20. September 2006

Verschwörungstheorien (5): Die große Regression

Bisher habe ich mich mit dem Hintergrund von Verschwörungstheorien befaßt: Da unser Weltwissen überwiegend nicht aus eigener Erfahrung stammt, müssen wir Quellen vertrauen; das sind in traditionellen Kulturen die Religion, die Institutionen. Das Vertrauen in diese Autoritäten als Quellen des Weltwissens ist aber in der Neuzeit durch den cartesianischen Zweifel zerstört worden. Doch haben wir diesen an wesensmäßig zweifelnde Institutionen wie Wissenschaft und freie Presse gewissermaßen delegiert. Seit dem neunzehnten Jahrhundert sind jedoch auch diese zweifelhaft geworden, und zwar aufgrund des vor allem durch den Marxismus verbreiteten generalisierten Mißtrauens, das hinter scheinbarer Erkenntnis - auch der Wissenschaften, auch der Medien - nur Interesse wittert.

Im letzten Teil der Serie habe ich einen Vorgang beschriebenen, der einem Dialektiker Freude bereiten dürfte: Das generalisierte Mißtrauen schlägt um in ein nachgerade naives Vertrauen. Eine Haltung, die überall nur Lug und Trug wittert, ist schwer durchzuhalten; sie ist unnatürlich und im Grunde pathologisch. Folglich wurden und werden aus radikal Mißtrauischen - manchmal über Nacht, gewissermaßen an einer Kreuzung auf dem Weg nach Damaskus - Sektenanhänger, Kommunisten, Esoteriker, zu Diesem und Jenem Bekehrte. Die freigewordenen Bindungen werden wieder besetzt, Vertrauen kehrt umso intensiver zurück, je radikaler es dem generalisierten Mißtrauen geopfert worden war.

Oft beinhaltet diese wiedergewonnene Sicherheit der Weltkenntnis Verschwörungstheorien. Warum aber gerade Verschwörungstheorien?



Generalisiertes Mißtrauen, das nach Glauben sucht - das ist ungefähr die Situation eine Ausgehungerten, der mit einem Fünfhundert-Euro-Schein in die Lebensmittelabteilung des KaDeWe gelassen wird. Man möchte etwas haben, und man sieht sich einem riesigen, ganz unüberschaubaren Angebot gegenüber. Alles schmeckt vermutlich.

Wissenschaftstheoretisch gesprochen: Everything goes. Das ist die Formel Paul Feyerabends, die oft so verstanden wird, daß sie dieses Lebensgefühl zugleich bedient und gerechtfertigt habe. Wenn uns das generalisierte Mißtrauen jede Sicherheit der Erkenntnis verwehrt, und wenn die menschliche Natur uns gleichwohl dazu drängt, etwas zu glauben - ja, dann ist die Auswahl groß, in der Tat. Ei, was nehmen wir denn? Darf's dieses sein, darf's jenes sein? "Ebbes Gudes werd's scho sei", wie der Frankfurter Volksdichter Friedrich Stoltze es in einem seiner unsterblichen Gedichte sagt.



Nun ist die Geschichte der Zivilisation so verlaufen, daß wir umso weniger begreifen, je mehr wir begreifen. "Wir" - die Menschheit als Ganzes, ihre Wissenschaft als gemeinsames Unternehmen, begreifen immer mehr. "Wir", die Normalbürger, können davon immer weniger fassen.

Wir können immer weniger davon "fassen" in dem sehr konkreten Sinn, daß wir es nicht mehr in Vorstellungen fassen können. Oder daß die Vorstellungen, in die wir es allenfalls fassen könnten, immer bizarrer werden.

Eine Erde, die nicht flach ist, so wie wir es mit unseren eigenen Augen sehen, sondern eine Kugel - an der hängen dann also die Antipoden mit dem Kopf nach unten, offenbar festgesogen wie die Fliegen? Die Erde, die mit unfaßbarer Geschwindigkeit durchs All fliegt, darin frei schwebend wie eine Seifenblase - ja Herrgott, wer soll sich das denn vorstellen? Unsere Seele - nicht unsterblich, sondern die Funktion eines Agglomerats von hundert Milliarden Zellen? Mit dem Tod endend, so wie es mit dem Wind vorbei ist, wenn er nicht mehr weht?

Das Licht - nichts Helles, sondern elektromagnetische Wellen in einem kleinen Bereich des elektromagnetischen Spektrums? Wellen noch dazu, die sich im leeren Raum, ohne einen Äther oder sonst ein sie tragendes Substrat, fortpflanzen? Und dann auch wieder gar keine Wellen sind, sondern Partikel? Oder vielmehr beides zugleich? Energie soll gar keine Substanz sein, sondern nur, rein funktionell, die Fähigkeit, Arbeit zu verrichten? Die wieder nichts ist als Kraft mal Weg? Das Leben - eigentlich nur Biochemie? Wo bleibt da die Lebenskraft, das Eigentliche des Lebendigen?



Und so fort. Die Menschen haben sich allen diesen kognitiven Zumutungen nur solange gefügt, wie sie den Wissenschaften vertrauten, wie sie den Wissenschaftlern vertrauten. Wenn diese aber - generalisiertes Mißtrauen! - nur die Büttel des Kapitals sind oder derjeniger, die sich kulturelle Konstrukte ausdenken - ja, dann ist es doch viel plausibler, das wirklich Plausible zu glauben! Krankheit ist eine Störung in der Körperenergie, also kann sie der Geistheiler beseitigen. Edelsteine sind edel, Blüten sind schön - also ist es doch schön, wenn man mit Blüten und Edelsteinen heilen kann. Oder mit Verschüttlungen, in denen am besten gar nichts drin ist - also auch nichts aus der Chemie, der mißtrauten. Und die Möbel stellt man so auf, wie es die chinesische Weisheit rät.

Das alles ist viel plausibler als die grauen Theorien der blassen Wissenschaften. Folglich glaubt man es, wenn man erst einmal das generalisierte Mißtrauen so weit getrieben hat, den Wissenschaften nicht zu trauen. Man kehrt zurück zu vorwissenschaftlichen Erklärungen. Eine große Regression.



Und so ist es nun auch mit der Geschichte, mit der Politik. Auch da gibt es Fachwissenschaftler, die uns mit Komplexität kommen. Sie sagen uns, daß historische Prozesse hochgradig miteinander verschachtelt sind, die Resultante aus vielen Faktoren, von denen jener in die eine, dieser in die andere Richtung wirkt. Unvorhersehbar zumal, wie jedes chaotische System. Zu viele freie Parameter gibt es in einem solchen hochkomplexen System, als daß man eine Vorhersage wagen könnte. Zu groß die Wahrscheinlichkeit, daß kleine Ursachen - ein Attentat, der Ausgang einer Schlacht, die Krankheit eines Staatsmanns - riesige Wirkungen haben könnten.

Nein, das mag und das muß der vom generalisierten Mißtrauen Genesene nicht glauben! Die Geschichte liegt, falls er Marxist ist, vor ihm wie ein aufgeschlagenes Buch: Entwicklung der Produktivkräfte, die daraus resultierenden Klassengegensätze, der daraus resultierende Lauf der Geschichte. In Abendkursen auch dem aufgeschlossenen Arbeiter vermittelbar.

Und wer solche Kurse nicht genossen hat oder sich gegen die marxistische Wahrheit sträubt, der hat, vom generalisierten Mißtrauen befreit, gleichwohl eine reiche Auswahl: Die Geschichte, die Politik als eine Kette von Intrigen, so wie in seinem Verein oder im Mehrfamilien-Plattenbau zum Beispiel.

Daß bei den Oberen konspiriert und intrigiert wird, was das Zeug hält, das erzählen uns die alten Mythen - wie es zuging auf dem Olymp, in Milgard; auch in der Welt des Alten Testaments. Es sind Bilder, manchmal geradezu archetypische Vorstellungen, die wir im Kopf haben - die irgendwo zusammenhockenden Verschwörer, die die Weltherrschaft planen; die Regierenden, die ihr Volk belügen und betrügen wie Hagen den edlen Siefried, die Strippenzieher auf allen Ebenenen, vom kleinen Troll bis zum großen Odin.



Also: Die jüdische Weltverschwörung. Die Weltverschwörung der Templer, der Illuminaten, der Bilderberger, der Trilateral Commission, dergleichen. Das sind die großen, die sozusagen wie die Sagen der Edda immer weitergesponnenen Mären.

Und dann gibt es das, was ich im letzten Teil die selbstgestrickten Verschwörungstheorien genannt habe - Verschwörungstheorien beispielsweise zum Moon Hoax, zu 9/11.

Diese Theorien sind aufs engste ans Internet gebunden, sie sind dessen Produkt. Sie stecken voller Wissen, wie es nur das Web so zugänglich bietet. Sie basieren auf methodischem Zweifel. Sie tragen also auf den ersten Blick die Merkmale von Wissenschaftlichkeit, und sie sind doch Pseudowissenschaft.

Was macht sie dazu? Was unterscheidet die Zweifel der Verschwörungstheoretiker, ihre Theorien von dem, was Wissenschaftler tun und produzieren? Damit wird sich der folgende und letzte Teil befassen.
(Fortsetzung folgt



© Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.