22. September 2006

Verschwörungstheorien (6): Spiegel-Leser und Internauten

Verschwörungstheorien hat es immer gegeben. Oft hatten sie pseudoreligiösen Charakter, wie der Hexenglaube. Die modernen, im Internet kursierenden Verschwörungstheorien sind aber nicht Pseudoreligion, sondern viel eher Pseudowissenschaft.

Pseudowissenschaft? Ist das nicht zu hart? In der Tat - auf den ersten Blick könnte man fast eine wissenschaftliche Verfahrensweise sehen:
  • Eine gängige Theorie - sagen wir, daß die Landefähre "Eagle" der Mission Apollo 11 auf dem Mond gelandet sei - wird in Zweifel gezogen.
  • Es werden Daten vorgelegt, die, so wird behauptet, damit nicht übereinstimmen,
  • und es wird eine alternative Theorie vorgetragen - hier: die Bilder von der Mondlandung seien in einem Hollywood-Studio entstanden.
  • Das Für und Wider der Theorie wird dann in vielen Tausenden Internet-Beiträgen diskutiert,
  • - so, wie Wissenschaftler auf Kongressen und in Fachzeitschriften ihre Theorien diskutieren. Was ist daran falsch? Das ist das Thema des jetzigen, abschließenden Beitrags dieser Serie.



    Hans Magnus Enzensberger, damals noch ein junger, kaum bekannter Rundfunkredakteur, wurde schlagartig bekannt, als er 1957 seinen Funkdialog "Die Sprache des Spiegel" verfaßt hatte. Er wurde am 8. Februar 1957 gesendet, und schon im Heft 10 vom 6. März druckte der "Spiegel" den Text, leicht gekürzt. Zwar versehen mit ironischen Zeichnungen von Hicks, aber immerhin in großzügiger Liberalität von demjenigen Blatt publiziert, das Enzensberger gnadenlos angegriffen hatte.

    Denn gnadenlos waren sie, die Thesen, die Enzensberger - im Dialog mit einem etwas dümmlichen fiktiven Leser - über den "Spiegel" entwickelte. Die vierte und letzte lautete: "Der Spiegel orientiert nicht, sondern er desorientiert". Das begründet Enzensberger damit, daß dem Leser vorgegaukelt werde, er wisse Bescheid. "Obwohl total unwissend, erhebt der SPIEGEL-Leser den Anspruch, alles verstehen und aburteilen zu können." Das Verfahren des Magazis kläre "ihn über seinen faktischen Zustand, den der Ignoranz, keineswegs auf, sondern verschleiert ihn im Gegenteil mit allen Mitteln. Nicht Orientierung, sondern ihr Verlust ist die Folge."

    Diese Analyse scheint mir trefflich auf die Lage des heutigen Internet-Starkkonsumenten - nennen wir ihn den Internauten - zu passen. Das legendäre Archiv des Spiegel ist gewissermaßen für uns alle geöffnet worden - nein, wir haben Zugang zu einer Informationsfülle, die noch nicht einmal dieses Archiv vor dem Internet-Zeitalter auch nur entfernt erreichen konnte.

    Wir können alles in Erfahrung bringen, fast alles. Und wir verfügen andererseits in der Regel überhaupt nicht über die Voraussetzungen dazu, es angemessen zu beurteilen. "Angemessen" - das heißt so, wie es der Fachmann tut. Wie es nur der Fachmann kann, der die einzelne Information nicht at face value nimmt, sondern sie hinsichtlich ihrer Plausibilität zu bewerten weiß. Der Fachmann, der im Lauf seiner Erfahrung unscharfe, aber erfolgreiche ("fuzzy") Kriterien dafür entwickelt hat, ob etwas glaubhaft ist oder nicht. Der Fachmann, für den die einzelne Information nicht eine einzelne Information ist, sondern ein Puzzle-Stein innerhalb eines Gesamtbilds; zu bewerten sub specie dieses Gesamtbilds. Der Fachmann mit einem intuitiven Verständnis für das Bayes'sche Theorem, das es verlangt, an Daten umso höhere Ansprüche zu stellen, je mehr sie dem bisherigen Wissen zu widersprechen scheinen.



    Was Enzensberger dem Spiegel-Leser des Jahres 1957 zugeschrieben hat - daß er trotz faktischer Ignoranz den Anspruch erhebt, alles verstehen und aburteilen zu können -, das ist dank des Internet ubiquitär geworden. Und andererseits haben wir die in den vorausgehenden Teilen der Serie beschriebene Situation: Generalisierte Mißtrauen ist gewissermaßen auf der Suche danach, in gläubiges Vertrauen umzuschlagen.

    Das sind, zusammengenommen, zusammenwirkend, die Ingredienzien für die modernen Verschwörungstheorien. Es ist ein Grundmißtrauen da - gegen die Wissenschaft, gegen die Institutionen, gegen Regierungen zumal -, das auf ein schier unerschöpfliches Angebot an Informationen im Web trifft.

    Das ist eine Situation, in der das Mißtrauen nicht mehr nur eine Voraussetzung für neuen Glauben ist, sondern zugleich dessen Inhalt: Aus den im Web verfügbaren Informationen wird eine Theorie gebastelt, die das Mißtrauen einerseits erfüllt (weil Wissenschaftlern, der Regierung usw. Lug und Trug zugeschrieben wird), es andererseits aber transzendiert: Denn das in der Verschwörungstheorie konkretisierte Mißtrauen ist selbst nun der neue Glaubensinhalt.



    Was die Polizei und Scharen investigativer Journalisten nicht geschafft haben - hinter dem Mord an Kennedy mehr zu entdecken als die Tat eines Psychopathen -, das trauen sich die Internauten zu.

    Ein am Computer sitzender Buchproduzent wie Andreas von Bülow traut sich zu, entlarven zu können, wer in Wahrheit hinter dem Anschlag vom 11. September 2001 steckt. Immerhin war er mal Staatssekretär im Verteidigungsministerium; und lesen, was im Internet steht, kann er ja auch. Was er vermutet, widerspricht allen offiziellen Informationen? Ja eben, denn diese sind ja Teil der Verschwörung, sagt sich der Internaut.

    Die Mondlandung wurde in einem Hollywood-Studio gefälscht, glaubt der Internaut. Er hat sich Bilder und Videos von der ersten Mondlandung angeguckt, hat etwas über den Van-Allen-Gürtel gelesen, hat sich Gedanken über das Aussehen des Himmels gemacht, wie man ihn vom Mond aus sehen sollte, und über den Krater, den eine Mondlandefähre erzeugt. Die Schatten auf den Mondbildern - so stellt er fest, der Internaut - fallen nicht parallel, der Himmel auf den Fotos zeigt keine Sterne, die Landefähre hat keinen Krater erzeugt, die Astronauten hätten gar nicht ohne Schäden durch den Van-Allen-Gürtel fliegen können. Und so weiter. Also war die Mondlandung ein Fake.

    Alles naive Vorstellungen, wie man sie eben hat, wenn man kein Fachmann ist. Alle zurechtzurücken, wenn sich ein Fachmann wie Phil Plait die Mühe macht, das zu tun. So, wie die Spekulationen zu 9/11 von Journalisten, die wirklich recherchieren, leicht als auf grober Unkenntnis beruhend entlarvt werden können - die "noch lebenden" Terroristen entpuppen sich beispielsweise als Menschen, die zufällig denselben Namen haben. Der Spiegel hat das vor drei Jahren, zum damals zweiten Jahrestag des Anschlag, minutiös nachgewiesen.



    Werden solche Widerlegungen den modernen Verschwörungstheorien den Garaus machen? Ich halte das für unwahrscheinlich. Es geht ja bei diesen Theorien nicht nur darum, in der Art von Wissenschaftlern etwas zu beurteilen, sondern es geht immer auch um ein Verurteilen.

    Verurteilen - denn Verschwörungstheorien sind ja nicht wertfrei. Insofern gleichen auch die modernen Internet-Versionen den alten Theorien, die den Hexen, den Juden, den Freimaurern alles Übel dieser Welt zuschrieben. In den modernen Versionen sind es fast immer Institutionen der Vereinigten Staaten, denen diese Schurkenrolle zugedacht wird. Die NASA, die die Mondlandung vorgetäuscht habe. Die CIA, die hinter dem Mord am eigenen Präsidenten Kennedy stecken soll. Die US-Regierung und/oder die CIA, die gar den Mord an dreitausend eigenen Bürgern inszeniert oder geduldet haben sollen, dazu gleich auch noch einen Raketenangriff auf das eigene Verteidigungsministerium.



    Was sich darin ausdrückt, das ist nicht nur die maßlose Selbstüberschätzung von Internauten, die ihre dem Web entnommenen Wissensbruchstücke gegen das Urteil von Fachleuten setzen. Sondern es ist auch ein Haß auf diejenigen, die man als die Verschwörer sieht - eben wie in den älteren Versionen die Zigeuner, die Juden, die Freimaurer.

    Dagegen hilft, fürchte ich, keine Widerlegung.



    © Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.