Am 22. September veröffentlichten 174 (ja, 174) Autoren auf der wissenschaftlichen Internetplattform arXiv.org einen Artikel, der eine wissenschaftliche Sensation enthielt. Auf S. 19 findet sich der entscheidende Satz: "Therefore, the measurement indicates an early arrival time of CNGS muon neutrinos with respect to the one computed assuming the speed of light in vacuum". Somit zeige die CNGS-Messung eine frühere Ankunftszeit der Muonen-Neutrinos als diejenige, die berechnet wurde, legt man die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum zugrunde. (CNGS - CERN Neutrinos to Gran Sasso - ist der Name dieses Forschungsprojekts).
Warum dieser Befund sensationell ist, haben Sie im Lauf der vergangenen Tage gelesen: Weil die Spezielle Relativitäts-theorie es ausschließt, daß ein Teilchen mit einer höheren als der Lichtgeschwindigkeit fliegt. Photonen können sich nur deshalb mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, weil sie keine Masse haben. Mit wachsender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit würde jede Masse immer größer werden und auf eine unendliche Größe zustreben; ihre Geschwindigkeit kann deshalb die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten. Neutrinos haben aber (siehe unten) eine, wenngleich kleine, Masse. Das Ergebnis des CNGS-Experiments scheint somit eine Anomalie zu zeigen.
Ist also, wie der Leiter der Redaktion "Natur und Wissenschaft" der FAZ, Joachim Müller-Jung, fragt, "Einstein überholt"? Oder muß er jedenfalls "zittern", wie Müller-Jungs Kollege Manfred Lindinger befürchtet?
Im Folgenden möchte ich zunächst einige Informationen über den Hintergrund dieses Experiments geben und dann erläutern, was eine wissenschaftliche Anomalie ist. Im zweiten Teil wird es dann darum gehen, wie die Teilchenphysik bisher auf diesen Befund reagiert hat, und warum.
Das Experiment, das jetzt so viel Aufsehen erregt, wurde keineswegs unternommen, um die Geschwindigkeit von Neutrinos zu messen. Es ging vielmehr um sogenannte Oszillationen von Neutrinos.
Neutrinos sind exotische Geschöpfe im subatomaren Teilchenzoo; also auf der Ebene der Partikel, die kleiner sind als Atome, teilweise deren Bestandteile. Sie haben zwei besondere Eigenschaften: Ihre Masse ist sehr klein, und sie weisen keine elektrische Ladung auf. Dadurch können sie problemlos durch Materie hindurchfliegen, wie "eine Gewehrkugel durch eine Nebelwolke".
Es gibt sehr, sehr viele von diesen Neutrinos, die vor allem von der Sonne kommen. Durch jeden Quadratzentimeter Materie, auf den das Sonnenlicht senkrecht auftrifft, fliegen in jeder Sekunde ungefähr 65 Milliarden von ihnen hindurch. Unser Körper wird ständig von Neutrinos - nein, eben nicht durchlöchert. Ein Loch hinterläßt nur, was auf Materie trifft. Und die Neutrinos gleiten zwischen den Atomen unseres Körpers elegant hindurch, ohne in der Regel irgendwo anzustoßen; ungefähr so, wie ein Surfer über die Wellen gleitet, ohne mit anderen Surfern oder mit Booten zu kollidieren.
Zahlen wie die genannte 65 Milliarden pro Sekunde lassen Teilchenphysiker vergleichsweise kalt; das ist ihre Standardwelt. Aber etwas Anderes fasziniert sie an den Neutrinos: Sie sind Verwandlungskünstler. Es gibt drei Typen oder flavors ("Aromen"), nämlich Elektron-Neutrinos, Muon-Neutrinos und Tau-Neutrinos, die sich in ihren Eigenschaften unterscheiden. Und seltsamerweise kann sich ein- und dasselbe Neutrino von einem dieser Typen in einen anderen verwandeln.
Das ist die sogenannte Oszillation; eines der vielen spukhaften Phänomenem, die wir auf der Ebene der Quanteneffekte finden. Diese Oszillation war es, mit der sich das Team des OPERA-Experiments (Oscillation Project with Emulsion-tRacking Apparatus) innerhalb des CNGS-Projekts befassen wollte. Als ein unerwarteter Nebeneffekt wurde die Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit gemessen.
Es war also eine Anomalie gefunden worden. Anomalien (von dem griechischen Wort "Nomos", Gesetz) sind Abweichungen von Gesetzmäßigkeiten. Diese können schlicht in Erfahrungswerten bestehen; in der Klimaforschung werden Abweichungen vom langfristigen Mittelwert zum Beispiel als Anomalien bezeichnet. Meist aber ist die Abweichung von theoretisch begründeten Erwartungen gemeint; im Extremfall die Verletzung eines Naturgesetzes - oder dessen, was man bis dahin dafür hielt.
Die Verletzung des Gesetzes, daß es keine Bewegung geben kann, die schneller ist als die Lichtgeschwindigkeit, wäre eine der härteren Anomalien. Aber auch das hat es gegeben.
Eine Liste von Anomalien in den verschiedenen Wissenschaften finden Sie hier. Ein sehr schönes Buch, das die Forschungsgeschichte zu einer Reihe von Anomalien im Detail nachzeichnet, ist 13 Things that don't make sense von Michael Brooks (deutsch "Das Licht war früher auch mal schneller. 13 ungelöste Rätsel der Wissenschaft").
Ein klassisches Beispiel für eine Anomalie ist das Experiment von Albert Michelson und Edward Morley im Jahr 1887, in dem es ebenfalls um die Lichtgeschwindigkeit ging.
Man kannte damals nur die Wellennatur des Lichts, noch nicht seine Teilchennatur. Wellen können sich, so war man überzeugt, nur in einem Medium fortpflanzen; wie beispielsweise Wasserwellen im Wasser und Schallwellen in der Luft. Also mußte es auch für Licht ein Medium geben; und zwar ein Medium, das auch im Vakuum existiert. Man nannte es den Äther. Wir benutzen dieses Wort heute noch, wenn wir beispielsweise von "Ätherwellen" sprechen oder wenn wir sagen, daß sich ein Vogel durch den Äther schwingt.
Die Erde, so dachte man es sich, bewegt sich relativ zum Äther, so wie ein Flugzeug sich relativ zur Luft bewegt. Dabei ensteht eine Luftströmung entlang des Flugzeugs; und eine analoge Ätherströmung wollten Michelson und Morley messen. Wenn Licht sich in derselben Richtung wie die Erde durch den Äther bewegt, dann sollte es aufgrund des Ätherwinds schneller sein als dann, wenn es sich entgegen der Bewegungsrichtung der Erde bewegt; ungefähr so, wie ein Radfahrer mit Rückenwind schneller fährt als mit Gegenwind. (Die tatsächliche Argumentation war komplizierter; aber das Beispiel illustriert das Grundprinzip).
Das Experiment ergab jedoch keine solche Differenz. Offenbar gab es gar keinen Äther, relativ zu dem sich das Licht bewegt. Die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum ist - so mußte man schließen - vielmehr konstant.
Diese Anomalie leitete einen Umbruch der Physik ein, der schließlich zur Relativitätstheorie und zur Quantenmechanik führte. Auch hierzu möchte ich Ihnen ein Buch empfehlen; es ist noch schöner und spannender als das von Michael Brooks und verbindet auf faszinierende Weise die Lebensgeschichte von Forschern wie Bohr, Planck und Einstein mit der Forschungsgeschichte: Quantum: Einstein, Bohr and the Great Debate About the Nature of Reality von Manjit Kumar (deutsch "Quanten: Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit").
Ob die jetzigen Messungen der Geschwindigkeit von Neutrinos zu einem ähnlichen Umbruch der Physik führen, ist ungewiß. Die meisten Teilchenphysiker, die sich bisher dazu geäußert haben, glauben das nicht. Warum sie skeptisch sind und welche Vermutungen sie über diesen Befund anstellen, erläutere ich im zweiten Teil.
Warum dieser Befund sensationell ist, haben Sie im Lauf der vergangenen Tage gelesen: Weil die Spezielle Relativitäts-theorie es ausschließt, daß ein Teilchen mit einer höheren als der Lichtgeschwindigkeit fliegt. Photonen können sich nur deshalb mit Lichtgeschwindigkeit bewegen, weil sie keine Masse haben. Mit wachsender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit würde jede Masse immer größer werden und auf eine unendliche Größe zustreben; ihre Geschwindigkeit kann deshalb die Lichtgeschwindigkeit nicht überschreiten. Neutrinos haben aber (siehe unten) eine, wenngleich kleine, Masse. Das Ergebnis des CNGS-Experiments scheint somit eine Anomalie zu zeigen.
Ist also, wie der Leiter der Redaktion "Natur und Wissenschaft" der FAZ, Joachim Müller-Jung, fragt, "Einstein überholt"? Oder muß er jedenfalls "zittern", wie Müller-Jungs Kollege Manfred Lindinger befürchtet?
Im Folgenden möchte ich zunächst einige Informationen über den Hintergrund dieses Experiments geben und dann erläutern, was eine wissenschaftliche Anomalie ist. Im zweiten Teil wird es dann darum gehen, wie die Teilchenphysik bisher auf diesen Befund reagiert hat, und warum.
Das Experiment, das jetzt so viel Aufsehen erregt, wurde keineswegs unternommen, um die Geschwindigkeit von Neutrinos zu messen. Es ging vielmehr um sogenannte Oszillationen von Neutrinos.
Neutrinos sind exotische Geschöpfe im subatomaren Teilchenzoo; also auf der Ebene der Partikel, die kleiner sind als Atome, teilweise deren Bestandteile. Sie haben zwei besondere Eigenschaften: Ihre Masse ist sehr klein, und sie weisen keine elektrische Ladung auf. Dadurch können sie problemlos durch Materie hindurchfliegen, wie "eine Gewehrkugel durch eine Nebelwolke".
Es gibt sehr, sehr viele von diesen Neutrinos, die vor allem von der Sonne kommen. Durch jeden Quadratzentimeter Materie, auf den das Sonnenlicht senkrecht auftrifft, fliegen in jeder Sekunde ungefähr 65 Milliarden von ihnen hindurch. Unser Körper wird ständig von Neutrinos - nein, eben nicht durchlöchert. Ein Loch hinterläßt nur, was auf Materie trifft. Und die Neutrinos gleiten zwischen den Atomen unseres Körpers elegant hindurch, ohne in der Regel irgendwo anzustoßen; ungefähr so, wie ein Surfer über die Wellen gleitet, ohne mit anderen Surfern oder mit Booten zu kollidieren.
Zahlen wie die genannte 65 Milliarden pro Sekunde lassen Teilchenphysiker vergleichsweise kalt; das ist ihre Standardwelt. Aber etwas Anderes fasziniert sie an den Neutrinos: Sie sind Verwandlungskünstler. Es gibt drei Typen oder flavors ("Aromen"), nämlich Elektron-Neutrinos, Muon-Neutrinos und Tau-Neutrinos, die sich in ihren Eigenschaften unterscheiden. Und seltsamerweise kann sich ein- und dasselbe Neutrino von einem dieser Typen in einen anderen verwandeln.
Das ist die sogenannte Oszillation; eines der vielen spukhaften Phänomenem, die wir auf der Ebene der Quanteneffekte finden. Diese Oszillation war es, mit der sich das Team des OPERA-Experiments (Oscillation Project with Emulsion-tRacking Apparatus) innerhalb des CNGS-Projekts befassen wollte. Als ein unerwarteter Nebeneffekt wurde die Überschreitung der Lichtgeschwindigkeit gemessen.
Es war also eine Anomalie gefunden worden. Anomalien (von dem griechischen Wort "Nomos", Gesetz) sind Abweichungen von Gesetzmäßigkeiten. Diese können schlicht in Erfahrungswerten bestehen; in der Klimaforschung werden Abweichungen vom langfristigen Mittelwert zum Beispiel als Anomalien bezeichnet. Meist aber ist die Abweichung von theoretisch begründeten Erwartungen gemeint; im Extremfall die Verletzung eines Naturgesetzes - oder dessen, was man bis dahin dafür hielt.
Die Verletzung des Gesetzes, daß es keine Bewegung geben kann, die schneller ist als die Lichtgeschwindigkeit, wäre eine der härteren Anomalien. Aber auch das hat es gegeben.
Eine Liste von Anomalien in den verschiedenen Wissenschaften finden Sie hier. Ein sehr schönes Buch, das die Forschungsgeschichte zu einer Reihe von Anomalien im Detail nachzeichnet, ist 13 Things that don't make sense von Michael Brooks (deutsch "Das Licht war früher auch mal schneller. 13 ungelöste Rätsel der Wissenschaft").
Ein klassisches Beispiel für eine Anomalie ist das Experiment von Albert Michelson und Edward Morley im Jahr 1887, in dem es ebenfalls um die Lichtgeschwindigkeit ging.
Man kannte damals nur die Wellennatur des Lichts, noch nicht seine Teilchennatur. Wellen können sich, so war man überzeugt, nur in einem Medium fortpflanzen; wie beispielsweise Wasserwellen im Wasser und Schallwellen in der Luft. Also mußte es auch für Licht ein Medium geben; und zwar ein Medium, das auch im Vakuum existiert. Man nannte es den Äther. Wir benutzen dieses Wort heute noch, wenn wir beispielsweise von "Ätherwellen" sprechen oder wenn wir sagen, daß sich ein Vogel durch den Äther schwingt.
Die Erde, so dachte man es sich, bewegt sich relativ zum Äther, so wie ein Flugzeug sich relativ zur Luft bewegt. Dabei ensteht eine Luftströmung entlang des Flugzeugs; und eine analoge Ätherströmung wollten Michelson und Morley messen. Wenn Licht sich in derselben Richtung wie die Erde durch den Äther bewegt, dann sollte es aufgrund des Ätherwinds schneller sein als dann, wenn es sich entgegen der Bewegungsrichtung der Erde bewegt; ungefähr so, wie ein Radfahrer mit Rückenwind schneller fährt als mit Gegenwind. (Die tatsächliche Argumentation war komplizierter; aber das Beispiel illustriert das Grundprinzip).
Das Experiment ergab jedoch keine solche Differenz. Offenbar gab es gar keinen Äther, relativ zu dem sich das Licht bewegt. Die Geschwindigkeit des Lichts im Vakuum ist - so mußte man schließen - vielmehr konstant.
Diese Anomalie leitete einen Umbruch der Physik ein, der schließlich zur Relativitätstheorie und zur Quantenmechanik führte. Auch hierzu möchte ich Ihnen ein Buch empfehlen; es ist noch schöner und spannender als das von Michael Brooks und verbindet auf faszinierende Weise die Lebensgeschichte von Forschern wie Bohr, Planck und Einstein mit der Forschungsgeschichte: Quantum: Einstein, Bohr and the Great Debate About the Nature of Reality von Manjit Kumar (deutsch "Quanten: Einstein, Bohr und die große Debatte über das Wesen der Wirklichkeit").
Ob die jetzigen Messungen der Geschwindigkeit von Neutrinos zu einem ähnlichen Umbruch der Physik führen, ist ungewiß. Die meisten Teilchenphysiker, die sich bisher dazu geäußert haben, glauben das nicht. Warum sie skeptisch sind und welche Vermutungen sie über diesen Befund anstellen, erläutere ich im zweiten Teil.
Zettel
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier.