2. September 2011

Zitate des Tages: Scharia im neuen Libyen

Der Islam wird eine Quelle der Gesetzgebung sein, aber eine Islamisierung des Justizwesens muss man nicht befürchten.
Dr. Tilmann Röder, der als juristischer Berater mit Mitgliedern des Nationalen Übergangsrats (NTC) in Bengasi gesprochen hat, gegenüber der "Zeit" vom 25. 8. 2011 über seinen Eindruck von diesen Gesprächen.

Libya is a democratic, independent state with Tripoli its capital, Islam its religion, sharia, Islamic law as the main source of legislation and Arabic as its official language.

(Libyen ist ein demokratischer, unabhängiger Staat mit der Hauptstadt Tripolis, mit dem Islam als Religion, mit der Scharia, dem islamischen Gesetz, als Hauptquelle der Gesetzgebung und Arabisch als Amtssprache.)
Aus der Verfassungserklärung (Constitution Declaration) des NTC, die am 31. 8. 2011 von Reuters verbreitet wurde.

Kommentar: Dr. Röder ist Mitarbeiter eines Drittmittelprojekts am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Seine Informationen gehen offenbar auf eine "Erkundungsmission" zurück, die im Juni 2011 Institutsmitarbeiter nach Bengasi führte, "wo sie erste Informations- und Beratungsgespräche führten".

Als ich das Interview mit Dr. Röder las, schien mir, daß der ungemein positive Eindruck, den er offenbar aus Bengasi mitgebracht hat, wenig mit der tatsächlichen Lage zu tun hat (zu ihr siehe zum Beispiel Wer sind die Kräfte, die jetzt in Libyen den Sieg für sich beanspruchen werden?; ZR vom 23. 8. 2011, und "Eine verfrühte Siegesfeier"; ZR vom 31. 8. 2011). Aber seine Mitteilungen über das vom NTC geplante Rechtssystem im neuen Libyen konnte ich mangels anderer Quellen nicht widerlegen; deswegen habe ich das damals nicht kommentiert.

Jetzt liegt also eine Information aus der besten Quelle vor, die man sich wünschen kann, nämlich vom NTC selbst. Sie läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig und zeigt, daß man Dr. Röder entweder hinters Licht geführt hat oder dieser seine Gesprächspartner falsch verstanden hat.

"Der Islam wird eine Quelle der Gesetzgebung sein" sagt Röder. Die Scharia erwähnt er gar nicht. Laut NTC aber wird die Scharia die Hauptquelle (the main source) der Gesetzgebung sein.

Zwischen den beiden Aussagen liegen Welten. Ein Staat, in dem der Islam eine der Quellen der Gesetzgebung neben anderen ist, kann ein halbwegs freiheitlicher Staat sein. Ein Staat, in dem die Scharia die Hauptquelle der Gesetzgebung ist, ist ein islamistischer Staat.

Weiterhin ist zu bedenken, daß es ja völlig offen ist, welche Rolle der NTC in einem Libyen nach Gaddafi spielen wird. Wie stets in einer Diktatur weiß niemand, was das Volk tatsächlich denkt und welchen politischen Kräften es zuneigt. Die Libyer könnten, wenn sie erst einmal frei entscheiden können, ganz andere Kräfte wählen als diejenigen, die jetzt im NTC den Ton angeben.

Noch steht die Nagelprobe für den "Arabischen Frühling" überall aus. Nirgends hat es bisher freie Wahlen gegeben. In Tunesien und in Ägypten sind sie geplant. Dann wird man sehen, wie stark die Islamisten sind und wie stark die - nach islamischen Maßstäben - freiheitlichen Kräfte, die jetzt im NTC vertreten sind und die zwar einerseits eine auf der Scharia basierende Gesetzgebung, andererseits aber doch auch demokratische Freiheiten ankündigen. Wie immer sie das unter einen Hut bringen wollen.
Zettel



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