11. September 2006

Verschwörungstheorien (4): Aus der Skepsis in den Glauben

In den ersten drei Teilen dieser Serie habe ich versucht, den Hintergrund von Verschwörungstheorien zu beleuchten:

Erstens, unsere Kenntnis der Welt stammt überwiegend nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus Quellen, denen wir vertrauen. In traditionellen Kulturen sind das die Institutionen, die überkommenene Sitten und Gesetze, die Religion.

Zweitens, dieses selbstverständliche Vertrauen in das Überkommene ist in der Moderne zerstört und durch den systematischen cartesianischen Zweifel ersetzt worden, der es es verlangt, nur Nachgeprüftes zu glauben. Dieses Nachprüfen können wir aber längst nicht mehr selbst vornehmen, sondern wir delegieren es gewissermaßen - an Wissenschaftler, an eine unabhängige Justiz, an die freie Presse.

Drittens, dieses Delegieren setzt voraus, daß wir Vertrauen in diejenigen haben, an die wir unseren Zweifel delegieren. Dieses Vetrauen ist aber seit dem Neunzehnten Jahrhundert schwer erschüttert - wurde erschüttert durch die Meister des Mißtrauens, Nietzsche, Freud und, weitaus am einflußreichsten, Marx.

Sehen wir uns nun an, wie vor diesem Hintergrund Verschwörungstheorien entstanden und entstehen.



Wer mit dem radikalen Mißtrauen wirklich ernst macht, der lebt sozial in einer kognitiven Welt des Lugs und Trugs. Die Wissenschaft - sie ist für ihn nichts als "bürgerliche Wissenschaft" im Dienst des Kapitals, bestenfalls eine "soziale Konstruktion"; jedenfalls weit davon entfernt, vertrauenswürdig zu sein. Die Freie Presse - alles andere als frei; die Pressefreiheit nur, gemäß der vielzitierten Formulierung von Paul Sethe, "die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten". Auch der Presse, überhaupt den Medien kann man also nicht glauben. Recht und Gesetz - auch sie sind nur Ausdruck der "persönlichen Macht ... (der) ... Herrschende(n)"; nur Ausdruck des durch "ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens", wie Marx in der "Deutschen Ideologie" schreibt.

Lüge, Verschleierung, Fassade, Ideologie also, was die Instanzen der Gesellschaft angeht. Und nicht besser steht es im persönlichen, interpersonalen Bereich, wenn man neben Marx auch noch Nietzsche und Freud ernst nimmt.



Dieser Zustand eines generalisierten Mißtrauens ist schwierig dauerhaft durchzuhalten. Er ist deshalb in der Regel so etwas wie ein Durchgangssyndrom. Die Instanzen und Personen, denen man nicht mehr traut, hinterlassen sozusagen freie Bindungen, die nach Absättigung verlangen. Und so verwandeln sich nicht selten die mißtrauischsten Skeptiker in die vertrauensvollsten Gläubigen. Nicht immer plötzlich, wie beim Damaskuserlebnis des Saulus. Aber doch sehr oft schnell und radikal. Aus Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts wurden staatsgläubige Jakobiner, aus russischen Nihilisten überzeugte Marxisten, aus französischen Existentialisten eifrig-ergebene militants der PCF.

Im letzten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts haben viele Angehörige der Generation der "Achtundsechziger" einen solchen Wandlungsprozeß durchgemacht. Innerhalb weniger Jahre wurden "kritische Studenten", die als Angehörige der APO (der Außerparlamentarischen Opposition) der späten Sechziger Jahre jede Autorität "hinterfragt", hinter jeder wissenschaftlichen Aussage Ideologie gewittert hatten, zu parteifrommen Mitgliedern der KPD/AO, der KPD/ML, des KBW, des KB usw., die ihre Marx- und Mao-Weisheiten unkritischer paukten als ein Firmling seinen Kleinen Katechismus.

Andere wurden zu ebenso kritiklosen Anhängern indischer Gurus, suchten ihr Seelenheil in Aussteigersekten wie der Gemeinde des Otto Muehl, wandten sich dem Glauben an die Astrologie, das Hexentum oder die Heilkraft von Edelsteinen zu. Sie trauten der Wissenschaft nicht, aber der Pseudowissenschaft. Sie mißtrauten zutiefst den gewählten Volksvertretern in der Demokratie, liefen aber selbsternannten Führern nach wie Heidschnucken ihrem Leithammel. Sie belächelten die christliche Religion, waren aber bereit, Waldgeistern zu huldigen und bei einem Yogi das Fliegen zu lernen.



Die Heilslehren, denen ein Teil (der vergleichsweise rationale Teil) dieser Bekehrten anheimfiel - die stalinistische, die maoistische, die trotzkistische Heilslehre - teilen mit den anderen totalitären Strömungen des Zwanzigsten Jahrhunderts einen ausgeprägten Manichäismus: Das gute Proletariat gegen den bösen Kapitalismus, die guten Arier gegen die bösen Juden, die guten Moslems gegen die bösen Ungläubigen. Damit geht einher, daß den jeweiligen Bösen Verschwörungen zugeschrieben werden - die der Weisen von Zion (der Juden, der Freimaurer usw.) gegen den aufrechten arischen Menschen, die Verschwörung der Imperialisten (der Bilderberger, der Trilateralen Kommission usw.) gegen den Sozialismus, die Verschwörung der USA und ihrer Vasallen gegen den Islam.

Das ist die eine Variante von Verschwörungstheorien - eingebettet in mehr oder weniger ausgearbeitete Weltanschauungen oder religiöse Überzeugungen, politisch oft mächtig und also fähig, ihren Wahn blutig durchzusetzen.

Die zweite Variante ist demgegenüber harmlos, fast könnte man sagen liebenswürdig. Auch sie geht aus Mißtrauen hervor, das in unkritischen Glauben umschlägt. Aber während die Verschwörungstheorien innerhalb der großen Ideologien sozusagen HigTech sind, haben wir es hier mit Selbstgestricktem zu tun. Mal sind es Buchautoren, die diese Art von Verschwörungstheorien verbreiten, mal entstehen sie im Internet und gedeihen und vermehren sich dort nach den Regeln des WWW.

Sie sind eine seltsame Erscheinung, diese im Web zu besichtigenden Verschwörungstheorien, weil sie das Paradoxe, das allen Verschwörungstheorien anhaftet, auf die Spitze treiben: Just in einem Medium, das wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte jedem ermöglicht, sich über Sachverhalte zu informieren, blühen Theorien wie die vom Moon Hoax, die eine souveräne Mißachtung nicht nur von Sachverhalten, sondern auch des gesunden Menschenverstands erkennen lassen. Mit solchen Verschwörungstheorien befaßt sich der fünfte Teil.
(Fortsetzung folgt)



© Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.