11. September 2011

US-Präsidentschaftswahlen 2012 (2): Die Wirtschaftslage, Obamas Chancen und das North Dakota-Paradox. "It's the economy, stupid". Wirklich?

It's the economy, stupid gehört zu den geflügelten Worten der amerikanischen Politik - "Es geht um die Wirtschaft, du Depp". Die Redensart entstand im Wahlkampf 1992, als Bill Clinton als Herausforderer gegen den amtierenden, außenpolitisch erfolgreichen Präsidenten George H.W. Bush antrat. Sein Berater James Carville impfte dem Kandidaten Clinton ein, daß er immer wieder auf die (sich damals gerade verschlechternde) Wirtschaftslage eingehen müsse und hängte ihm zur ständigen Erinnerung ein Schild in sein Arbeitszimmer, auf dem u.a. dieses It's the economy, stupid stand.

Wenn auch 2012 diese Maxime gilt, dann wird der Kandidat Barack Obama einen schweren Stand haben. Anders als damals Bush hat er keine außenpolitischen Erfolge vorzuweisen, und der amerikanischen Wirtschaft geht es erheblich schlechter als vor zwanzig Jahren. Aber wird die Wirtschaft wirklich die Wahlen 2012 entscheiden? Eine überraschende Analyse dazu hat kürzlich Nate Silver in seinem Blog bei der New York Times vorgenommen.

Auf die empirisch umfassenden und mathematisch präzisen Analysen demoskopischer Daten von Nate Silver habe ich mich 2008 bei meiner Serie "Der 44. Präsident der USA" immer wieder gestützt; sie erlaubten mir, das damalige Wahlergebnis exakt vorherzusagen. Damals hatte Silver noch den selbständigen Blog FiveThirtyEight; jetzt führt er ihn unter dem Dach der New York Times fort.

Vor gut einer Woche nun hat Nate Silver unter der Überschrift The North Dakota Paradox den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsdaten und den demoskopischen Werten für Präsident Obama analysiert und kam zu einem überraschenden Ergebnis.

Sein Ausgangspunkt ist der US-Staat North Dakota, im nördlichen Mittleren Westen an der Grenze zu Kanada gelegen. Einer der Staaten mit der kleinsten Bevölkerung (rund 650.000) und der niedrigsten Bevölkerungsdichte der USA; ländlich und fromm; mit ganz überwiegend weißen Bewohnern. Traditionell wählte man dort republikanisch; aber 2008 erreichte Barack Obama ausgezeichnete 45 Prozent der Stimmen.

North Dakota ist ein wirtschaftlich außerordentlich erfolgreicher Staat, der auch von der gegenwärtigen Schwäche der US-Wirtschaft kaum betroffen ist. Die Arbeitslosigkeit stieg auch in der Rezession nicht über 4,3 Prozent und liegt jetzt bei 3,3 Prozent. Kein Grund also, sich von Präsident Obama wegen seiner Wirtschaftspolitik abzuwenden. Und doch sind dort seine Umfragewerte stärker abgestürzt als in jedem anderen Staat; von 55 Prozent Zustimmung 2009 auf jetzt nur noch 37 Prozent.

Dieses "North Dakota-Paradox" veranlaßte Nate Silver, den statistischen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsdaten und dem Niedergang der Popularität Obamas genauer in Augenschein zu nehmen; mit diesen Ergebnissen:
  • Trägt man für die US-Staaten die Abnahme der Zustimmung zu Obama zwischen 2009 und 2011 gegen die Höhe der Arbeitslosigkeit auf (Daten vom April 2011), dann ergibt sich kein Zusammenhang.

  • Dasselbe Bild zeigt sich, wenn man statt der absoluten Höhe der Arbeitslosigkeit deren Veränderung zwischen 2009 und 2011 verwendet. Wiederum liegt die Korrelation nahe bei null.

  • Vielleicht ist die Arbeitslosigkeit nicht der richtige Indikator für die Wirtschaftslage? Nate Silver hat es mit der Veränderung der Durchschnittseinkommen versucht. Hier ist der Trend sogar eher umgekehrt, als zu erwarten: Obama hat dort mehr verloren, wo die Einkommen stark gestiegen sind. Am wenigsten ist die Zustimmung zu Obama dort gesunken, wo die Einkommen nur wenig gewachsen sind.

  • Silver hat noch eine Reihe weiterer Analysen vorgenommen, in denen er sich auf Umfragedaten mit einer größeren Stichprobe, also verläßlichere Daten, beschränkte. Das Ergebnis war immer dasselbe. Silver faßt es so zusammen:
    ... the results have always been the same. The relationship between Mr. Obama's approval ratings and the economic performance of each state has been either neutral or somewhat inversely correlated.

    Die Ergebnisse sind immer dieselben. Der Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu Obama und der wirtschaftlichen Lage in den einzelnen Staaten ist entweder neutral, oder es gibt sogar eine leicht gegenläufige Korrelation.



  • Woran liegt das? Silver lädt seine Leser ein, eigene Hypothesen vorzuschlagen. Er selbst bietet zwei an:
  • Vielleicht sind die objektiven ökonomischen Daten weniger wichtig als die subjektive Einschätzung der Wirtschaftslage. Bei dieser gibt es in der Tat eine Korrelation in der erwarteten Richtung - Obama hat dort besonders stark verloren, wo die wirtschaftlichen Aussichten besonders pessimistisch eingeschätzt werden. Aber, fragt Silver, wie ist in diesem Fall die Kausalbeziehung? Er nennt Hinweise darauf, daß es eher umgekehrt ist, als es der gängigen Auffassung entspricht: Die wirtschaftliche Zukunft wird dort besonders pessimistisch eingeschätzt, wo man von Obama besonders enttäuscht ist. Die Beurteilung Obamas, nicht die Erwartung für die wirtschaftliche Zukunft ist das Primäre, welches das Andere nach sich zieht.

  • Es könnte aber auch noch komplexer sein: Das sinkende Vertrauen zu Obama führt zu pessimistischen Erwartungen für die wirtschaftliche Zukunft. Diese negativen Erwartungen verschlechtern die objektive Wirtschaftslage, was zu einem weiteren Abrutschen des Vertrauens zu Obama führt; und so fort - ein Teufelskreis.
  • Wie immer die Zusammenhänge sind, meint Nate Silver - nach einer einfachen Faustformel à la "Wenn die Arbeitslosigkeit am Wahltag über 8,5 Prozent liegt, wird Obama verlieren" scheint sich die Wirklichkeit nicht zu richten.



    Zum Schluß möchte ich Silvers Anregung, Hypothesen vorzuschlagen, aufnehmen und eine Überlegung zur Diskussion stellen, die in eine etwas andere Richtung weist. Sie widerspricht Silvers Erklärung nicht, sondern könnte sie ergänzen:

    Obamas Wählerschaft setzt sich, grob gesagt, aus zwei Gruppen zusammen - den Unterprivilegierten (Schwarze, Hispanics, Arbeiter, Wähler der Unterschicht und unteren Mittelschicht) und den Linksprogressiven. Diese letzteren - das liberale Bürgertum vor allem der Ost- und der Westküste, Intellektuelle, Professoren und Studenten, ein großer Teil der jüdischen Wähler, auch sozial engagierte Christen - sind überdurchschnittlich wohlhabend.

    Die erste Gruppe hat Obama gewählt, weil sie sich von ihm eine Verbesserung der eigenen Lage versprach. Die zweite Gruppe hat ihn gewählt, weil Obama sie mit seinen Ideen für eine bessere Gesellschaft, für eine friedlichere Welt usw. ansprach; nicht zuletzt auch, weil die Menschen in dieser Gruppe es als progressiv ansahen, wenn ein Schwarzer Präsident der USA werden würde.

    Beide Gruppen sind von Obama enttäuscht; aber aus ganz unterschiedlichen Gründen: Die einen, weil es unter diesem Präsidenten wirtschaftlich nicht vorangeht; die anderen, weil sich bisher die bessere Welt, die gerechtere amerikanische Gesellschaft nicht zeigen will, die zu schaffen er versprochen hatte.

    Das erklärt, warum die Umfragewerte für Obama in wohlhabenden Staaten mit gestiegenen Einkommen und niedriger Arbeitslosigkeit ebenso abstürzen wie in armen, besonders von der Arbeitslosigkeit betroffenen Staaten. Einmal geht das - so meine Hypothese - vor allem auf die eine Gruppe zurück; in anderen Staaten auf die andere. Man könnte - und müßte - das anhand von Umfragen testen, die den soziöokonomischen Status der Befragten mit erheben.

    Das North Dakota-Paradox würde zu dieser Erklärung passen. In diesem Staat fehlt es fast ganz an Obama-Wählern der ersten Gruppe; es gibt beispielsweise kaum Schwarze und Hispanics. Die große anfängliche Zustimmung zu Obama dürfte wesentlich aus der zweiten Gruppe gekommen sein; im christlich geprägten North Dakota (es hat die meisten Kirchen pro Kopf aller Staaten der USA) wohl erheblich auch von sozial engagierten Christen.

    Sie sind - so die Hypothese - von Obama enttäuscht; nicht, weil es ihnen wirtschaftlich schlecht geht, sondern weil der Erlöser keiner war, sondern sich schlicht als ein unfähiger Politiker entpuppte.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Das Lansdowne-Porträt von George Washington, gemalt von Gilbert Stuart (1796). National Portrait Gallery der Smithsonian Institution. Das Porträt zeigt Washington, wie er auf eine weitere (dritte) Amtszeit verzichtet. Links zu allen Beiträgen dieser Serie finden Sie hier. Siehe auch die Serie Der 44. Präsident der USA von 2008.