27. September 2011

Neues aus der Forschung (11): Neutrinos, schneller als das Licht. Ist Einstein jetzt überholt? Zum Umgang mit wissenschaftlichen Anomalien (Teil 2)

Gute Wissenschaftler sind revolutionäre Konservative. Sie geben einerseits das Bewährte nur ungern auf. Denjenigen Messungen, die immer wieder bestätigt wurden, vertraut man; Theorien, die sich in vielen Überprüfungen bewährt haben, läßt man nicht leichtfertig fallen. Andererseits ist kaum etwas aufregender als ein überraschender Befund, welcher den theoretischen Erwartungen widerspricht. Er ist eine Herausforderung, ein Stimulans. Zumal wenn es sich - wie im ersten Teil dieses Artikels beschrieben - um eine Anomalie handelt.

Wenn bei der Besprechung einer Arbeitsgruppe oder auf einer kleinen Arbeitstagung, die Zeit für Diskussionen bietet, jemand einen unerwarteten Befund berichtet, dann ist die Erregung förmlich mit Händen zu greifen, die sich im Raum ausbreitet. Die Wortmeldungen häufen sich; die Atmosphäre ist intellektuell aufgeladen. Ich habe solche Momente immer als Höhepunkte meiner wissenschaftlichen Arbeit erlebt.

Ideen werden vorgetragen; Ideen nun freilich ganz unterschiedlicher Art, je nach Temperament. Denn Herausforderungen können solche verwunderlichen Befunde auf zwei Weisen sein; unter zwei gewissermaßen antagonistische Aspekten:

Die einen machen Vorschläge, wie man den Befund hinweg erklären und damit die bedrohte Theorie retten kann. Das sind die skeptischen Methodiker. Sie fragen nach Fehlerquellen, klopfen die Statistik ab, zweifeln an der Verallgemeinerbarkeit der Daten. Sie vertreten das Konservative im Wissenschaftler.

Die anderen sind schon weiter und überlegen, wie man die Theorie so modifizieren - oder sie vielleicht gar durch eine andere ersetzen? - könnte, daß der Befund paßt; daß Theorie und Daten wieder im Einklang stehen. Das sind die theoretischen Köpfe. Für sie, die mehr revolutionär Gesonnenen, ist der überraschende Befund nichts Anstoßerregendes; vielmehr der willkommene Anstoß zum Entwickeln neuer Gedanken.



Das ist jetzt, wie anders, sehr grob gezeichnet. In jedem guten Wissenschafter steckt Beides. Ein klassisches Beispiel ist Max Planck. In seinem im ersten Teil dieses Artikels erwähnten Buch schildert Manjit Kumar, wie Planck zum Konzept des Energiequants kam.

Es ging um ein Phänomen, das man beim Schmieden beobachten kann: In Abhängigkeit von seiner Temperatur zeigt das zu schmiedende Eisen verschiedene Farben. Es glüht erst dunkelrot, dann hellrot, orange, gelb und wird schließlich weißglühend. Es besteht also offenbar ein Zusammenhang zwischen der Intensität der thermischen Strahlung und der Frequenzverteilung des abgestrahlten sichtbaren Lichts.

Ideal kann man diese Verhältnisse für einen sogenannten Schwarzen Körper untersuchen. Bei dem Versuch, hierfür eine mathematische Beschreibung zu finden, kam Planck zu dem Ergebnis, daß eine befriedigende Lösung die Annahme verlangte, daß die von dem Schwarzen Körper abgegebene Energie sich in Abhängigkeit von der Temperatur nicht kontinuierlich ändert, sondern in diskreten Schritten.

Es schien sich also nicht wie bei einer schiefen Fläche zu verhalten, die ein Fahrzeug empor- oder hinabrollt und auf der seine Höhe sich kontinuierlich ändert, sondern wie bei einer Treppe. So, wie man auf ihr mit jedem Schritt um einen bestimmten konstanten Betrag steigt, nimmt Energie um jeweils konstante Beträge zu oder bei Verminderung ab. Diese diskreten Zuwächse oder Verminderungen der Energie - vergleichbar den Treppenstufen - nannte Planck Quanten.

Als er am 14. Dezember 1900 seine Gleichungen vor der Berliner Physikalischen Gesellschaft vortrug, sah Planck dies als Lösung des Problems, eine mathematische Beschreibung - ein Modell - des gesuchten Zusammenhangs bei einem Schwarzen Körper zu finden. Daß Quanten wirklich "existieren", glaubte er nicht. Seine Vermutung war, daß sich nur in dieser speziellen Situation des Schwarzen Köpers die Abgabe von Energie (durch Oszillatoren, die er modelliert hatte) in diskreten Quanten abspielte; daß Energie als solche aber kontinuierlich veränderbar sei.

Der Konservative in ihm wehrte sich gegen eine radikale Abkehr von dem Prinzip natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge. Sein Schüler und dann Kollege James Franck hat später Plancks hoffnungslosen Kampf gegen die Annahme geschildert, daß es Quanten wirklich gebe. Schließlich räumte er das ein. Er sei ein "Revolutionär wider Willen" gewesen, meint Franck.

Wissenschaftliche Revolutionen werden eben nicht mutwillig vom Zaun gebrochen. Wenn eine Theorie, wenn eine Grundvorstellung wie die von der Kontinuität in der Natur sich bewährt hat, dann gibt man sie erst dann auf, wenn die Daten das erzwingen.



Kehren wir nun zu dem Sachverhalt zurück, den ich im ersten Teil geschildert habe; zu dem vom Team des OPERA-Experiments berichteten Befund, daß die gemessene Geschwindigkeit von Neutrinos höher war als die Lichtgeschwindigkeit. Eine ausgeprägte Anomalie; denn dieser Befund widerspricht der Grundaussage der Speziellen Relativitätstheorie, daß keine Bewegung schneller sein kann als die Lichtgeschwindigkeit.

Die Nachricht von diesem sensationellen Ergebnis hatte sich deshalb schon vor der ersten Publikation am 22. September unter den Fachleuten verbreitet. Bereits am Montag vergangener Woche, also am 19. September, hatte sie der Teilchenphysiker Tommaso Dorigo, der ebenfalls am CERN in Genf arbeitet, in seinem Blog mitgeteilt. Er mußte den Artikel aber wieder löschen, weil ihm Sanktionen bis hin zur Entlassung angedroht worden waren.

Inzwischen konnte er den Artikel wieder in seinen Blog stellen, nachdem es eine erste offizielle Publikation sowie eine Pressemitteilung von CERN gab.

Dorigo argumentiert als der typische skeptische, konservative Methodiker; ähnlich wie Lisa Grossman im New Scientist. Ich fasse die Argumente dieser beider Autoren zusammen:
  • Widerspruch zu anderen Messungen. Neben Messungen mit Methoden ähnlich denen im OPERA-Experiment gibt es Bestimmungen der Geschwindigkeit von Neutrinos mit einer ganz anderen Methode. Im Februar 1987 erreichte das Licht einer Supernova (eines explodierenden Sterns) aus dem Tarantel-Nebel in der Großen Magellanschen Wolke die Erde. Die Energie solcher Supernovas besteht hauptsächlich aus Neutrinos.

    Man konnte somit den Zeitpunkt des Auftreffens dieser Neutrinos mit dem Zeitpunkt vergleichen, zu dem das Licht von derselben Explosion eintraf. Diese Messungen ergaben dieselbe Geschwindigkeit für das Licht und die Neutrinos. Wären die Neutrinos so viel schneller gewesen als das Licht, wie es das OPERA-Experiment zu zeigen scheint, dann hätten sie 4,14 Jahre vor diesem auf der Erde eintreffen müssen!

  • Das Problem der Meßgenauigkeit. Als die Ergebnisse des OPERA-Experiments am Freitag auf einem Seminar im CERN vorgestellt wurden, sagte einer der leitenden Wissenschaftler, Dario Autiero, im Grunde sei die Sache ganz einfach. Man habe nur drei präzise Messungen gebraucht: Die Entfernung zwischen dem Startpunkt der Neutrinos im CERN und dem Detektor in Gran Sasso, der ihr Eintreffen registrierte. Sodann den Zeitpunkt, zu dem sie ihre Reise begannen. Drittens den Zeitpunkt, zu dem sie auf den Detektor auftrafen.

    Die Entfernung (730.534,61 m) wurde mittels GPS-Messungen auf 20 cm genau bestimmt. Den Zeitpunkt des Auftreffens kann ein solcher Detektor (Blei mit einer darüberliegenden lichtempfindlichen Emulsion) sehr genau messen. Der Detektor wurde mittels Cäsium-Uhren mit dem Teilchenbeschleuniger im CERN synchronisiert. Solche Uhren weisen über 30 Millionen Jahre eine Abweichung von nur einer Sekunde auf.

    Und doch gab es einen Unsicherheitsfaktor, den Autiero allerdings nicht erwähnt zu haben scheint: Der Zeitpunkt, zu dem die Neutrinos den Teilchenbeschleuniger verließen, konnte nicht direkt gemessen werden. Die Neutrinos werden erzeugt, indem man Protonen mit hoher Geschwindigkeit auf eine Fläche auftreffen läßt. Dabei entstehen zunächst Pionen und Kaonen (auch sie Teilchen aus dem Teilchenzoo), die dann in Neutrinos zerfallen. Der Zeitpunkt, zu dem ein Neutrino den Beschleuniger verläßt, konnte nicht unmittelbar gemessen, sondern nur aus anderen Zeitparametern dieses gesamten Prozesses abgeleitet werden.

  • Statistische Argumentation. Und drittens gibt es einen grundsätzlichen Einwand gegen jede solche Messung: Die für die einzelnen Neutrinos gemessenen Geschwindigkeiten weisen eine Streuung auf. Nicht bei jeder einzelnen der mehr als 10.000 Messungen lag die Geschwindigkeit des Neutrinos über der Lichtgeschwindigkeit. Erst statistische Berechnungen zeigten die Abweichung. Solche Berechnungen besagen aber strenggenommen nur: Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eine solche Abweichung von der Lichtgeschwindigkeit zufällig zustandekam (also der Ungenauigkeit geschuldet war, mit der jede Messung behaftet ist). Logisch ausgeschlossen ist das aber nicht.
  • Letzlich haben wir es also mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Das OPERA-Experiment "beweist" nicht, aber macht es wahrscheinlicher als zuvor, daß Neutrinos schneller sein könnten als das Licht.

    Die Frage ist, was man aus solch einer Wahrscheinlichkeit macht. Reicht sie aus, um über Alternativen zur Speziellen Relativitätstheorie nachzudenken; oder über Erweiterungen oder Ergänzungen? Wie signifikant muß ein statistischer Unterschied sein, um theoretische Konsequenzen zu erfordern? Falls Sie sich für solche Fragen interessieren und Grundkenntnisse in Statistik haben, finden Sie dazu hier eine spannende Diskussion.



    Eingesetzt jedenfalls hat das Nachdenken schon. Denn während die Konservativeren unter den Wissenschaftlern sich noch in Methodenkritik üben, sind die Revolutionäre bereits aufgebrochen.

    Science News berichtete am Freitag beispielsweise über die Gedanken, die sich der Theoretische Physiker Matthew Mewes from Swarthmore College schon seit Längerem macht. Er möchte die Symmetrieannahme aufgeben, nach der die Gesetze der Physik sich gleich darstellen; unabhängig davon, in welchem Bezugssystem sich der Beobachter befindet. Das freilich wäre eine grundlegende Revolutionierung der Physik; vergleichbar vielleicht dem Wechsel vom ptolemäischen zum kopernikanischen Weltbild.

    Nicht ganz so kühn denkt sein Kollege, der Theoretische Physiker Marc Sher vom College of William and Mary in Williamsburg im US-Bundesstaat Virginia. Er ist - wie wahrscheinlich im Augenblick die meisten aus dieser scientific community - in Bezug auf die Implikationen des OPERA-Experiments halb Konservativer und halb Revolutionär; ganz wie einst Max Planck.

    Daß die OPERA-Messung stimmt, hält Sher für noch nicht erwiesen. Aber angenommen, sie ist richtig - dann könnte sie, sagt er, vielleicht erklärt werden, ohne daß man die Relativitätstheorie opfern müßte. Es könnte neben den vier Dimensionen der Raumzeit noch weitere Dimensionen geben, durch welche die schnellen Neutrinos gewissermaßen hindurchtunneln. Eine ähnliche Vermutung äußerten der Neutrino-Astronom John Learned von der Universität von Hawaii und Antonino Zichichi, emeritierter Professor der Universität Bologna. Zichichi wies darauf hin, daß solche weiteren Dimensionen von der Stringtheorie postuliert werden.

    Man kann sich das so klarmachen: Solange ein Bogen Papier flach auf dem Schreibtisch liegt, sind zwei Punkte nah jeweils seiner oberen und seiner unteren Kante, sagen wir, 20 cm voneinander entfernt. Wie kann man diese Entfernung verkürzen? Ganz einfach: Wir begeben uns in die Dritte Dimension, indem wir den Bogen zu einem Zylinder zusammenrollen. Schon liegen die beiden Punkte nah beieinander.
    Zettel



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.