30. September 2011

Marginalie: Karikaturenstreit jetzt auch in der Türkei. Erdoğan entthront Kemal Pascha

Es wird immer deutlicher, daß Recep Tayyip Erdoğan im Begriff ist, ein zweiter Kemal Pascha zu werden. Freilich mit umgekehrten Vorzeichen.

Atatürk wollte die Türkei verwestlichen und sie zu einem säkularen Staat machen; Erdoğan will sie wieder zu einer orientalischen Nation machen. Die Türkei soll nicht mehr ein Land am südöstlichen Rand Europas sein, sondern das Zentrum eines neuen Osmanentums.

Gegenwärtig hat Erdoğan ausgezeichnete Chancen, so erfolgreich zu sein wie einst Kemal Pascha; und mit einer ähnlichen Bedeutung wie dieser in die Geschichte der Türkei einzugehen.

Außenpolitisch bedeutet dieser Schwenk, daß die Türkei sich nicht mehr nach Europa orientiert, sondern in den arabischen Raum hinein (siehe "Die Türkei ist so einflußreich wie noch nie zuvor"; ZR vom 19. 9. 2011). Innenpolitisch bedeutet er eine Reislamisierung. Diese schreitet schnell voran. Ein entlarvendes Beispiel kann man heute in "Welt-Online" lesen.

Schauen Sie sich bitte die Karikatur an, die dort abgedruckt ist: In einer Moschee telefoniert - aus der hinteren Reihe heraus - einer der Gläubigen per Handy mit Gott und fragt ihn "Kann ich den letzten Teil des Gebets weglassen? Ich habe auch noch andere Dinge zu erledigen ... Vielen Dank mein Gott! Schönen guten Tag noch ...".

Mich hat das an die Gespräche erinnert, die in Guareschis prachtvollen "Don Camillo und Peppone"-Romanen der Priester Don Camillo mit dem Heiland führt. Don Camillo hätte exakt so etwas sagen können wie der Gläubige in dieser Karikatur. Die Bücher und Filme waren damals im erzkatholischen Italien und im Deutschland Konrad Adenauers ein großer Erfolg.



Und was passierte jetzt in der einst säkularen Türkei, die noch immer vorgibt, Mitglied der EU werden zu wollen? "Welt-Online":
In der Türkei ist Atheismus eine Volksbeleidigung und mit Gefängnis zu bestrafen – so sieht es offenbar die Istanbuler Staatsanwaltschaft. Sie reagierte auf Anzeigen einer Imam-Vereinigung und diverser Privatpersonen gegen den Karikaturisten Bahadir Baruter und erhob Anklage gegen ihn wegen einer Zeichnung, die – nach Auffassung der Staatsanwaltschaft – "die religiösen Gefühle eines Teiles des Volkes verletzt".
In dem Artikel können Sie lesen, daß das kein Einzelfall ist.

Noch geben die türkischen Gerichte solchen Klagen in der Regel nicht statt. Die Juristen sind ja überwiegend noch in der säkularen türkischen Republik ausgebildet worden. Aber während in dieser einstigen Türkei, der Türkei Atatürks, noch nicht einmal Studentinnen mit Kopftuch eine Universität betreten durften, reiste jetzt der türkische Staatspräsident mit seiner Frau durch Deutschland, die dieses Symbol religiöser Unterdrückung ganz unbefangen zur Schau stellte.

Hier können Sie das schmucke Paar sehen. Die Botschaft gegenüber Deutschland war eindeutig: Die Türkei ist jetzt ein islamisches Land. Die Republik Erdoğans, nicht mehr die Atatürks.
Zettel



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