23. September 2006

Arabiens Misere (2): Der Arabische Sozialismus

Woher rührt die arabische Misere? Zwei, drei Antworten liegen auf der Hand: Für sehr viele Araber hat sie ihre Ursache in der Existenz Israels. Für vermutlich noch mehr Araber liegt sie außerdem an der Ausbeutung durch die Vereinigten Staaten, am "Raub des arabischen Öls" und so weiter. Viele links­stehende Europäer und Amerikaner werden sich vielleicht nicht der ersten dieser beiden Antworten anschließen, aber umso überzeugter der zweiten. Für sie ist die arabische Misere nur Teil der allgemeinen Misere desjenigen Teils der Welt, den man einmal die "Dritte Welt" nannte. Und dessen Misere wiederum wird als Ausdruck der noch allgemeineren Misere gedeutet, die der Kapitalismus, so denkt man es sich, über die Welt gebracht hat.

Die Antwort, die andererseits vielen nicht linksstehenden Europäern als erste in den Sinn kommen dürfte, lautet: Es liegt am Islam. Solange in einem Land eine Religion herrscht, die über ihre eigentliche Aufgabe hinaus auch Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nach mittelalterlichen Normen zu regeln beansprucht, kann es nichts werden mit dem Aufbau einer freien Gesellschaft und des Kapitalismus. Der Islam ist eine Religion des Jenseits, nicht des calvinistischen Schaffens und Schuftens im Diesseits. Eine Religion der Ehre, der Phantasie, der Märchen und Rituale, nicht der pragmatischen Zweckmäßigkeit und des Erfolgs. Also unfähig, die Herausforderungen der Moderne zu bestehen.



Die beiden ersten Antworten sind leicht zu widerlegen:

Israel behindert mit seiner Existenz in keiner Weise eine Entwicklung in den arabischen Staaten, wie sie sich in den übrigen Teilen Asiens vollzieht. Wie sollte es? Ganz im Gegenteil - das Konzept von Perez und Rabin, das dem Prozeß von Oslo zugrundelag, war ja just das einer Wirtschaftsregion "Naher Osten", in der sich israelisches Know How mit dem Rohstoff- und Menschenreichtum der arabischen Staaten verbinden sollte. Das ist gescheitert, vielleicht für lange Zeit. Aber daß Israel allein durch seine Existenz Syrien, Libyen oder Ägypten daran hindert, den Weg Singapurs, Taiwans oder Südkoreas zu gehen, das wird man nicht begründen können.

Ebenso ist es nicht begründbar, daß die Vereinigten Staaten - oder generell "die westlichen Länder" - Arabien an seiner Entwicklung hindern würden. Daß sie Erdöl fördern und verkaufen, auch wenn sie dabei mit Ölkozernen kooperieren, die einen erheblichen Teil des Gewinns kassieren, das ist erkennbar zum Nutzen der Länder, die über dieses Erdöl verfügen - in der Tat sind ja Länder wie Dubai und Katar als einzige Arabiens dabei, zumindest im konsumptiven Sektor den Anschluß an die Moderne zu finden. Daß die Armut Syriens daran liegt, daß es von den USA ausgebeutet wird, - das nachzuweisen dürfte selbst einem gewieften Dialektiker schwerfallen.



Verlassen wir also diese offensichtlich ideologisch begrün­de­ten Erklärungen. Wie steht es mit der Ansicht, der Islam sei an Arabiens Misere schuld? Der Islam sei nun einmal eine Religion, deren weltlicher Herrschaftsanspruch der Entwicklung einer modernen, auf HighTech, Demokratie und Kapitalismus basierenden Gesellschaft entgegenstünde?

Nun, der letzte Satz dürfte stimmen. Nur benennt er keine Ursache, sondern viel eher eine Folge der arabischen Misere.

Denn vor einem halben Jahrhundert "herrschte" in den meisten arabischen Ländern (zu den Ausnahmen gehörten der damalige Nordjemen und Saudi-Arabien) keineswegs der Islam. Ganz im Gegenteil: Es blühte ein panarabischer Nationalismus, der teils als Nasserismus und teils als sozialistischer Baathismus auftrat. Ausgeprägt säkular, eher kemalistisch als islamistisch. (Der Nasserismus ist Vergangenheit, aber von den beiden baathistisch regierten Staaten existiert einer - Syrien - ja immer noch, und der andere existierte bekanntlich bis 2003).

Sebastian Haffner beschrieb vor gut drei Jahrzehnten in einer seiner "Stern"-Kolumnen die damaligen Unruhen im Nahen Osten als die "Geburtswehen der arabischen Nation". Das war damals - in den späten sechziger, frühen siebziger Jahren - eine realistische Sichtweise. Es gab diverse "Vereinigte Arabische Republiken", und die arabische Einigung erwartete man in Form des Zusammenschlusses zu einer säkularen, sozialistischen Republik - nicht unbedingt nach dem Vorbild des Sowjetkommunismus; eher ein spezifisch "arabischer Sozialismus". Und als Folge einer solchen Entwicklung erschien damals der Aufstieg eines großarabischen Reichs in der Art, wie wir es heute bei China und Indien erleben, durchaus realistisch.

Eines arabischen Reichs, nicht eines islamischen oder gar islamistischen. Die Islamisten waren damals das, was sie auch schon im Osmanischen Reich und zur Kolonial- und Mandatszeit gewesen waren: Grüppchen von zottelbärtigen Extremisten, klandestin in ihren Zirkeln konspirierend, ohne politische Bedeutung. Auf der politischen Bühne agierten Sozialisten wie der Gründer der Baath-Partei, Michel Aflaq, der einer griechisch-orthodoxen Familie entstammte. Ebenso war der Gründer palästinensischen PFLP, George Habasch, griechisch-orthodoxer Herkunft. Keiner dieser Männer, die damals an die Macht drängten - ob Arafat in Palästina, ob Kassem und dann Saddam Hussein im Irak, ob Assad in Syrien, ob Abdul Fattah Ismail im Südjemen, ob Boumedienne in Algerien - war in irgendeiner Weise religiös motiviert. Sie waren Sozialisten, dachten sälukar und wollten Arabien so schnell wie möglich verwestlichen.

Der Islamismus bekam erst Gewicht, als der von diesen Revolutionären in ihrer Jugend erhoffte und von ihnen als älter werdende Staatsmänner realisierte arabische Sozialismus den Weg jedes Sozialismus ging. Die Staaten wurden immer repressiver, die Menschen verarmten, die nasseristische und die baathistische Ideologie wurden genauso zu Rechtfertigungsideologien für die Ausbeutung der Menschen durch eine Funktionärskaste wie die marxistische.

Dieser Prozeß vollzog sich überall in Arabien, wo der arabische Sozialismus Fuß gefaßt hatte. Das Ergebnis war eine explosive Mischung aus einer aufgrund der besseren Gesundheitsvorsorge schnell wachsenden Bevölkerung, einer relativ gut ausgebildeten jungen Generation, wirtschaftlicher Stagnation im günstigsten Fall, oft aber wirtschaftlichem Niedergang,totalitärer Unterdrückung und der Zerstörung gewachsener gesellschaftlicher Strukturen.

Kurz, der arabische Sozialismus zerstörte die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Kultur, so wie der Sozialismus das von Peking bis Havanna überall getan hat. Und wie überall erzeugte er damit Gegenbewegungen: Den Aufbau des Kapitalismus in China und in den Ländern und ehemaligen Kolonien der untergegangenen UdSSR. Und in Arabien den Islamismus.

Warum tut sich Arabien so schwer mit dem Übergang zur Demokratie und zum Kapitalismus? Woher dieser seltsam rückwärtsgewandte, im Wortsinn reaktionäre Islamismus als die spezifisch arabische Reaktion auf das weltweite Scheitern des Sozialismus? Ein paar Gedanken dazu folgen im dritten Teil.



© Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.