1. Januar 2018

"Feu d'artifice": Chryse Planitia, 1. Januar 2100


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„Wenn das alte Jahr mit einer melancholisch rückblickenden Elegie verabschiedet wird, wird das angehende mit Lärm und Ausgelassenheit begrüßt. Auch wenn Lärm an diesem Ort von der Natur gar nicht vorgesehen war."

Ich weiß nicht, wer von uns beiden zuerst auf die Idee verfiel. Es war einer jener Einfälle, die in der Luft liegen, und plötzlich da sind, wie Schneekristalle in der Luft ausfällen.

Es muß im Mai oder Juni 2099 gewesen, ein gutes halbes Erdjahr, eine Mars-Jahreszeit, vor dem kalendarischen Umschlag ins nächste Jahrhundert. Dafür stehen mir die Umstände glasklar vor Augen. Zhaowu hatte mir eine kurze Nachricht geschickt: „Das hier dauert etwas länger und reicht für eine Pause. Bringst du mir etwas zum Essen mit?" Was „das" war, wurde klar, als ich aus dem Verbindungstunnel in den Lowell-Komplex kam (Hydroponik und Gewächshäuser). An der linken Kuppelwand war hinter abgenommenen Wandplatten eine Wasserleitung zu sehen; auf der Werkbank lag der dicke schwarze Zylinder einer Umwälzpumpe. Das gelbe Typenschild wies es als Prototyp der fünften oder sechsten selbstgebackenen Made-on-Mars-Serie aus: gedruckt und gefräst aus den Produkten unserer eigenen Alchemistenküchen, die chemische Spurenlemente der Kohlendioxidsuppe des Atmosphäre filterten und das lokale Gestein schmolzen, auftrennten, chemisch diffundierten und Mikrogramm für Mikrogramm anhäuften. Living off the land: einer der Gründe, mit denen sich der Betrieb von mittlerweile einem halben Dutzend beständig besetzten Außenposten auf dem roten Planeten vor den Budgetwächtern daheim rechtfertigen ließ.

Zhaowu klemmte gerade eine Datenleitung an. „Das Ding ist gestern abgeraucht. Mit externer Versorgung läuft es; allerdings ziemlich widerwillig. Ich vermute, daß der interne Notantrieb anderer Meinung ist. Halt lieber Abstand." Er setzte sich neben mich in einen der unvermeidbar so getauften Notsessel, die bei einem plötzlichen Druckabfall wie ein Kokon um die Insassen schließen sollen, falls die Sitzfläche ein Gewicht registriert. Wie wir alle war er Ingenieur, Gärtner und Passepartout in einem; der nominellen Profession nach war er Geologe aus Passion; seine Wohnkapsel war rundum tapeziert mit Bildern der Schwarzen Raucher der Lost City drei Kilometer unter dem Wellengang des Atlantiks, Satellitenaufnahmen der Vulkanketten Kamtschatkas, der Fjorde Patagonien, wo die Südspitze Südamerikas den heraufreichenden Finger der antarktischen Halbinsel grüßt wie ein geologisches Pendant zu Leonardos Fresko an der Decke der Sixtinischen Kapelle - auf dem der Weltschöpfer sein Geschöpf grüßt -, von den Göttern mit Lava und Feuer in die Oberfläche des dritten Planeten des Sonnensystems geschrieben. Wenn er sich seiner Profession widmete, oblag es ihm, die weitere Umgebung der Station nach möglichen Depositen benötigter Minerale zu sondieren. Keine leichte Aufgabe auf einem Planeten, der nie eine Plattentektonik besessen hat, die auf der Erde zum Entstehen der meisten Minerallager gesorgt hat, und dessen letzte geologische Aktivität vor dreieinhalb Milliarden Jahren zum Stillstand gekommen ist. Seine Hauptaufgabe bestand im Lokalisieren der Permafrostschichten, in denen Wasseranteil der frühen Flachmeere des Mars gespeichert ist, er nicht nach dem Verflüchtigen der ursprünglich dichten Atomsphäre in den Weltraum verdunstete. Für einen Geologen ist selbst eine Geröllhalde ein berauschender Abenteuerspielplatz; als diese Götter den Mars schufen, müssen sie das für die zukünftigen Geologen getan haben.

Mit einem vernehmbaren Klicken lief die Pumpe an ... es schlug um in ein jäh ins Crescendo aufschießendes metallisches Randalieren, die Agonie schleifenden und sich festfressenden Metalls. Hastig schaltete er die Pumpe aus, und in die benehmende Stille sagte ich: „Hört sich an, als ob in China zu Neujahr die bösen Geister und Dämonen vertrieben werden." Wir sahen uns beide an, den gleichen Gedanken hinter der Stirn, und sagten wie aus einem Mund: „Feuerwerk!"

*     *     *
Die vage Idee, irgendetwas auf die Beine zu stellen, um den demnächst anstehenden, weit voraus liegenden Jahrhundertwechsel auf irgendeine Weise zu markieren, war zwischen uns kurz erwähnt und sofort wieder vergessen worden; zumeist wenn wir uns bei einer Partie Xiangqi gegenübersaßen; die Tatsache, daß ich schon bei meiner Ankunft vor drei Jahren in der Lage war zu spielen, hatte uns nähergebracht. Am meinem ersten Abend auf dem Roten Planeten hatte er mir in der Kantine, geheimisvoll tuend, die flachen roten Spielsteine mit ihren schwarzen und weißen Zeichen präsentiert, die er aus den Lavaablagerungen der Vulkane der Tharsisregion im Westen gefräst hatte: „ein uraltes Spiel, aus dem verschollenen Grab der ausgestorbenen Seekönige des Mars!" - „Kann nicht sein. Soweit ich weiß, haben die nur Jetan gespielt." Das verständnislose Kopfschütteln anegsichts unseres schallenden Gelächters ringsum zeigte uns, daß wir beide auf der gleichen Wellenlänge unterwegs waren.
Die Ausarbeitung der Details unseres "terroristischen Projekts," wie wir es sofort nannten, erwies sich als sowohl von lächerlicher Simplizität wie auch als verzweifelnd vertrackt - und darin der Lösung der meisten wissenschaftlichen Probleme vergleichbar. Von „Genehmigung" konnte natürlich keine Rede sein. Weder einer unserer Kollegen noch Houston hätten einem solchen Wahnsinnsprojekt ihr Plazet gegeben. Allein das Wort „Feuer" hätte bei ihnen sämtliche geistigen Durchgangsluken zuschlagen lassen und die Sprinkleranlagen in Gang gesetzt. Nichts ist in der Raumfahrt - und der Aufenthalt auf dem Mars zählt, ungeachtet seiner Schwerkraft, aufgrund seiner lebensfeindlichen Oberfläche und der umgefilterten Sonnenstrahlung, dazu - so gefürchtet wie offenes Feuer: die von den antiken Science Fiction-Autoren angeführte Überlegung, daß Flammen sofort von selbst ersticken, weil sie das Kohlendioxid ihrer Verbrennung wie einen Nebel um sich legen, hat sich im Lauf von mehr als 130 Jahren zu oft als Trugschluß erwiesen: in jedem Raumfahrzeug wird die Luft beständig umgewälzt, so daß immer ein leichter Luftzug geht; zudem ziehen Schwelbrände gern den nötigen Sauerstoff aus allem, was sich anbietet, einschließlich Kunststoffen. Kabelbrände haben mit unschöner Regelmäßigkeit zu ebenso unschönen Krisensituationen geführt. Auf dem Mars sorgt das Drittel der Erdgravitation zwar wenigstens dafür, daß sich Flammen sichtbar bemerkbar machen, weil die Luft aufsteigt und einen Kamineffekt erzeugt, aber ihre Beliebtheit hat das nicht gesteigert.
Es war für uns von vornherein ausgeschlossen, irgendein internes Tischfeuerwerk in Szene zu setzen. Einige leuchtende Kugeln, eine Handvoll Sternkaskaden am Nachthimmel: keiner brauchte mehr als eine Sekunde, um das als Ziel zu nehmen. Daß wir uns damit Ärger einhandeln würden, war klar; ebenso, daß wirkliche Disziplinierung nicht möglich war; die eisernen Gesetze der Orbitalmechanik schlossen aus, daß man uns unehrenhaft frühzeitig nach Haus schickte, und den Gesichtsverlust sollte eine erfolgreiche Durchführung wettmachen. Ingenieure haben in dieser Hinsicht einiges auf dem Kerbholz, angefangen mit Charles Parsons Turbinia, die dem diamantenen Thronjubiläum Königin Viktorias die Schau stahl. Und zudem, meinte Zhaowu, „erleben wir nur einmal Jahrhundertwechsel, solange sich unsere Telomere bei jeder Zellteilung weiter aufriefeln."
Die Befürchtung, das Unterfangen sei aufgrund des Fehlens von Sauerstoff in der Marsatmosphäre von vornherein zum Scheitern veruteilt, erwies sich als unbegründet. „Die Dinger" - gemeint waren jetzt einzelnen Leuchtkugeln - „haben ihre eigenen Oxydanten an Bord. Das ist unsere geringste Sorge." Ein kurzer Überschlag ergab, daß wir uns aus den Vorräten, die unsere neuzeitlichen Alembiks und Retorten Tag für Tag aus den Vorräten des Mars zusammenkochten, für unser in bescheidenen Dimensionen geplantes Pioniervorhaben ausreichend würden bedienen können. Die Materialbewirtschaftung der Basen ist, wo es nur geht, auf Überschußproduktion eingerichtet; das mittelfristige Ziel ist es, neue Basen allein aus den verfügbaren Ressourcen errichten und betreiben zu können und vom Heimatplaneten unabhängig zu sein. Der Mensch soll der kleinste entnehmende Faktor sein, nicht der dominierende. Irdische Betrachter haben sich aus den Übertragungen längst daran gewöhnt, daß der Großteil der Möbel aus Holz und Bambus aus unseren Gewächshäusern gefertigt ist, die wie unsere Wohnkuppeln unter drei Metern aufgeschüttetem Marsboden vor der harten, ungefilterten UV-Strahlung der Sonne geschützt sind und ohne Unterbrechung im Licht zahlloser LED-Batterien gebadet sind, die ihren Strom aus den Laufwellen-Reaktoren außerhalb des Kuppelkomplexes beziehen. 
Unser Pionierstatus kam uns zugute. Solange hier nicht zu offensichtlich Schindluder getrieben wurde (uns war bewußt, daß wir diese Grenze mit unserem Vorhaben weit überschritten), kümmerte der Nebenverbrauch dieser Materialien zum Zweck des hoffnungsvollen Experimentierens niemanden in ernsthafter Weise. Eine neue Betonmixtur, ein Mineraladditiv in einem isolierten Pflanzkübel... Resultate waren das, was zählte. Und unser Materialbedarf hielt sich etwa gegenüber neuen Wegbelägen in schroffen Grenzen, die verhinderten, daß bei jedem Ausflug durch die Luftschleusen mehr als unvermeidbar an Marsstaub hineingetragen wurde, der in Jahrmilliarden zu einer Nanopartikelgröße zerrieben worden war, der irdischen „Feinstaub" als rechtes Geröll erscheinen ließ, aufgrund seiner Hydrophilie einen überaus anhänglichen Schmier bildete und sich gern alles verklebend ansammelte. (Der Pumpenausfall erwies sich übrigens als weitere Kobolderei der демоны пыли, der Staubdämonen: das Aluminium der Innenverkleidung hatte sich als veritabler Schwamm für Wasserstoffmoleküle erwiesen, und vor allem die Schwefelanteile des eingetragenen Marsstaubs hatten über Säurebildung die Schaufeln der Pumpe so spröde werden lassen, daß sie sich irgendwann unter Last zerlegten und eine Trümmerkaskade im Inneren hinterließen).
Zum Starten konnten wir auf bewährte Feststoff-Treibmischungen zurückgreifen; als Sauerstofflieferanten für die Reaktion entschieden wir uns für Perchlorate; Chlorate haben zwar den Vorteil, mehr Uuuumpf! zu liefern, schieden aber wegen ihrer risikoreichen Reaktionsfreudigkeit aus. Es gibt Gründe, warum man im Bergbau von der Verwendung von Nitroglizerin als Sprengmittel abgekommen ist. Als Treibmittel wählten wir das schlichteste und am leichtesten zu erzeugende Mittel: Holzkohle. Bei der Reaktion gibt das Treibmittel Elektronen an den Oxydanten ab; als Folge verliert dieser Atome, vor allem eben Sauerstoffatome, die mit denen des Reduktanten reagieren; das Produkt dieser Reaktion ist stabil, hat aber weniger Bindungsenergie als die Komponenten; die freigesetzte Energie sorgt für das hübsche, wenn auch kurzfristige Leuchten. Schwefel bildet einen ausgezeichneten Reduktanten in irdischen Feuerwerkskörpern; bei uns war es das Gleiche.
Metallzusätze waren dazu gedacht, unseren momentanen Kunststernen Farbe zu verleihen: Strontium fürs Rot, Barium für Grün, Sodium für Gelb („Das gleiche Prinzip wie in farbigen Leuchtstoffröhren" - „Sicher, und wie bei Polarlichtern." - „Sollten wir uns nicht als nächstes Polarlichter vornehmen?" - „Gute Idee. Wie verschaffen wir dem Mars ein Magnetfeld?"), Kalzium für ein leuchtendes Orange. Für die letzte Kugel hatten wir in gleichen Teilen Strontium mit Kupfer gemischt, um einen kardinalfarbenen Schlußakkord in Violett zu setzen.
Am einfachsten erwies sich die Suche nach einem Bindemittel, um unsere Globuli am Zerfall zu hindern. Zhaowu mußte herzhaft lachen, als er die chemische Zusammensetzung aufrief: Dextrine. „Ja, und? Etwas besonders Triviales?" Er nickte nur und schaltete die Bilder der Videoüberwachung unserer Weizen- und Kartoffelkulturen auf den Monitor: „Stärke."
Der Zeitpunkt unseres Unterfangens war ebenfalls von Anfang an klar: Mitternacht lokaler Zeit, über der „goldenen Ebene", weggewandt vom Zentralgestirn. Nicht zum Jahreswechsel in Houston, nicht nach der universellen Zeit, in der die Astronomen messen. Irgendwo ist immer Mitternacht auf Erden (in diesem Fall erwies es sich das Zusammenfallen für beide Lokalitäten als der westliche Pazifik). Dies war unsere Show; und ein paar Leuchtkugeln am lachsfarbenen Taghimmel des Mars hätten unserem Streich jegliche Wirkung genommen. Natürlich hätte es niemand zuhause, selbst mit den stärksten Teleskopen in der Umlaufbahn, betrachten können. Mars war zum Jahreswechsel Abendstern und ging um Mitternacht unter; von Terra aus befanden wir uns zur betreffenden Zeit auf der Rückseite (nicht, daß wir vorgehabt hätten, eine Lightshow in einer Größenordnung abzuziehen, die überhaupt bemerkbar gewesen wäre). Es lag eine gewisse Ironie darin, daß, als vor einhundertfünfzig Jahren die ersten Berichte über "Fliegende Untertassen" durch die Medien der Weltpresse geisterten, in genau der selben Weise überschlagen worden war, ob die Explosionen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki vom Mars aus sichtbar gewesen wären (sie waren aus dem gleichen Grund unsichtbar), und ob nicht eine besorgte Superzivilisation deswegen Kundschafter vorbeigeschickt hätte.
Wie es sich für eine Probearbeit gehört, entschieden wir uns für die Schlichtheit der ästhetischen Reduktion. Keine leuchtenden Lettern, gestaffelten Schirme, changierende Farben (der Wechsel der chemischen Reaktion während der Verbrennung schien uns einen unnötigen Vorlauf an heimlichen Proben in den Hügeln südlich der Station zu erfordern, wo wir in den drei Monaten der heißen Vorbereitungsphase immer wieder unsere Pellets zündeten und Feststoffsätze im flachen Bogen in Richtung Äquator schossen, um, verborgen hinter dem nahen Horizont des Mars, einer zufälligen Entdeckung zu entgehen. Die Geheimhaltung und die immergleichen kurzen Probeläufe führten unweigerlich dazu, daß wir unser Testgelände nach dem amerikanischen Raketenpionier „Goddard Range" nannten.)  Vier Staffeln zu je einem halben bis einem ganzen Dutzend Leuchtkörpern; als pièce de résistance die schon erwähnte Kardinalskugel; all dies in Höhen zwischen zwei und drei Kilometern ablaufend, nicht direkt über unsren Köpfen, aber doch in einem hohen Winkel am Nachthimmel aufstiebend. Und schon gar nicht wie in jener uralten Erzählung, die Zhaowu aus den Tiefen des elektronischen Weltgedächtnisses fischte (die Lichtlaufzeit von aktuell sechzehn Minuten zwischen Mars und Erde hat dazu geführt, daß Suchanfragen sorgfältig formuliert werden müssen und man es sich angewöhnt, daß man auf die Antwort auch gern einen halben Tag warten kann): in dieser antiken Story wurde per Feuerwerk ein „Basilisk" an den Himmel hoch über der irdischen Atmosphäre (in diesem Fall den Singapurs und der ganzen östlichen Hemisphäre) geschrieben, ein so hypothetisches wie hypnotisches komplexes Muster, daß zu einer Überladung des menschlichen Sehzentrums kam beim Versuch des Hirns, dieses Muster zu verarbeiten - und das mithin zur sofortigen Erblindung aller Betrachter führte. Immerhin strich der Autor hier die völlige Lautlosigkeit des Geschehens heraus. Das Auseinanderstieben der Leuchtsterne würde durch die Marsatmosphäre nicht merkbar gebremst werden; die Schwerkraft würde ihnen eine Parabelbahn verleihen; auch das sparte uns einiges an Treibstoff; wir hatten eine Brenndauer von zehn Sekunden kalkuliert; bei der Falldauer zwischen zweiundreißig und vierzig Sekunden bis zum Aufplumpsen auf dem Marssand sollte uns eine ausreichende Sicherheitsmarge bieten.

*    *    *
Für die Donnerstagnacht der Jahrhundertwende waren wir nicht draußen vor der Türe, auf dem „goldenen Feld", um nach unseren Schäflein zu sehen. Die Batterien unserer Tonröhren standen ausgerichtet und beladen auf Goddard Range bereit, die Zähler liefen im Sekundentakt rückwärts („'t minus one' - manchmal habe ich das Gefühl, Programmierer schreiben seit Errichtung der Pyramiden denselben Code"). Die meisten der drei Dutzend wackeren Pioniere der Station hatten dringende Arbeit aufgetan, um der wie immer aufgezwungen wirkenden Festatmosphäre zu entgehen; der Mars eignet sich so wenig zum Feiern wie eine Südpolstation. Um Mitternacht würde der Rest sich um ein Logo geschart, ein Bild heimwärts senden und Commander Barbara (despektierlich „Barbarella" genannt) Hoskins ein paar bemühte Phrasen über die Triumphe des menschlichen Ingeniums, die Wohltaten der freien Marktwirtschaft, die solches ermöglichte (jedem war klar, daß unser Grenzerdasein dem genau nichts zu verdanken hatte), von alten Menschheitsträumen, und so fort, aufsagen. („Die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber sie kann es sich nicht leisten, ihre Eier immer wieder in die gleiche Wiege zu legen. Wetten wir?" - „Schon gewonnen, Gospodin Ziolkowski.") Und ähnliche Phrasen würden, eine Viertelstunde im Hauptquartier vorher auf den Weg gebracht, bei uns eintreffen. In fünf Wochen würde das nächste Marsjahr beginnen: die Astronomen beginnen ihre Zählung, wie so viele alte Völker auf dem Heimatplaneten, mit der Frühlings-Tag-und-Nachtgleiche. Aber ein Marskalender ist noch nie in Betracht gezogen worden: allein die lokale Zeit gibt des Tagestakt vor, so daß sich unsere Tag alle 24 Stunden um eine halbe Stunde gegenüber der Heimatbasis verschiebt. Der Körper gewöhnt sich ohne Aufhebens an einen Tag, der dreißig Minuten länger andauert. ("Das ist eine evolutive Absicherung für die Zukunft. Wenn der Mond die Erdrotation weiter abbremst, kommt uns das gut zupaß." "Meinst du?" "Klar doch. Als der Mechanismus der zirkadischen Körperrhythmen entstand, betrug die Taglänge nur einundzwanzig Stunden.") 
Wir hatten richtig kalkuliert (das heißt: wir brauchten nicht zu kalkulieren: wir hatten es vor Monaten im Stationsmanifest nachgeschlagen): schon um der Außenwirkung war die kleine Feierstunde in die Kupola verlegt worden, mit ihren breiten und hohen Fensterfronten, hinter denen sich die brettflachen, jetzt nachtschwarzen Ebenen von Chryse Planitia rundum bis zum vier Kilometer entfernten Marshorizont erstreckten - mit Ausnahme der leicht aufsteigenden Hügel direkt im Süden. Jupiter stand am Osthimmel, Saturn im Westen, und von den kleinen Monden des Mars, Deimos und Phobos, war wie üblich nichts zu sehen (nicht, daß Phobos bei einem Längengrad von fünfundzwanzig Grad nördlich des Marsäquators überhaupt höher als zehn Grad aufsteigt). 
Wir saßen seitab, an einem Tisch, von dem aus wir einen guten Blick nach Süden hatten. Zwischen uns wurde die ewige Schlacht geschlagen, Zug um Zug, nur, vielleicht verständlicherweise, in einer unagemessen unkonzentrierten Form. Zhaowu hatte einen Elefanten gezogen, so daß sein General von seinem Feldherrnhügel den meinen mit seinem giftigen Blick ins Fernschach setzte (ah ja: der Basiliskenblick), so daß ich mich gezwungen sah, mit einer Kanone dazwischenzugehen, weil meine beiden Mandarine meinen General deckten, so daß kein schlagender gegnerischer Krieger hinter ihm aufsetzen konnten - was mich nicht nur einen Zug kostete, sondern meine sorgsam (oder, den Umständen entsprechend, fahrig) geplante Attacke in Trümmer schoß. „The best-laid plans of mice and men..." Die Beleuchtung war, außer einer kleinen Insel aus Licht mit Barbarella im Zentrum, fast ganz herabgedimmt, um vor den zwanzig Zentimeter starken Panoramascheiben ein paar Sterne sichtbar werden zu lassen anstatt einen dunklen Spiegel, in dem unsere Bar ortlos schwebte.
Wir bemühten uns, das plötzlich aufklingende „Ah" und „Oh", das verständlicherweise leicht ins Alarmierte lappte, zu ignorieren. Wir hatten die Timer auf eine Minute nach lokaler Mitternacht eingestellt, um das Überraschungsmoment zu erhöhen, und um die Stille auszunutzen, nachdem Barbarella rechtzeitig ihre Wortspende beendet hatte. Der Effekt war keineswegs so glorios, wie wir es uns ausgemalt hatten. Aber auf dem Mars zählt schon wenig: ein paar mikrospokische Flechten würden als momumentaler Nachweis für außerirdisches Leben durchgehen; Milligrammschwere Gesteinsproben können ganze Theoriegebäude über die Vergangenheit des Roten Planeten zum Einsturz bringen; winzige Rinnsale unterkühlter Salzlake gelten als „freifließendes Wasser". Und ein paar Leuchtkugeln sind ein nie gesehenes Feuerwerk.
In diesem Moment wurde die Kuppel in gleißendes Licht getaucht, als die Notbeleuchtung ansprang; ein Klaxon verkündete Alarm, daß es selbst Tote aufgewckt hätte; auf dem wandgroßen Monitor in der nördlichen Zugangswand pulsierte es im Halbsekundentakt rot; das Bild der Kamera zeigte Chaos, Flammen, Schwaden von Rauch und Ruß, eine benehmende Nebelflut, einen expandierenden Feuerball wie eine wabernde Blase... „Was ist das?" „WO ist das?" Uns beiden, die wir starr von Schrecken dasaßen, war es vielleicht zuerst klar: "DAS" war der neueste Großtank, in den letzten zwei Monaten südlich der Station niedergelegt und hochgezogen von Baurobotern, aus lokalen Materialien gedruckt, eine Außenhaut aus Aluminium von gerade einmal Millimeterstärke, kaum über den Boden ragend. Wir waren oft genug an den Tag und Nacht geschäftigen Karren und Greifkränen vorbeigekommen. Da nichts Lebendes darin wohnen würde, erübrigte sich die Überdeckung mit Marssand, was wiederum eine Reduktion der Wandstärke aufs Notwendigste möglich machte. An sich, nach unserem Dafürhalten, hätte dieser Tank noch vollständig entleert sein sollen, erste Dichtigkeitsprüfungen waren für den Jahresbeginn gelistet. Uns wurde schlagartig klar, daß hier ein Fall des „Auf dem Mars ist alles auf Überproduktion optimiert" vorlag. Offensichtlich war überschüssiger Sauerstoff, anstatt ihn nutzlos abzulassen, aus Prinzip gespeichert worden - für alle Fälle. Und dessen Produktion konnte sich der Aufbereitung der Aushubs für den Tank verdanken, oder der Steigerung des Pflanzenwuchses, oder hundert und einem anderen Grund.
Was dieses Feuerwerk gezündet hatte, war uns ebenfalls sofort klar; freilich nicht, welcher Faktor zu diesem Ausgang geführt hatte. Zhaowu aktivierte die Dekryptierung des Videostreams der Kameras, die wir auf Goddard Range nach Norden auf das Firmament ausgerichtet hatten. Die letzten zwanzig Sekunden ließen keinen Zweifel offen: Einer der Sterne, die ihre Einzelkomponenten vom Startstab wegschossen, hatten dabei - actio=reactio -  die letzten beiden innenliegenen Kugeln, die wir an die Spitze plaziert hatten, zusammengedrückt und verbacken lassen; als gemächlich rotierendes Sphäroid war es immer noch fröhlich schwelend bis zum Boden gefallen, hatte in hüpfenden Bewegungen seine Bewegungsenergie abgegeben - bis die Schweißnähte des Tankdachs sie bremste und sich das glühende Relikt durch die dünne Folie fraß; mit genügend restlichem Vorrat an Reaktionsmaterial und genügender Hitze, um eine beeindruckende Kaskade auszulösen.
Nein: offiziell hat es diesen Vorgang nicht gegeben, das stimmt. Was hingegen stimmt, ist, daß ein Schweißroboter aufgrund eines Programmierfehlers diese Explosion auslöste - was das Prinzip bestätigt, daß wir auf dem Mars alles richtig machen und selbst solche Fehler keinen großen Rückschlag darstellen. Ja, und die lückenlose Überwachung aller Außeneinsätze durch fahrende Drohnen war ein Nebengedanke infolge dieser glücklicherweise glimpflich verlaufenen Episode, zur weiteren Erhöhung der Sicherheit.

Worauf ich aber hinauswill: Wir hatten uns ja darauf eingestellt, daß ein Feuerwerk, im Vakuum abgehalten - und die Marsatmosphäre, die nur ein Hundertstel der Dichte der irdischen aufweist, kommt dem schon recht nahe - eine lautlose Angelegenheit darstellen sollte: wie der alte Spruch lautet: „in space, no one can hear you scream." Bei diesem Feuerwerk, das schwören nicht nur die Urheber, sondern auch viele der unbeteiligten Zeugen, war der Lärm, zwar gedämpft, aber deutlich wahrnehmbar, als ein fernes Grollen und Stampfen hörbar. Glauben Sie bitte also nicht alles, was ihnen „alte Weltraumhasen" an Münchhausenerzählungen von fernen Welten auftischen.


Ulrich Elkmann

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