8. September 2011

Notizen zu Sarrazin (13): Ein Jahr nach Sarrazin - hat sich das Diskussionsklima verändert? Das Beispiel der Gewalt türkischstämmiger Jugendlicher

Hat die Sarrazin-Debatte vor einem Jahr eigentlich unser Land verändert?

Damals scheiterte der Versuch des Medienkartells, Sarrazins Thesen als nicht diskussionswürdig zu brand-marken und ihn selbst in die Position einer Unperson zu befördern. Hat uns dieser Erfolg freier gemacht? Kann man seither offener über Sachverhalte schreiben und reden, die bis dahin verharmlost, wenn nicht tabuisiert oder schlicht geleugnet worden waren? Die katastrophale demographische Entwicklung in Deutschland zum Beispiel; die Probleme, die mit der Einwanderung aus dem islamischen Kulturraum einhergehen?

Ich habe eine solche positive Entwicklung damals erwartet; der Verlauf der Debatte selbst legte das nahe (Sarrazin und die Folgen. Haben wir in Deutschland noch eine Demokratie?; ZR vom 6.9. 2010, und Die dritte Phase in der Geschichte der Bundesrepublik geht in diesen Tagen zu Ende. Eine These; ZR vom 14. 9. 2010). Es scheint mir, daß es auch so gekommen ist.



Lesen Sie einmal diese Passagen aus einem Artikel, der gestern in "Spiegel-Online" erschien; es geht um Übergriffe gegen Polizisten:
Untersuchungen des Kriminologischen Forschungs-instituts Niedersachsen (KFN) zufolge, an denen mehr als 20.000 Beamte teilgenommen hatten, stieg die Zahl der schwerer verletzten Polizisten von 2005 bis 2009 um mindestens 60 Prozent. In Großstädten hatte demnach jeder zweite Täter, der auf Ordnungshüter losgeht, ausländische Wurzeln. (...)

Gerade unter "jungen Migranten" sei es angesagt, am Wochenende "Bullen aufzumischen". Respekt vor Amtspersonen: Fehlanzeige. (...)

In Stadtteilen wie Berlin-Wedding oder Duisburg-Marxloh ist es schon fast zum Volkssport geworden, Polizisten zu drangsalieren. Dort sind es meist junge Zuwanderer, die Recht und Gesetz für sich beanspruchen.
So offen hätte vor dem September 2010 kaum ein Journalist das Problem dieser spezifischen Form der Kriminalität beim Namen nennen können; schon gar nicht in "Spiegel-Online". Und wäre es doch einmal passiert, daß solch ein Artikel durchgeht, dann wäre er umgehend revoziert, dann wäre er durch einen weiteren Artikel mit politisch korrekter Aussage korrigiert worden.

Heute darf Jörg Diehl das schreiben; einer der Journalisten, die ihren Beruf noch als den des Reporters verstehen, der berichtet, statt zu agitieren.



Ist man "ausländerfeindlich", wenn man auf diese Probleme aufmerksam macht? Man ist es so wenig, wie jemand jugendfeindlich ist, wenn er über die Jugendkriminalität schreibt; oder ein Gegner des Internet, wenn er sich mit der Kriminalität im Netz befaßt.

Der Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit gegen den Autor Jörg Diehl wäre so töricht, wie es dumm (wenn nicht bewußt agitatorisch) war, Thilo Sarrazin als Ausländerfeind und Rassisten zu beschimpfen. Diejenigen, die das taten und tun, versuchen Probleme aus der Welt zu schaffen, indem sie das Sprechen und Schreiben über sie zu unterbinden trachten. Die Versorgungslage in der DDR wurde aber nicht dadurch besser, daß es verboten war, die tatsächlichen Verhältnisse beim Namen zu nennen. Gesundbeten, Verdrängen und Verleugnen hilft selten.

Es ist bemerkenswert, daß es gerade assimilierte Einwanderer sind, die sich nicht scheuen, offen die Probleme anzusprechen, die mit der Einwanderung einhergehen. Vor einem Jahr wurde Sarrazins Buch von der türkischstämmigen Publizistin und Menschenrechtlerin Necla Kelek vorgestellt. Als Sarrazin kürzlich aus Kreuzberg hinausgemobbt wurde, war es eine türkischstämmige Journalistin, Güner Balci, gewesen, die mit ihm hatte drehen wollen (siehe "Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten". Sarrazin in Kreuzberg und die Selbstdemontage des Deutschen Kulturrats; ZR vom 20. 7. 2011).

Und was die Gewaltbereitschaft männlicher Jugendlicher türkischer Herkunft angeht, hat die türkischstämmige Politikerin und Integrationsministerin in Baden-Württemberg, Bilkay Öney (SPD, zuvor "Die Grünen") drastische Worte gefunden:
Schon bei den Grünen eckte sie an, etwa indem sie Roland Koch lobte, nachdem dieser im Wahlkampf härtere Strafen für Jugendliche gefordert hatte. (...)

Aus einem Dialog mit jungen Türken, die deutsche Polizisten angegriffen hatten, zitiert die Frau Ministerin die Frau Ministerin mit den Worten: "In der Türkei hätten euch die Polizisten gefickt."
Das geht natürlich gar nicht. In "Zeit-Online" beispielsweise schrieb Lisa Caspari tadelnd, man sieht den Zeigefinger förmlich vor sich:
Öney allerdings scheint Klartext mit plumpem Populismus zu verwechseln. Und mit pseudo-coolen Sprüchen.
Und zu dem Polizisten-Zitat:
Abgesehen von der Wortwahl: Was wollte die Ministerin damit sagen? Will sie eine Polizei wie in der Türkei?
Vermutlich nicht. Sie hat nur mit den jugendlichen Straftätern in deren Sprache geredet. Einer Sprache, die sie verstanden haben dürften.

Frau Öney hat mit ihren drastischen Worten auf das zentrale Problem aufmerksam gemacht: Das Rollenverhalten, die Rollenerwartungen der Söhne türkischer Einwandererfamilien. Damit auch die Erwartungen, die sie an eine Polizei haben, die sie zu respektieren bereit wären.



Zu diesen Rollenproblemen kann man jetzt Kluges und Schlüssiges im Blog von Jörg Lau bei "Zeit-Online" lesen. Er publizierte dort vorgestern ein schon vor einiger Zeit geführtes Interview mit dem Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak; auch er ein assimilierter Einwanderer aus der Türkei. Ich empfehle Ihnen dringend, dieses Gespräch zu lesen. Es macht deutlich, wo die Probleme liegen.

Über die Situation in der Schule heißt es in dem Gespräch:
ZEIT: Wie sollen deutsche Lehrer mit der türkischen Männlichkeitskultur umgehen, die sie im Klassenraum vorfinden?

Toprak: Ich mache oft Fortbildungen mit Lehrerinnen, die sagen, ich tue mich schwer mit diesen Jungs. Diese Jungen brauchen klare Ansagen, klare Regeln, die auch durchgesetzt werden. (...) Ich habe das Konzept der konfrontativen Pädagogik mit gewalttätigen und straffälligen Jugendlichen erprobt. Es kommt darauf an, sich von Machosprüchen nicht verunsichern zu lassen. Diese Jungs probieren, ob man angesichts ihres dominanten Auftretens Schwäche zeigt. Die zeigen gerne ihr Testosteron, aber wenn man Regeln durchsetzt, werden sie auch schnell handzahm.
Oder aber auch gewalttätig, wenn die klaren Regeln fehlen:
ZEIT: Woher kommt die höhere Gewaltakzeptanz bei türkischen Jungen?

Toprak: Ich habe jahrelang Anti-Aggressivitätstraining mit auffälligen Jugendlichen gemacht. Das waren junge Männer, die dazu verurteilt worden waren, weil sie selbst gewalttätig geworden waren. Diese Jungs haben uns berichtet, sie haben in der Erziehung Gewalt erfahren – entweder in der Familie oder durch ihre Peergroup. Die sehen es als normalen Teil des Aufwachsens als Mann, dass man irgendwann Schläge bekommt. Vor allem untereinander in der Gruppe ist Gewalt etwas Alltägliches. Tragischerweise.
Wer seine eigene Rolle so sieht, der wird leicht dazu tendieren, es auch gegenüber Polizisten mit Gewalt zu versuchen. Zumal in Deutschland, wo die Polizei trainiert ist, deeskalierend aufzutreten, also in den Augen solcher Jugendlicher weich und nachgiebig. Noch einmal aus dem Artikel von Jörg Diehl:
"Die Justiz muss endlich aufwachen und das Strafmaß bei diesen Delikten ausschöpfen", sagt Polizeigewerkschafter Rettinghaus. In der Realität aber würde die Schuld für die Gewalt hinterher oft den Beamten zugeschrieben, die die Situation angeblich hätten eskalieren lassen. Und der eigentliche Aggressor zeigte dann häufig auch noch die Polizisten an und verlangte möglicherweise Schadensersatz.
Jörg Diehl schildert den Fall eines Oberkommissars Peter (Name geändert), der mit seinen Kollegen Opfer eines solchen Angriffs wurde:
Der Oberkommissar Peter konnte sich damals im Sommer mit vielen seiner Kollegen aus der bedrohlichen Situation herauskämpfen. Doch er weiß seither, wie es ist, wenn gleich mehrere Strafanzeigen wegen Körperverletzung im Amt gegen einen Polizisten laufen. "Da überlegst du dir ganz genau, ob du in bestimmten Situationen wirklich anhältst und einschreitest - oder ob du so tust, als hättest du nichts gesehen oder gehört."

Die Folge dessen ist: Der Respekt vor der Polizei sinkt weiter.
Im Vorspann zu dem Artikel Diehls steht der etwas seltsame Satz: "Allein in Nordrhein-Westfalen wurden binnen eines einzigen Jahres fast 2000 Beamte verletzt - die Spirale der Eskalation dreht sich schneller denn je".

"Spirale der Eskalation"? Als Eskalation bezeichnet man im Allgemeinen den Sachverhalt, daß Gewalt auf beiden Seiten sich hochschaukelt. Davon kann ja nun hier just keine Rede sein. Nicht Eskalation findet statt, sondern es es gibt gerade einen Teufelskreis der Deeskalation und Aggression: Die Polizisten werden attackiert. Sie versuchen zu deeskalieren. Das bestärkt wiederum die Aggression.



In "Deutschland schafft sich ab" schreibt Sarrazin über die Kriminalität jugendlicher türkischer und arabischer Täter:
Aber im Integrationsbericht der Bundesregierung wird deren Kriminalität relativiert. (...) Bei diesem Geschwurbel wird offenbar empirische Wissenschaft mit politischer Theologie verwechselt. Wem ist eigentlich geholfen, wenn man offenkundige Tatsachen unterdrückt, die selbst die einsichtigen Betroffenen nicht leugnen. (S. 297)
Der Artikel von Jörg Diehl scheint mir darauf hinzudeuten, daß die Tatsachen heute weniger unterdrückt werden als zu der Zeit, als Thilo Sarrazin sein Buch schrieb. Die Diskussion im Herbst 2010 war nicht vergebens.

Von diesem Buch kündigt der Verlag übrigens jetzt eine Paperback-Ausgabe an. Falls Sie es also noch nicht haben - es ist aus meiner Sicht eines der wichtigsten politischen Bücher der letzten Jahrzehnte. Auch als eBook zu kaufen.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Thilo Sarrazin und Necla Kelek bei der Vorstellung von Sarrazins Buch am 30. August 2010. Vom Autor Richard Hebestreit unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic-Lizenz freigegeben.