8. September 2006

Randbemerkung: Die geschlossenen Augen der Natascha Kampusch

Eine junge Frau ist als Kind entführt worden und hat es geschafft, sich zu befreien. Sie war von einem Kriminellen, vermutlich einem Psychopathen, in einem unterirdischen Gefängnis acht Jahre lang gefangengehalten worden .

Das ist ein ungewöhnlicher Kriminalfall, der alle Merkmale einer Cause Célèbre besitzt - etwas so noch nie Dagewesenes, etwas Monströses. Ein fürchterliches Schicksal. Eine junge, hübsche Frau als Opfer eines Verbrechers, der sich am Schluß selbst richtet.



Ein solcher Fall rührt uns an, er erweckt unser Interesse. Mythen, Märchen und Sagen sind voll von derart schrecklichen Vorkommnissen; oft haben sie ihren Weg in die Literatur gefunden. Chroniken haben sie festgehalten, von denen manche späteren Sammlungen wie den Chroniques Italiennes von Stendhal und dem Pitaval als Quellen gedient haben.

Es ist das uralte Interesse am Verbrechen, an extremen Schicksalen, das da sichtbar wird. Uralt auch in dem Sinn, daß in den überlieferten Materialien die ältesten Quellen - Hesiods Theogonie zum Beispiel - das, was Menschen Menschen antun können (und Götter Göttern), am schrecklichsten, am unverblümtesten dargestellt haben. (Jedenfalls galt das für einige Jahrtausende. Was heute an literarischen Grausamkeiten, an Horror auf DVDs angeboten wird, stellt das oft in den Schatten.)



Unser Interesse am Schicksal der Natascha Kampusch ist vor diesem Hintergrund, wenn auch vielleicht nicht legitim, so doch jedenfalls normal, menschlich-allzumenschlich. In einer Gesellschaft, in der eine Großindustrie jedes Bedürfnis der Neugier, des Wissen- und Sehenwollens befriedigt, läßt es sich erst recht nicht unterdrücken.

Vermutlich wird, wer diesen Beitrag liest, das Interview mit Natascha Kampusch gesehen haben, das der ORF und - zeitversetzt - RTL am Mittwoch Abend ausgestrahlt haben; mindestens in den Ausschnitten, die in jeder Nachrichtensendung auftauchten. Mein Eindruck - der ganz subjektiv ist, also sicher nicht von allen geteilt werden wird - war der von einer sympathischen, intelligenten jungen Frau, die ein eigenartig inkonsistentes Verhalten zeigte: Manchmal entspannt wirkend, manchmal extrem angespannt. Meist in Distanz zu dem, was sie durchmachen mußte; während kurzer Augenblicke aber hochemotional. Eine gewinnend spontane, fast kindliche Mimik, die doch seltsam fremd wirkte. In der Sprache reflektierend, stellenweise fast altklug. In der Erzählhaltung oft wie neben sich stehend.

Erfahren haben wir in dem Interview im Grunde wenig. Äußerlichkeiten, ja - wie sie entführt wurde, was sie sehen und hören durfte, die "Häftlingsausführungen" in die Stadt; so muß man das ja wohl nennen. Das Eigentliche blieb ausgespart - was ihr Entführer eigentlich von ihr gewollt, welche perversen Bedürfnisse er dadurch befriedigt hatte, daß er sie als Gefangene hielt. Welche Beziehung zwischen Täter und Opfer bestand. Was ihr angetan worden war.



Natascha Kampusch hat - das bedarf ja eigentlich keiner Erwähnung - das Recht, das jeder Mensch in einer freien Gesellschaft hat: Von sich nur das der Öffentlichkeit preiszugeben, was er selbst für richtig hält. Das gilt generell, und es gilt ganz und gar, wenn jemand ein so schlimmes Schicksal erlitten hat. Sie hat also gesagt, was sie sagen wollte. Sie hat damit unserer Neugier Genüge getan. Und sie hat verschwiegen, was sie verschweigen wollte. Das nicht zur respektieren wäre impertinent.

Das hätte es denn also sein sollen. Das hätte es sein müssen. Aber noch mit der Sendung von RTL begann ein erbärmliches, würdeloses Nachspiel: "Experten" traten auf den Plan. In diesem und jenem Studio saß einer dieser Experten, bis hinein in die Nachrichtenstudios der Dritten Programme. Ein Diplompsychologe, ein "Polizeipsychologe", gar ein "Experte für Körpersprache". Leute, die Natascha Kampusch so wenig kennen wie wir alle, die von dem Fall nicht mehr wissen. Die sich aber - offensichtlich - Ferndiagnosen zutrauten; allein aufgrund des Interviews, das sie so gesehen hatten wie wir alle. So, als würde ein Arzt einen Menschen eine Stunde im TV sehen und danach seine internistische Diagnose stellen.



Und was hat sich da alles ihrem diagnostischen Blick enthüllt, dem Blick der von den Sendern angeheuerten Experten!

Frau Kampusch hat beispielsweise, wie wir alle bemerkt haben, auffällig oft die Augen geschlossen. Der eine Experte erklärte uns, das läge daran, daß in ihr "innere Bilder" abliefen. Ein anderer, in einem anderen Sender, versicherte uns im Gegenteil, mit dem Augenschließen "blende" sie "belastende Erlebnisinhalte aus". Der Experte für Körpersprache wußte gar, daß die Bilder, die in ihr aufstiegen, sich mal auf die Vergangenheit, mal auf die Zukunft bezogen. Und so fort. Ein Experte - ein leibhaftiger Psychologieprofessor - teilte uns bei RTL kraft seiner Expertenschaft mit: "Natürlich muß man damit rechnen, daß in einigen Wochen, einigen Monaten so'n Zusammenbruch kommt". Natürlich.

Und natürlich konnte da die schreibende Zunft nicht zurückstehen. In der FAZ meldete sich Christian Geyer zu Wort, ein Leitender Redakteur des Blatts, der sich im Studium mit Philosophie, Geschichte und Germanistik befaßt hatte. Gegen seine diagnostische Tiefe verblassen die Psychologen und Körpersprachler:
Es hat nichts Großsprecherisches, es ist kein neuer Anlauf von Deutungsbesessenheit, wenn man feststellt: Es war die Kraft der Abstraktion, mit der sie dem empirischen Desaster standgehalten und ihm endlich entkommen ist. Die Energie, sich unter dem Druck der übermächtigen, alles gefangennehmenden Umstände gedanklich von diesen Umständen zu lösen, sie zu bezwingen, auch wenn man ihnen verhaftet bleibt - diese Art Kraft muß Kampusch gemeint haben, als sie gleich nach ihrer Flucht sagte: Er, der Entführer, hat sich mit der Falschen angelegt.
Sie muß. Dem "empirische Desaster" - vulgo dem Umstand, daß sie acht Jahre wie ein Tier gefangengehalten wurde - hat Natascha Kampusch wie standgehalten? Mit der "Kraft der Abstraktion"; was immer das heißen soll (vielleicht: Sie hat sich nicht unterkriegen lassen?). Und auch ihre Innenwelt, als ihr die Flucht gelungen war, kennt Christian Geyer:
Was sie in den Sekunden danach in den Schrebergärten, im grünen Niemandsland zwischen Verlies und Freiheit, erlebte, waren genau die fürchterlichen Umstände, die sie in der Abstraktion immer vorweggenommen hatte.
(Abstraktion jetzt ein anderes Wort für Phantasie?)



Das Ärgerliche an dieser Schwadroniererei ist nicht nur, daß Leute sich irgendwas ausdenken und Geld damit verdienen, es uns als Expertenwissen zu verkaufen. Sollen sie, von mir aus.

Das wirklich Schlimme ist die Art, wie dabei mit Frau Kampusch umgegangen wird. Sie war Opfer eines Verbrechens, sie ist dadurch zu einer öffentlichen Figur geworden. Aber was in aller Welt gibt irgendwelchen Psychologen, Körpersprachlern und Feuilletonredakteuren damit das Recht, sie sich so vorzunehmen wie ein Psychiater seinen Patienten? Über ihr Innenleben, ihre Kraft oder Schwäche, ihre Abstraktionsfähigkeit oder sonst was zu schwatzen? Kurz, sie als Objekt ihrer interpretativen Bemühungen zu behandeln, so als habe sie ihnen jemand auf die Couch gelegt?

"Der Mensch aber ist keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann, sondern muß bei allen seinen Handlungen jederzeit als Zweck an sich selbst betrachtet werden." (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1785).