3. September 2011

Marginalie: Eine ernüchternde Umfrage zu "Vereinigten Staaten von Europa"

"Zeit-Online" veröffentlichte gestern das Ergebnis einer Umfrage des Instituts YouGov, die parallel in Frankreich, Großbritannien und Deutschland durchgeführt wurde. Sie erbrachte ein bemerkenswertes Ergebnis.

Gefragt wurde, recht wolkig-holprig: "Wären die 'Vereinigten Staaten von Europa' längerfristig ein passendes Modell?" Passend wofür oder worauf? wäre da gegenzufragen. Was ist "längerfristig"? Und wieso "wären" und nicht "sind"? Auch die Antwortalternativen waren (siehe unten) schwammig formuliert.

Aber gut, nehmen wir an, daß die meisten Befragten die Frage so verstanden haben: "Sind Sie für die Errichtung der 'Vereinigten Staaten von Europa'?" Vielleicht haben die meisten sie so verstanden. Die Ergebnisse sehen jedenfalls so aus:
  • In Großbritannien sagten 13% "Ja, finde ich prinzipiell gut"; 64 Prozent entschieden sich für "Nein, finde ich prinzipiell nicht gut"; 23 Prozent entschieden sich für "Ich weiß nicht".

  • In Frankreich antworteten 44% "Ja, ...", 35% "Nein, ..." und 20% "Ich weiß nicht".

  • Die Zahlen für Deutschland: 35% "Ja, ...", 43% "Nein, ...", 23% "Ich weiß nicht".
  • Das Ergebnis für die Briten ist nicht verwunderlich. Wenn man dort von Europe spricht, dann meint man noch immer meist die Welt auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Aktuell dürften sich viele Briten freuen, daß ihnen, weil sie nicht zum Euro-Raum gehören, die Schulden Griechenlands so egal sein können wie die des Plurinationalen Staats Bolivien. Warum in aller Welt sollten sie ihre nationale Souveränität an Brüssel abtreten?

    Bemerkenswert ist aber, daß auch weder in Deutschland noch in Frankreich eine Mehrheit für "Vereinigte Staaten von Europa" existiert. Und überraschend ist, daß der Wunsch nach "Vereinigten Staaten von Europa" in Frankreich (44%) inzwischen deutlich höher ist als in Deutschland (35%).

    Woher dieser Unterschied? Man kann an verschiedene Gründe denken. Der offensichtlichste und trivialste könnte sein, daß die wolkige Frage und die schwammig formulierten Antwortalternativen in der französischen Version von den Befragten anders verstanden wurden als in der deutschen.

    Man kann ja durchaus der Meinung sein, daß "prinzipiell" und "längerfristig" zu errichtende "Vereinigte Staaten von Europa" ein "passendes Modell", nein, nicht sind, sondern "wären", ohne daß man jetzt und hier dafür eintritt, Europa auf einen solchen Weg zu bringen. Viele meinen zum Beispiel auch, daß "prinzipiell" und "längerfristig" eine Welt ohne Kriege, Krankheiten und Kriminalität "ein passendes Modell wäre". Oder gar der Sozialismus. Man kann die Frage aber auch, so wie ich es oben unterstellt habe, als bezogen auf eine politische Weichenstellung verstehen: Soll sich Europa jetzt in Richtung auf einen Bundesstaat entwickeln?

    Ein solches unterschiedliches Verständnis der Frage in ihrer deutschen und ihrer französischen Version könnte die Verschiedenheit der Ergebnisse erklären.



    Aber nehmen wir einmal an, diese Erklärung trifft nicht zu und die Franzosen und die Deutschen denken wirklich so verschieden über die Option, "Vereinigte Staaten von Europa" zu errichten, wie es die Daten von YouGov zu signalisieren scheinen.

    Dann ist das deshalb verwunderlich, weil die Franzosen in dem Referendum über den Entwurf einer Europäischen Verfassung am 29. Mai 2005 mit 55 Prozent "nein" stimmten. In Deutschland zeigten Umfragen damals hingegen eine deutliche Mehrheit für die Verfassung. Auch bei späteren Umfragen waren die Deutschen europafreundlicher als die Franzosen. Im Frühjahr 2007 beispielsweise lag nach einer Erhebung von Eurobarometer die Zustimmung der Deutschen zu einer Europäischen Verfassung bei 78 Prozent; diejenige der Franzosen bei 68 Prozent.

    Wir Deutschen sind traditionell besonders gute Europäer; vielleicht, weil unser deutsches Nationalbewußtsein so kümmerlich ist. Das der Franzosen ist hingegen intakt; da mag die Aufgabe der nationalen Souveränität besonders schmerzlich erscheinen. Und nun auf einmal sieht es danach aus, daß wir Deutschen in der Begeisterung für einen europäischen Bundesstaat noch hinter den Franzosen liegen.

    Zwei Erklärungen bieten sich an. Die erste ist trivial: In Deutschland hat sich im Zug der letzten Finanzkrisen der Eindruck verstärkt, daß wir der "Zahlmeister Europas" sind; daß das Geld des deutschen Steuerzahlers dazu dienen soll, anderswo die Löcher zu stopfen. Von einer "Transferunion" ist inzwischen oft die Rede; was nichts anderes heißt, als daß in Deutschland erarbeitetes Geld anderswo ausgegeben werden soll.

    Es könnte aber noch etwas anderes hinzukommen: So etwas wie enttäuschte Liebe. Wir Deutschen wollten, wenn wir uns schon unserer jüngsten Geschichte schämen müssen, wenigstens stolze Europäer sein.

    Wir träumten von einem freiheitlichen Europa, das von unten her aufgebaut wird, getragen von der Begeisterung der Europäer. Stattdessen erleben wir Europa inzwischen hauptsächlich in Form unsinniger, schikanöser Verlangen und Direktiven aus Brüssel - vom Glühlampenverbot und dem Versuch der zwangsweisen Einführung des Benzins E10 bis hin zu solchen bürokratischen Blüten wie der Forderung aus Brüssel, daß das Land Berlin ein Seilbahngesetz erläßt, auch wenn dort keine einzige Seilbahn schwebt (siehe Über Seilbahnen in Europa, die Bürokraten in Brüssel und das Wesen der Juristerei (Teil 1); ZR vom 13. 9. 2008, sowie Teil 2; ZR vom 14. 9. 2008).

    Wir träumten vom "Seid umschlungen Millionen" aus Schillers Text zur Europahymne und bekamen die "Richtlinie 2000/9/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 über Seilbahnen für den Personenverkehr".



    Was tun, wenn wir Deutschen, wenn auch andere Völker Europas keinen europäischen Bundesstaat wollen? Dann gibt es ihn nicht, sollte man meinen. Oder aber: Dann wird es ihn geben, aber als ein Projekt der Eliten - die "Vereinigten Staaten von Europa" nach dem Modell einer Zwangsheirat, für die gilt, daß die Liebe schon in der Ehe kommen wird. Ich habe das kürzlich anhand eines Texts des Politologen Peter Graf Kielmansegg kommentiert (Europa - ein Elitenprojekt? Eine mögliche Strategie, zu einem gefährlichen Ende gedacht. Erinnerung an Europas Stunde der Wahrheit; ZR vom 11. 7. 2011).

    Diese Entwicklung von einem "Europa von unten" hin zu Europa als einem den Völkern verordneten Elitenprojekt ist allerdings schon älter. Sie begann spätestens, als im Frühjahr 2005 erst die Franzosen und dann auch die Holländer die Europäische Verfassung abgelehnt hatten. Man müsse Europa dann eben ohne, notfalls gegen die Völker schaffen; das war der Tenor zahlreicher Äußerungen europäischer Verantwortlicher aus dieser Zeit. Sie finden sie hier zusammengestellt: Arroganz der Macht: Wie man in Europas politischer Führung über die Öffentliche Meinung denkt; ZR vom 22. 6. 2008.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.