19. September 2011

Marginalie: Deutsche Götterdämmerung. Wie man Atomstrom wäscht, und wie man seine Wirtschaft vor die Wand fährt

Für regelmäßige Leser von ZR ist es nichts Neues: Als Deutschland in einem Akt kollektiver Besoffenheit den "Ausstieg aus der Atomenergie" beschloß, hat es damit keineswegs den Ausstieg aus der Nutzung von Atomstrom beschlossen; weder kurz- und mittelfristig noch langfristig.

Vielmehr hat die Aussteigernation beschlossen, ihren Atomstrom nicht mehr im bisherigen Umfang aus eigenen, im international Vergleich ungewöhnlich sicheren KKWs zu beziehen, sondern aus überwiegend weniger sicheren KKWs im Ausland - in Frankreich, in Tschechien, demnächst vielleicht in der russischen Enklave Kaliningrad (siehe Steigt Deutschland wirklich aus der Nutzung der Atomenergie aus? Keineswegs. Es wird nur ein Outsourcing stattfinden; ZR vom 3. 6. 2011, sowie Atomstrom aus Königsberg für Deutschland?; ZR vom 2. 7. 2011).

Einer der schlimmsten Scharfmacher bei der Propaganda für den deutschen "Ausstieg" war im Frühling dieses Jahres "Der Spiegel". Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Titelgeschichten "Die Kernfrage - wie Deutschland auch ohne Atomkraft funktionert" und "Das Ende des Atomzeitalters". Umso bemerkenswerter ist das, was der "Spiegel" vergangene Woche unter der Überschrift "Die Atomwaschanlage" dazu schrieb. Dort finden Sie im Detail das bestätigt, was in ZR im Juni und Juli zu lesen gewesen war.

Es ist, folgt man diesem Artikel, sogar noch schlimmer. Die Folgen des deutschen "Ausstiegs" sind diese:
  • Ausgerechnet der für seine Pannen bekannte Reaktor Temelin nah der Grenze zu Bayern läuft derzeit auf Hochtouren, um Atomstrom nach Deutschland liefern zu können.

  • Auch aus Frankreich wird Atomstrom nach Deutschland geliefert; unter anderem aus dem KKW Fessenheim, laut dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann ein "Schrottmeiler".

  • Wie ebenfalls bereits in ZR berichtet, importiert Deutschland derzeit auch Strom aus Polen - aus Kohlekraftwerken, die zu den schmutzigsten Europas gehören.

  • Da dieser importierte Atom- und Kohlestrom deutlich teurer ist als der im Inland bisher erzeugte Atomstrom, steigen die Strompreise in Deutschland drastisch. Den vollen Umfang der Verteuerung wird der private Verbraucher erst merken, wenn im neuen Rechnungsjahr die gestiegenen Preise voll durchschlagen.

  • Es gibt Hinweise darauf, daß der bevorstehende Einbruch der deutschen Konjunktur wesentlich auch auf diese Verteuerung der Energie zurückgeht. Der "Spiegel":
    Praktisch über Nacht ist aus dem Stromexportland ein Stromeinfuhrland geworden, mit allen nachteiligen Konsequenzen für Wirtschaft, Verbraucher und die Sicherheit. Die Konjunktur hat allen Schwung verloren. Im zweiten Vierteljahr lag das Bruttoinlandsprodukt nur um 0,1 Prozent höher als im ersten Quartal, wozu nach Einschätzung des Statistischen Bundesamtes der Atomausstieg beigetragen hat. "Strom musste, um die Nachfrage zu befriedigen, verstärkt importiert werden", so die Statistiker.
  • Damit nicht genug des Wahnwitzes. Wie weit die Heuchelei geht, mit der getarnt wird, daß man weiterhin kräftig Atomstrom verbraucht, zeigt das Beispiel Österreichs. Dort steht das, was die Autoren des "Spiegel"-Artikels "Atomwaschanlagen" nennen: Importierter Atomstrom wird dazu verwendet, Wasser in große Höhe zu pumpen (Pumpspeicherkraftwerke). Damit werden dann Turbinen betrieben. Die Energie kommt aus der Nutzung der Atomkraft. Aber deklariert wird das als sauberer Strom aus Wasserkraft.
  • Natürlich ist dieses Verfahren mit einer Verschlechterung des Wirkungsgrads verbunden. Man steckt in ein solches System mehr Energie in Form von Atomstrom hinein, als man am Ende in Form von Energie aus Wasserkraft daraus bezieht.

    Aber was soll's. Bei der Energiepolitik ist der Verstand in Deutschland - und nicht viel anders in Österreich - außer Kraft gesetzt.

    Wer so irrational ist, die sicheren deutschen KKWs abzuschalten, weil in Japan ein schwerer Tsunami mit einem schweren Erdbeben zusammengetroffen ist, von dem sind rationale Entscheidungen nicht zu erwarten. Die deutsche Volksseele hat gesprochen.

    Das Ausland staunt einmal mehr über die deutsche Neigung zur Götterdämmerung. Traurig ist man dort freilich über die besoffenen Deutschen nicht, die freiwillig ihre eigene Wirtschaft vor die Wand fahren. So sind sie eben, die Erben Richard Wagners; und warum soll man von ihrer Borniertheit nicht profitieren.



    Nachtrag am 20. 9., 10.35 Uhr: In der ursprünglichen Version dieses Artikels stand, daß die Geschichte im "Spiegel" jetzt frei zugänglich ist. Ich bezog mich dabei auf die Praxis des "Spiegel", Heftinhalte freizuschalten, sobald das betreffende Heft nicht mehr im Handel ist. Diese Praxis wurde offenbar inzwischen geändert. Es heißt jetzt:
    In unserem Archiv finden Sie kompakt: Artikel aus dem SPIEGEL-Archiv, bis auf die vergangenen zwei Wochen kostenlos für Sie.
    Allerdings wurde eben in Zettels kleinem Zimmer berichet, daß auch der Inhalt älterer Hefte nicht mehr frei zugänglich sei. Ich werde das beim "Spiegel" zu klären versuchen.

    Auf Englisch ist die "Spiegel"-Geschichte zur Atomkraft jedenfalls jetzt schon zu lesen; bei "Spiegel-Online International".
    Zettel



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