11. September 2011

Zum Jahrestag von 9/11: Persönliche Erinnerungen. Verschwörungstheorien, Antiamerikanismus. Naivität und Selbstbehauptung


In diesen Tagen werden in unseren Medien die Anschläge vom 11. September 2001 unter allen ihren Aspekten beleuchtet. Auch in ZR konnten Sie solche Analysen lesen ("Schock und Angst waren die vernünftige Antwort"; ZR vom 6. 9. 2011, und "Amerikas Demoralisierung liegt nicht am Krieg gegen den Terror"; ZR vom 9. 9. 2011). Inzwischen ist, so scheint es, alles gesagt und diskutiert, was die Hintergründe der Anschläge angeht, was ihre gesellschaftlichen, machtpolitischen, ihre militärischen und wirtschaftlichen Folgen betrifft. Zum Jahrestag heute statt solcher Analysen deshalb einige persönliche Anmerkungen; Reflexionen aus subjektiver Sicht.



"Wo waren Sie, als ...?" ist eine beliebte Frage, auch in Bezug auf 9/11. Viele Menschen behaupten fest und aus offenbar tiefer Überzeugung, daß sie das noch ganz genau wüßten - wo sie waren, als sie die Nachricht von der Ermordung Kennedys erhielten, vom Tod Prinzessin Dianas; als sie von dem Anschlag auf die Twin Towers erfuhren. Sie erinnern sich an alle Einzelheiten. Die Psychologie nennt das flashbulb memories, weil die Erinnerung, so heißt es, lebhaft und detailreich sei; wie eine von einer Blitzlichtlampe (flashbulb) erleuchtete Szene.

Daß es dergleichen gibt, ist von der Forschung gut dokumentiert. Die Regel scheint es aber nicht zu sein. Ungewöhnlich zutreffend sind solche Blitzlicht-Erinnerungen im Schnitt nicht. Es ist ja eine Sache, ob man noch viele Details vor Augen hat, und eine andere, ob man es damals auch tatsächlich so erlebt hat. Erinnern ist Rekonstruieren, nicht das "Abrufen" von "gespeicherter Information".

Ich saß am Rechner, als ich die Nachricht las, und zwar im damaligen Schrippe-Forum; jemand hatte es im Radio gehört und sofort gepostet. Es war ein Dienstag in den Semesterferien; ich arbeitete also zu Hause und nicht in der Uni. Ich habe dann sofort CNN eingeschaltet und die Berichterstattung verfolgt.

Oder war es das deutsche Fernsehen, das ich einschaltete, weil wir damals noch gar kein Satelliten-TV hatten? Wir haben es ungefähr um diese Zeit bekommen; vielleicht aber erst nach dem 11. September 2011. Das müßte ich nachsehen. Vielleicht meine ich nur, ich hätte CNN eingeschaltet, weil ich das inzwischen immer tue, wenn etwas Spektakuläres gemeldet wird?

Und wieviel Uhr war es eigentlich? Meine Erinnerung sagt, daß es Vormittag war, als ich damals am Rechner saß. Aber das kann ja nicht stimmen. Jetzt habe ich nachgesehen: Das eine der beiden Flugzeuge flog um 8.46 Uhr Ortszeit in das jeweilige Gebäude, das zweite um 9.03 Uhr. Die Ereignisse spielten sich also gegen 15.00 Uhr deutscher Zeit ab; die ersten Meldungen mögen in der Stunde danach eingetroffen sein. Ich irrte mich, als ich dachte, es sei Vormittag gewesen; vermutlich, weil in den späteren Berichten immer wieder vom "Vormittag des 11. September" die Rede war.

Ich sehe die Bilder von den brennenden, dann einstürzenden Türmen vor mir; von den beiden Flugzeugen, wie sie in die Gebäude hineinrasen. Aber habe ich das damals, in diesen Stunden am Nachmittag und Abend des 11. September 2011, so gesehen? Oder sind es Bilder aus den Tagen danach, die ich jetzt zurückprojiziere?

Unsere Erinnerung verändert sich ständig durch das, was später an Erfahrungen hinzutritt; die Psychologin Elizabeth Loftus gehört zu denen, die solche false memories, Fehlerinnerungen, besonders gründlich untersucht haben.

Manchmal kann man so etwas drastisch demonstrieren. Der Psychologe Ulric Neisser beispielsweise hat die Erinnerung eines der Akteure in der Watergate-Affäre, John Dean, an die Gespräche mit dem damaligen Präsidenen Nixon mit deren tatsächlichem Wortlaut verglichen, der heimlich aufgezeichnet worden war. Falls Sie sich für dieses Thema interessieren - Neissers faszinierender Artikel ist hier zu lesen. Wenn Sie ihn gelesen haben, werden Sie nicht mehr viel von "Augenzeugen" und "Ohrenzeugen" halten.



Bald nach den Ereignissen ging es los mit den Verschwörungstheorien. Die Attentäter seien in Wahrheit noch am Leben; jüdische Angestellte, die in den Twin Towers arbeiteten, seien vorgewarnt worden und am 11. September nicht zur Arbeit erschienen; die Türme seien gar nicht durch die Flugzeuge, sondern durch explodierende Sprengladungen zum Einsturz gebracht worden. Das Ganze sei ein heimtückisches Komplott der amerikanischen Regierung, um einen Vorwand für Kriege gegen Moslems zu haben.

Ich fand es damals beschämend, daß auch angesehene deutsche Autoren sich an diesen abwegigen Spekulationen beteiligten; nämlich Mathias Bröckers, Gerhard Wisnewski, ein leibhaftiger Träger des Grimme-Preises, und gar Andreas von Bülow, der einmal Bundesminister unter Helmut Schmidt gewesen war. Vor allem Bülows damit erworbene Autorität (er war auch Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungs-ministerium gewesen) mag dazu beigetragen haben, daß viele Deutsche an diese Phantasien glaubten.

Mich hat das nicht nur empört, sondern auch nachdenklich gemacht. Was steckte dahinter? Antiamerikanismus natürlich, Antisemitismus. Dem CIA, "den Juden" traut man jedes Verbrechen zu. Sodann Überheblichkeit, Allmachtsphantasien. Ein Autor in Deutschland bildet sich ein, mittels dessen, was er irgendwo gelesen oder aus dem Internet geklaubt hat, ein Komplott in den USA aufdecken zu können. Manche Leser mögen so etwas; es befriedigt die Lust, "hinter die Kulissen zu blicken".

Aber das allein erklärt noch nicht den Erfolg solcher Verschwörungstheorien. Im Grunde geht es darum, woher man sein Weltwissen bezieht, und um das Vertrauen, das bei allem Weltwissen unumgänglich ist. Ich habe das vor fünf Jahren, auch ungefähr zum Jahrestag von 9/11, in einer Serie untersucht, die sich mit einigen geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Aspekten von Verschwörungstheorien befaßte. Hier sind die Links:
1. Unsichere Weltkenntnis
2. Systematischer Zweifel
3. Die Meister des Mißtrauens
4. Aus der Skepsis in den Glauben
5. Die große Regression
6. Spiegel-Leser und Internauten



In den Monaten nach 9/11 veranstaltete der deutsche Sänger Konstantin Wecker seine Tournee "Vaterland". Ich habe die Veranstaltung in einer mittelgroßen Stadt miterlebt; genauer: Ihre erste Hälfte. Warum nur die erste Hälfte, das habe ich in einem früheren Artikel beschrieben (Eine beunruhigende Bemerkung von Helmut Schmidt. Die Deutschen und der Antisemitismus; ZR vom 22. 2. 2010):
Die Ereignisse des 11. September 2001 waren noch in frischer Erinnerung. Damals habe ich mit meiner Frau ein Konzert des Sängers Konstantin Wecker besucht. Nein, "Konzert" ist die falsche Bezeichnung. Es war, in einer großen Halle, eine Agitations- Veranstaltung gegen die USA, gegen den Westen, gegen den Kapitalismus.

Wecker leistete zu Beginn Lippendienst und äußerte sein Bedauern über den Anschlag auf die Twin Towers. Nachdem er das hinter sich gebracht hatte, begann die Agitation. Immer wieder längere gesprochene Zwischentexte, dann der eine oder andere Song. Es war das, was man im Englischen heute hate speech nennt, die Sprache des Hasses.

Nun gut, man kennt Konstantin Wecker. Das wirklich Schlimme war die Reaktion des überwiegend jungen Publikums. Wecker wurde nicht etwa ausgebuht oder ausgezischt, sondern das Publikum ging voll mit. Immer wieder tosender Beifall; je haßerfüllter Wecker sprach, umso lautstärker.

Wecker verstand es, eine aufgeheizte Stimmung zu erzeugen, wie ich sie noch nie zuvor live erlebt hatte. Eine Stimmung, wie ich sie nur aus Filmaufnahmen gekannt hatte, etwa denjenigen von der berüchtigten "Sportpalast"- Rede des Josef Goebbels.

Ich bin damals in der Pause gegangen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte; überzeugt davon, daß diese deutsche Neigung zu einer selbstgerechten Empörtheit, zu einer bedingungs- und grenzenlosen Feindseligkeit "Schädlingen" gegenüber noch immer virulent ist.
Auch das gehört für mich zu den zentralen Erinnerungen an 9/11: Die Solidarität mit den USA, in den Worten des damaligen Kanzlers Schröder gar die "uneingeschränkte Solidarität", war selten echt.

Man verstand in Deutschland nicht, was dieser Angriff - in seiner psychologischen Wirkung nur Pearl Harbor vergleichbar - für die USA bedeutete. Es wurde ernsthaft vorgeschlagen, statt Krieg gegen die Kaida zu führen, solle man doch mit polizeilichen Methoden vorgehen wie bei jedem Verbrechen - die Hintermänner per Interpol ermitteln, sie fassen, sie vor Gericht stellen. Daß es in einem Krieg nicht darum geht, den Feind gerichtlich zu belangen, sondern ihn zu schlagen und das eigene Land zu schützen, kam in den damaligen deutschen Diskussionen kaum vor.

Ich habe es damals immer wieder erlebt, wie in Gesprächen zwar die Anschläge bedauert und die Opfer bemitleidet wurden, man dann aber sehr schnell bei dem war, was man den USA meinte vorwerfen zu können. Ich habe mich gefragt, wieviele Deutsche wohl eine klammheimliche Freude darüber empfanden, daß es den USA und dem Kapitalismus einmal richtig heimgezahlt worden war.



Das Letzte, das ich anmerken möchte, ist ganz aktuell: Am Freitag brachte die Washington Post einen Bericht über den Versuch der US-Regierung, wenigstens zu verhindern, daß das vierte Flugzeug (Flug 93) sein Ziel erreichte; es sollte vermutlich in das Kapitol oder das Weiße Haus in Washington fliegen.

Man hätte keine Wahl gehabt, als das Flugzeug abzuschießen. Aber im Raum Washington standen keine sofort einsatzbereiten Jagdflugzeuge mit scharfer Munition zur Verfügung. Niemand hatte erwartet, daß man so etwas je brauchen würde. Die gesamte amerikanische Luftabwehr war nach Norden hin ausgerichtet, von wo ein eventueller Angriff der UdSSR kommen würde.

Es hätte eine Stunde gedauert, Jagdflugzeuge mit scharfer Munition zu bestücken. Bis dahin wäre es zu spät gewesen. Also blieb nur der Versuch, die heranfliegende Boeing 757 zu rammen und dadurch zum Absturz zu bringen - ein Selbstmordkommando für die beiden Piloten, die sich bereitfanden, das zu versuchen. Steve Hendrix hat sie jetzt für die Washington Post interviewed; es waren Leutnant Heather Penney, eine der ersten US-Kampfpilotinnen, und Oberst Marc Sasseville.

Sie hatten keine Zeit für den üblichen Check vor dem Start, sondern flogen einfach los. Unterwegs überlegten sie, wo man die Boeing am besten rammen würde und ob es noch möglich sei, vor dem Auftreffen per Schleudersitz auszusteigen. Aber dann würde der Jagdjet möglicherweise die Boeing nicht richtig treffen, war Penneys Befürchtung, wie sie jetzt erzählt.

Der Absturz der Boeing durch das mutige Eingreifen von Passagieren ersparte den beiden Piloten diese Entscheidung. Sie waren danach noch den ganzen Tag im Einsatz, auch als Begleitschutz für das Flugzeug des Präsidenten, die Air Force One.

Heute, wo bei Washington ständig zwei startklare Kampfflugzeuge mit sofort einsatzbereiten Piloten bereitstehen, kann man sich kaum noch vorstellen, wie sorglos man damals in den USA war, was den Terrorismus anging. Wenn heute bemängelt wird, daß die Amerikaner auf 9/11 "überreagiert" hätten, dann sollte man auch das sehen: Wer einmal für seine Naivität derart bitter bestraft wurde, der wird, wenn er vernünftig ist, künftig auf Nummer Sicher gehen. Auch dann, wenn sein Wille zur Selbstbehauptung von anderen als Überreaktion gescholten wird.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Abbildung als Werk der US-Regierung in der Public Domain. Mit Dank an Hurz