13. September 2011

Schöner die Statistik der Gemeinde - Mach mit! Ein Gastbeitrag von Stefanolix

Anfang der achtziger Jahre sprach Günter Gaus über die DDR als Nischengesellschaft. Dieser Begriff beschreibt einen Rückzug ins Private und in kleinere Gemeinschaften. Ich hörte von der Nischengesellschaft zum ersten Mal in der Evangelischen Studentengemeinde, als uns Studenten aus Karlsruhe besuchten. Dieser Begriff verbreitete sich in unseren Kreisen sehr schnell.

Wer in der DDR zur Schule gegangen ist und die ersten Jahre des Berufslebens erlebt hat, kennt auch noch viele Begriffe, Schlagworte und Parolen der sozialistischen Planwirtschaft. Damals gab es z.B. den unfreiwilligen Arbeitseinsatz "Subbotnik", die Initiative "Schöner unsere Städte und Gemeinden — Mach mit!" oder die Bewegung "Messe der Meister von morgen".

Wie konnte die DDR diese Bewegungen aufrechterhalten, obwohl sich das Land doch zweifellos zur Nischengesellschaft entwickelt hatte? Die meisten DDR-Bürger hatten sich seit 1970 auf das Leben im sozialistischen System eingestellt: Sie gaben dem Staat seine Zahlen und wollten in ihrer privaten Nische in Ruhe gelassen werden.

Der Staat vereinnahmte dafür auch private oder halbprivate Initiativen seiner Bürger. So konnte die SED den Widerspruch zwischen Ideologie und Realität ausgleichen.

Es kam z.B. oft vor, dass einige Leute aus einem Mehrfamilienhaus die Gestaltung des eigenen Vorgartens in die Hand nahmen. Warum nicht? Man will schließlich in einer schönen Umgebung wohnen. In der staatlich gelenkten Presse wurde das als Beitrag zur Stärkung des Sozialismus im Rahmen der Volkswirtschaftlichen Masseninitiative (VMI) Schöner unsere Städte und Gemeinden — Mach mit! dargestellt. Am Ende standen Zeitungsmeldungen mit Millionen von glücklichen Werktätigen und Hunderttausenden von gepflegten Vorgärten.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durften natürlich nicht hinterfragt werden. Die Herren im Politbüro wussten ja am besten, was gut für die Bevölkerung war. In der DDR-Bevölkerung sprach man spöttisch nur noch von "Tonnenideologie", wenn zentral irgendwelche Plankennziffern vorgegeben und abgerechnet wurden, die mit der Realität nichts zu tun hatten.

In diesem Artikel geht es um Vorgänge, die mich immer mehr an die DDR erinnern. Ich sehe heute — vor allem in vielen Zeitungsmeldungen zum Klimaschutz — immer wieder Zahlen, die anscheinend auf ganz ähnliche Weise zustande kommen. Ich frage mich oft: Warum hinterfragt diese Zahlen niemand?



Auch im Jahr 2011 sollen die Bürger wieder mit einer Initiative zu großen und schönen Zahlen beitragen. Viele Städte haben ihre Bewohner dazu aufgerufen, drei Wochen lang das Fahrrad zu nutzen und die gefahrenen Kilometer bei der Stadt abzurechnen. Die Stadt Dresden beteiligt sich an dieser Aktion. Dabei wird natürlich nicht hinterfragt, ob in Dresden die Rahmenbedingungen für den Radverkehr gut sind. In der DDR sollte man ja damals auch nichts hinterfragen.

Wenn man sich in Dresden umschaut, stellt man sehr schnell fest: Die Bedingungen für den Radverkehr sind schlecht. Das hat viele Ursachen: 40 Jahre Mangelwirtschaft in der DDR, Desinteresse der meisten Politiker, schlechte Planungen der städtischen Behörden. Die Fahrradfahrer werden oft an den Rand gedrängt, viele Radwege sind in einem schlechten Zustand, und ausgerechnet die umweltbewussten Radfahrer aus dem alternativen Stadtviertel Dresden-Neustadt werden oft abkassiert, wenn sie auf den Rad- oder Fußwegen die falsche Richtung einschlagen.

Die Dresdner Stadtverwaltung konzentriert sich auf Maßnahmen, die nicht viel kosten und bei denen schöne Bilder entstehen. Sie eröffnet z.B. für die Touristen eine Augustus-Radroute mitten durch die schönste Fußgängerzone der Stadt. Ein paar Schilder kosten wenig Geld, aber die Route ändert für den Radverkehr überhaupt nichts. Die Radfahrer sind schon immer durch diese Straße gefahren. Die Verwaltung schreibt:
Hinsichtlich der Anforderungen des Klimaschutzes stellt die Erhöhung des Radverkehrsanteils einen wichtigen Baustein in den Bemühungen der Landeshauptstadt dar. Dabei genügt es nicht, für gute Radverkehrs-bedingungen zu sorgen, sondern es bedarf ebenso einer unterstützenden Öffentlichkeitsarbeit. Das Stadtradeln zielt genau in diese Richtung.
Es bedarf nur deshalb einer "unterstützenden Öffentlichkeitsarbeit", weil die Bedingungen für den Radverkehr in Dresden so schlecht sind. Die Bürger können selbst am besten entscheiden, wie sie ihre täglichen Wege erledigen. Wären die Radwege so gut wie in München, würde das Fahrrad auch eine viel größere Rolle spielen.



Die Initiative Stadtradeln betreibt ein eigenes Blog mit Geschichten von Radfahrern aus ganz Deutschland. Es ist eine Fundgrube für Schriftsteller und Drehbuchautoren. In einer Gesprächsrunde mit vier Teilnehmern der Aktion wurde gefragt:
"Gab es denn in den drei Wochen als Stadtradler einen Moment, wo man gesagt hat: Blöd, dass ich jetzt kein Auto habe?"

A.G.: "Nein, gab es gar nicht, ich fahre ja schon seit Jahren alles mit dem Rad."
Und worin besteht dann der Fortschritt? — Der Rest des Gesprächs wird fast zu einer Realsatire über die deutsche Befindlichkeit des Jahres 2011. Ein anderer Teilnehmer des Stadtradelns beschreibt seinen inneren Konflikt beim Mitfahren mit dem Auto zu einer Einladung auf dem Land. Dabei hätte er doch gesehen werden können. Welche Schmach! — Eine Teilnehmerin berichtet über die Erledigung ihrer Einkäufe:
Auf dem Fahrrad, ich hab keinen Gepäckträger, mit dem Rucksack. Ich bin manchmal hingefahren zu Penny und wieder zurück, dann bin ich zu Edeka gefahren und wieder zurück und dann zum Kaufpark gefahren und wieder zurück. Ich hab jetzt wirklich durchgehalten, hab auch richtig diese Literflaschen ..."
Bei diesem heroischen Radeln für den Klimawandel kommen natürlich viele Kilometer zusammen. Die ökologischen Folgen des Einkaufs eines Mineralwasserkastens mit dem Auto scheinen kaum noch vorstellbar.

Vor vielen Jahren haben wir über die Öko-Spießer in einem Film von Otto Waalkes gelacht, weil sie einen gebrauchten Teebeutel für die Mülltrennung in die Bestandteile Tee, Beutel, Schnur, Etikett und Metallring aufgedröselt haben. Heute schreibt das Leben fast noch bessere Drehbücher.



Die Zahlen der "Radlerischen Masseninitiative" im Jahr 2011 können natürlich ebenso wenig überprüft werden wie die VMI-Zahlen des Jahres 1981. Jeder kann irgendwelche Werte melden, und niemand fragt nach, wie sie entstanden sind. Allerdings gibt es 22 Jahre nach Ende der DDR einen großen Fortschritt: Heute können die Zahlen viel bunter dargestellt und viel besser aufgebauscht werden.

Das geht so: Die Stadt Dresden hat eine Website zur Erfassung der gefahrenen Rad-Kilometer verlinkt. Alle Kilometer werden in einer Datenbank erfasst. Jeder Kilometer wird dann mit einem CO2-Wert von 144 Gramm multipliziert, damit man am Ende eine Einsparung von ganz vielen Tonnen Kohlenstoffdioxid melden kann. Hier ist die Website zur Auswertung; die Zahlen stehen heute noch auf Null. Die ganze Berechnung ist völliger Humbug, aber das Diagramm sieht wirklich sehr schön aus.

Nachdem schon die erfassten Zahlen keiner Überprüfung standhalten, sind die daraus abgeleiteten Kennzahlen erst recht völlig aus der Luft gegriffen. 144 Gramm CO2 pro Kilometer werden nur eingespart, wenn man von einem Auto auf das Rad umsteigt und wenn man mit dem Rad exakt die gleichen Strecken zurücklegt.

Ich fahre jede Woche etwa 200 Kilometer mit dem Rad, und ich habe kein Auto. Aus meinen gefahrenen Kilometern würde sich eine Einsparung von 28,8 Kilogramm Kohlenstoffdioxid pro Woche ergeben. Diese Einsparung wäre aber rein fiktiv. Hätte ich kein Fahrrad, würde ich mit Bus oder Bahn fahren. Oft bestelle ich mir auch ein Taxi, oder ich laufe einfach ein paar Kilometer.

Welchen Teil der Bevölkerung spricht man denn mit solchen Aktionen an? Es sind die Leute, die heute schon mit dem Rad, mit der Bahn, in Fahrgemeinschaften oder mit dem Bus zur Arbeit fahren. Passenderweise lässt die Initiative ausgerechnet einen Fahrradkurier aus Dresden für die Aktion werben. Der junge Mann kann dann seine tägliche Arbeit als CO2-Einsparung melden. Und dazu kommen noch ein paar grün eingefärbte Kommunalpolitiker, die auch mal wieder in der Zeitung stehen wollen.

Natürlich könnte ich mich auf dieser Website registrieren lassen. Aber ich will mich mit meinen Rad-Kilometern weder von der Stadtbürokratie noch von den Umweltaktivisten vereinnahmen lassen. Ich will nicht, dass aus meinen Kilometern nutzlose Zahlen abgeleitet werden. Ich will endlich Taten sehen: Dresden soll eine Stadt werden, in der Radfahren Spaß macht, und in der das Rad ein anerkanntes Fortbewegungsmittel ist. Auf die CO2-Tonnenideologie der Bürokraten und Funktionäre kann ich sehr gut verzichten.

Wenn man sich die Zielgruppen und Rahmenbedingungen der Aktion genau anschaut, wird schnell klar: Jede Zahl, die diese Initiative als Wert der Einsparung von CO2 am Ende veröffentlicht, ist eine reine Luftnummer. So kann man vielleicht über viele Details lachen, aber die spannende Frage ist doch: Wie lange lässt sich die Bevölkerung noch mit solchen Zahlen abspeisen? Lenken uns solche Spielchen nicht von wichtigeren Dingen ab?

Ich habe beim Kirchentag in Dresden erlebt, mit welchen ökopropagandistischen Nebensächlichkeiten sich viele Teilnehmer abgegeben haben. Die CO2-Einsparung hatte plötzlich einen viel höheren Stellenwert als der Hunger in Afrika. Man klebte grüne Wunschvorstellungen an bunte Stellwände und fühlte sich dann so gut, als ob man an einem Tag viermal mit dem Fahrrad eingekauft hätte.

Ende der 1980er Jahre waren viele Bürger der DDR so weit, dass sie sich nichts mehr vormachen ließen. Ich würde gern noch erleben, dass die Zahlen auch in der heutigen Zeit wieder gründlicher hinterfragt werden.
Stefanolix



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