31. Mai 2012

Marginalie: Zur Einstimmung in die Zeit der Fußball-EM eine Meldung und ein Gedicht mit einem Porträt

Die Meldung kann man aktuell in "Spiegel-Online" lesen: Die Spieler der Fußball-Nationalmannschaft reden ihren Trainer Löw (fast alle) mit "Sie" an. Löw hingegen duzt seine Spieler.

Ist das nicht bemerkenswert?

Über das Duzen und das Siezen wird ja in unserer Zeit mit ihrem gesellschaftlichen Wandel viel geredet und geschrieben. Auch ich habe das Thema immer wieder einmal behandelt, zuletzt im Zusammenhang damit, daß ausgerechnet in Schweden, dem Land der allgemeinen Duzerei, eine dem deutschen Siezen entsprechende, höfliche Form der Anrede wieder Boden gewinnt (In Schweden wird wieder gesiezt. Pragmatik. Über die Fragwürdigkeit einer allgemeinen Duzerei; ZR vom 14. 2. 2012).

Aber das ist das symmetrische Siezen. Man siezt "einander"; so wie man einander das Du anbietet. Daneben gibt es das asymmetrische Siezen und Duzen. Der Erwachsene duzt das Kind, aber dieses darf nicht zurückduzen.

Ich weiß nicht, ob das heute noch so ist: Zu meiner Schulzeit war genau geregelt, ab wann auch die Schüler zu siezen waren; nämlich ab der Obersekunda. Vor den Osterferien war man noch geduzt worden. Dann betrat mit Beginn des neuen Schuljahrs derselbe Lehrer dieselbe Klasse und siezte alle; manchmal verbunden mit dem Vornamen, manchmal mit dem Nachnamen, das hielten die Lehrer verschieden.

"Oliver, kommen Sie nach vorn" also; oder "Huber, setzen Sie sich". Ohne "Herr" im letzteren Fall. Das war der Rest, der an Asymmetrie blieb; denn den Lehrer hatte man natürlich mit "Herr Schulze" anzureden, nicht mit "Schulze". Oder - das taten die Schleimer - mit "Herr Oberstudienrat".

Kinder und Erwachsene - das also ist in Deutschland die Domäne des asymmetrischen Duzens; welches endet, sobald aus dem Kind ein Erwachsener geworden ist.

Ja, aber sind die Spieler der Nationalmannschaft denn nicht einigermaßen erwachsene Männer? Volljährig allesamt; mit einem Einkommen, das einen von ihnen kürzlich sogar auf die Titelseite des "Spiegel" gebracht hat; als einer von zwölf Deutschen zur Illustration des Themas "Deutschland - deine Reichen".

Dieser Bastian Schweinsteiger also, einer der Reichen Deutschlands - mit einem selbst erarbeiteten Reichtum, wohlgemerkt, kein Erbe - wird von dem Trainer Löw geduzt, siezt diesen aber. Finden Sie das nicht auch eigenartig? Man stelle sich vor, Schweinsteiger wäre ein reicher Jungunternehmer und Löw sein Fitnesstrainer. Den er siezt, während dieser ihn duzt.



Ich kann mich an dieses asymmetrische Duzen unter Erwachsenen eigentlich nur aus dem Fernsehen erinnern, und dort ist es schon ein paar Jahrzehnte her: In Krimis wie "Der Kommissar"; ich habe darüber einmal etwas in der Serie "Wir Achtundsechziger" geschrieben (Wir Achtundsechziger (5): Wie lebte man damals eigentlich? Eine Empfehlung, das auf spannende Weise zu erkunden. Nebst einer Erinnerung an Adorno; ZR vom 29. 4. 2008). Dort siezten die Untergebenen ihren jeweiligen Kommissar, und dieser duzte sie.

Gute alte Zeit; patriarchalische Verhältnisse. Unter denen beispielsweise auch der Kommissar Keller seine Sekretärin nicht nur duzte, sondern auch noch mit "Rehbein" ansprach, ohne "Frau" oder "Fräulein". Aber was hat dergleichen Asymmetrie in der Fußball-Nationalmannschaft des Jahres 2012 zu suchen?

Es ist wohl die Tradition. Ich kann es mir nicht anders erklären, als daß das ein Stück übriggebliebene Sport­geschichte ist. Eine Sitte, die irgendwie hängen­geblieben ist und sich verselbständigt hat. Eine Sitte aus den patriarchalischen Anfängen des Sports.

Denn am Anfang des Sports stand, jedenfalls in Deutschland, der Übervater, der Patriarch. Einer, zu dem man aufschaute und der sich in seinem Erscheinungsbild an Darstellungen des Gottvaters, mindestens von Moses zu orientieren schien.

Damit bin ich bei dem Gedicht mit dem Porträt.

Das Gedicht ist von Joachim Ringelnatz. Es ist eigentlich viel länger; in seiner ganzen Schönheit können Sie es beispielsweise auf der WebSite des Joachim-Ringelnatz-Vereins Wurzen nachlesen. In seiner ganzen Schönheit ist es freilich auch etwas, sagen wir, hektisch-langatmig. Die Essenz bilden aber die beiden ersten und die beiden letzten Zeilen:
Fußball

Der Fußballwahn ist eine Krank-
Heit, aber selten, Gott sei Dank.
Ich warne euch, ihr Brüder Jahns,
Vor dem Gebrauch des Fußballwahns!
"Brüder Jahns" - da haben wir es. Jahn, das ist dieser Patriarch, der Turnvater Jahn. Hier sehen Sie ihn, auf einer Postkarte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:


Damals war aus dem einstigen Rebellen längst eine Institution geworden. Das Turnen, an preußischen Gymnasien zunächst streng verboten, war erst geduldet worden und wurde dann sogar zum Schulfach erhoben. Friedrich Ludwig Jahn war eine Gestalt von nationaler Bedeutung; ungefähr wie heute Joachim Löw. ­
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette gemeinfrei, da das Copyright erloschen ist.