Unendlichkeit ist nicht groß genug, damit man sich in einem kleinen Geschoß ungefährdet darin bewegen kann. Was war das für eine dreiste Kugel, die uns da fast gerammt hätte?““

„Ich weiß es,“ antwortete Barbicane.

„Zum Kuckuck! Du weißt ja alles!“

„Das,“ sagte Barbicane, „ist bloß ein Meteor, aber ein Meteor, der sich aufgrund der Schwerkraft wie ein Mond verhält.“

„Kann das sein?“ rief Michael Ardan. „Die Erde hat also zwei Monde – wie der Neptun?“

„Ja, lieber Freund – obwohl es allgemein heißt, daß sie nur einen Mond besitzt. Aber dieser zweite Mond ist so klein und bewegt sich so rasch, daß er von der Erde aus nicht gesehen werden kann. Ein französischer Astronom, Monsieur Petit, hat die Existenz dieses Satelliten anhand von Bahnstörungen nachgewiesen und seine Bahn berechnet. Gemäß seinen Beobachtungen benötigt dieser Satellit für eine Erdumkreisung drei Stunden und zwanzig Minuten – was auf eine gewaltige Geschwindigkeit schließen läßt.“

„Sind alle Astronomen,“ fragte Nicholl, “von der Existenz dieses Mondes überzeugt?“

„Nein,“ antwortete Barbicane. „Aber wenn sie ihm begegnen würden wie wir, wären ihre Zweifel ausgeräumt. Dabei fällt mir ein, daß uns dieser Meteor, mit dem eine Kollision mit unserem Geschoß ziemlich unangenehm geworden wäre, uns sehr hilft, festzustellen, wo wir uns genau befinden.“

„Und wie?“ fragte Ardan.

„Weil seine Entfernung bekannt ist und wir zu dem Zeitpunkt, als wir ihm begegnet sind, uns genau 8140 Kilometer über der Erdoberfläche befunden haben.“

„Mehr als zweitausend Meilen!“ rief Michel Ardan. „Dagegen sind ja die Schnellzüge auf dieser mickrigen Kugel namens Erde reine Bummelzüge!“

„Wohl wahr!“ gab Nicholl zur Antwort, während er auf seine Uhr schaute. „Es ist jetzt 11 Uhr und wir haben Amerika vor 13 Minuten verlassen.“

„Vor dreizehn Minuten erst?“ fragte Barbicane.

„Ja,“ gab Nicholl zur Antwort. „Und wenn wir unsere Anfangsgeschwindigkeit von 11 Kilometern pro Sekunden beibehalten haben, bewegen wir mit beinahe fast zehntausend Meilen pro Stunde.“


Verne greift hier eine Hypothese des französischen Astronomen Frédéric Petit (1810-1865) auf, der seit 1839 an der Sternwarte von Toulouse tätig war und wenige Monate vor seinem Tod die Leitung des Observatoriums übernahm. 1846 gab er bekannt, daß der von ihm postulierte Trabant in dem frühen Abendstunden des 21. März jenes gleichen Jahres von drei Beobachtern gesichtet worden wäre (Lebon und Dassier in Toulouse, Lariviere in Artenac) und gab die Umlaufbahn wie folgt an: Dauer des Umlaufs: 2 (!) Stunden, 44 Minuten und 59 Sekunden, mit einem Apogäum von 3570 Kilometern über der Erdoberfläche und einem erdnächsten Punkt von 11,4 Kilometern. Der Einwand, daß der Luftwiderstand in der Stratosphäre einen solchen Himmelkörper verglühen lassen oder zum Absturz bringen würde, sorgte dafür, daß Petit der Einzige blieb, der von der Existenz dieses Objekts überzeugt blieb. Allerdings hat sich auch M. Verne hier in einigen Punkten geirrt (was einem aufmerksamen Leser allerdings erst 1942 aufgefallen ist) – ein Trabant, ob Mond oder künstlicher Satellit, in der von ihm angegebenen Höhe benötigt für einen Umlauf nicht 3 Stunden und 22 Minuten, sondern 4 Stunden und 50 Minuten. Vernes Columbiad bewegt sich in gerader Linie auf den Mond zu (bzw. auf den Punkt seiner Bahn, den er in 97 Stunden und 20 Minuten erreichen wird), Da der Mond vom zuerst geöffneten Bullauge nicht sichtbar ist, in dem der „Meteor“ auftaucht, muß dieser sich auf einer rückläufigen Umlaufbahn bewegen.

* * *

[***] Fußnote zur Fußnote: Die Parallelen zwischen dem antizipierten Mondflug von 1865 und dem Flug von Apollo 8 genau 103 Jahre später sind durchaus frappierend - wenn man einmal von dem Umstand absieht, daß Verne das Konzept des Raketenstarts für ein solches Unternehmen schlicht nicht zur Verfügung stand, weil eine solche Idee erst nach der Wende zum 20. Jahrhundert entwickelt und durchgerechnet worden ist. Tampa, in dem der Bostoner Gun Club seine Kanone gießen läßt, liegt mit 27°9‘ N auf fast derselben Breite wie Cape Canaveral (28°7‘), nur am Golf von Mexiko statt am Atlantik, 185 Kilometer entfernt; die Route 570 verbindet die beiden Orte fast in direkter Luftlinie. Verne (der fast so sehr an einem Zahlenfetischismus laboriert wie der Protokollant, beziffert die Gesamtkosten seines Mondschusses 1865 auf eine Summe von 5.446.675 US-Dollar; auf die Kaufkraft von 1968 umgerechnet ergibt dies 12,112 Milliarden Dollar; das Apolloprogramm verschlang bis zur ersten Umrundung durch Apollo 8 14,4 Milliarden Dollar. Beide Flüge endeten mit einer Wasserung im Pazifik; der Flug der Columbiad dauerte 242 Stunden – davon 48 in der Mondumlaufbahn, Apollo 8 war 147 Stunden unterwegs, davon 20 Stunden in der Mondumlaufbahn; die Kommandokapsel von Apollo 11 trug den Namen Columbia: Sowohl die Columbiad wie auch die Apollo-Kapseln waren aus Aluminium gefertigt (mit einer Masse von 8.732 Tonnen bei Verne und 11,92 Tonnen im Fall von Apollo); allerdings betrug die Wandstärke der Kapsel bei Verne 30 Zentimeter; realiter belief sie sich auf 0,64 bis 3,81 cm.

(PS. Sämtliche Übersetzungen, mit Ausnahme des Shakespeare-Zitats, gehen auf meine Kappe.)

U.E.

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