1. September 2017

Pluralismus

Am Sonntag ist es soweit: Das staatliche Fernsehen erfüllt einen zentralen Teil seiner Informationspflicht und gibt den Bürgern die Möglichkeit, sich umfassend auf die Bundestagswahl vorzubereiten. Das bedeutet, daß die Vorsitzende der einen Regierungspartei und der Vorsitzende der anderen Regierungspartei ihre politische Weltsicht darlegen. Vertreter der Opposition sind nicht zugelassen.

Das klingt nach einer "lupenreinen Demokratie" in irgendeinem obskuren Teil der Welt, ist aber inzwischen journalistische Praxis in Deutschland. Wobei man am Sonntag eigentlich keinen Journalismus erwarten darf - erfahrungsgemäß traut sich keiner der "Moderatoren", das übliche inhaltslose Geschwurbel der Amtsinhaberin durch kritische Nachfragen zu präzisieren. Vom Juniorpartner der Koalition wird ohnehin wenig erwartet.

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Das einzige journalistisch sinnvolle Format für solche Wahlsendungen wäre natürlich die "Elefantenrunde", wie sie früher vor jeder Bundestagswahl üblich war. In Deutschland wird in erster Linie das Parlament gewählt, die Bestimmung des Kanzlers geschieht anschließend und nur indirekt. Und für die Zusammensetzung des Parlaments sind die Parteien und ihre Listen wesentlich.
Gerade bei der aktuellen Wahl ist die Kanzlerfrage ziemlich nebensächlich. Es geht darum, welche Koalition nach dem September regieren wird. Interessant ist also nur der Vergleich der relevanten sechs Parteien.

Natürlich hat ein Kanzler selten Interesse daran, sich kritischen Fragen zu stellen oder öffentlich den Widerspruch anderer Parteivertreter aushalten zu müssen. Aber schon Kiesinger mußte sich dem öffentlichen Druck beugen und zu einer (noch recht rudimentären) Elefantenrunde antreten. Willy Brandt wagte dann mehr Demokratie und wies zu Recht darauf hin, daß es nicht um eine Kanzler-, sondern eine Bundestagswahl ginge. Seit Brandt waren die Elefantenrunden DAS Ereignis vor jeder Bundestagswahl.

Kohl war dann nicht mehr bereit, als Kanzler mitzudiskutieren. Aber die Redaktionen von ARD und ZDF besaßen genug journalistisches Selbstbewußtsein, um die Diskussion trotzdem durchzuführen. Die CDU mußte eben dann einen anderen Vertreter schicken.

Erst unter Gerhard Schröder war dann das journalistische Ethos der Sender schon so demoliert, daß sie seiner Forderung nach einem reinen "Duell" nachgaben. Gegen den Unionskandidaten Stoiber traute sich Schröder noch einen Erfolg zu, aber gegen die rhetorisch deutlich überlegenen Spitzenkandidaten Guido Westerwelle und Joschka Fischer wollte er lieber nicht antreten.
Da Schröders Nachfolgerin noch deutlich schwächer im Debattieren war, gab es seit 2002 dann die Struktur eines "Duells" zwischen Union und SPD und eines "Dreikampfs" zwischen den damals drei relevanten kleineren Parteien.

Dieses Jahr ist nun der letzte Rest journalistischen Selbstverständnisses bei den Staatssendern verschwunden. Das "Duell" wird nach den Vorgaben des Kanzleramts gestaltet und ist wegen der Ungleichgewichtigkeit der Teilnehmer und des unkritischen Formats nur noch eine Farce.
Einen Tag darauf dürfen dann noch Linke, Grüne und CSU ins Studio, FDP und AfD finden nicht statt. Das ist schlicht lächerlich.

Die Bundestagswahl ist die wichtigste demokratische Entscheidung in Deutschland. Da ARD/ZDF hier inzwischen so krass versagen, stellt das ihre Existenzberechtigung als "Grundversorgung" sowie die "Demokratieabgabe" in Frage.

R.A.

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