27. September 2006

Ein Mann tritt für die Freiheit ein

Die Berliner Opernaffäre ist bisher so verlaufen, wie solche Affären - die Rushdie-Affäre, der Karikaturenstreit, der Streit um den Papst - fast ritualisiert verlaufen. Die Positionen, die Argumente sind bekannt. Eine Gruppe von Kommentatoren fordert mehr oder weniger vehement, daß wir nicht gegenüber den Islamisten einknicken. Die anderen raten zum Dialog und zum Vermeiden von Provokationen, ja zur Entschuldigung, wie jüngst die New York Times dem Papst. Nur die Proportionen variieren. Diesmal scheinen die Beschwichtiger eher in der Minderheit zu sein.

Ansonsten hat man bei der jetzigen öffentlichen Diskussion den Eindruck, denselben Film schon wieder im Programm zu finden; diesmal - gerade war ja erst der Papst-Streit - mit einer Wiederholungslatenz, wie man sie bei einem TV-Sender als Zumutung empfinden würde.

Also eigentlich kein Thema; jedenfalls nicht für diesen Blog, so schien es mir bisher. Meine Meinung zur Sache ist kurzgefaßt in diesem Thread in "Zettels kleinem Zimmer" zu lesen: Ich bin für den Dialog, und just deshalb gegen jede Zensur oder Selbstzensur.



Nun hat diese Sache aber heute einen Aspekt bekommen, der mich nun doch zu einer Anmerkung veranlaßt. Gregor Gysi hat sich zu Wort gemeldet, und zwar in der Welt.

Gysi schreibt zunächst das, was im Augenblick die meisten schreiben, nämlich:
Es ist daher eine falsche Reaktion, die Oper aus Angst vor Anschlägen abzusetzen, zumal sie bereits ein Jahr lang aufgeführt wurde, ohne dass es darüber erregte öffentliche Reaktionen oder gar Anschlagsdrohungen gegeben hätte.
Schön. Dann aber wechselt er das Thema:
So falsch die Absetzung der Oper auch ist, so wenig glaubwürdig sind die Aufgeregtheiten der Bundeskanzlerin und weiterer Vertreter der Bundesregierung und anderer Politiker. Sie schüren permanent Ängste vor dem islamischen Terrorismus. Die Gefahren werden immer wieder dargestellt, im gleichen Atemzug wird versucht, die grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten aufzuheben und die Bundeswehr auch im Innern einzusetzen. Je größer die Terrorgefahr, desto größer auch die Versuchungen der Bundesregierung, Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen.

In einer wie dargestellt erzeugten gesellschaftlichen Atmosphäre der Angst vor dem islamistischen Terrorismus dürfen sich die genannten Politikvertreter nicht wundern, ...
Und so weiter. Gysi möchte die Schuld bei den üblichen Verdächtigen sehen.



Vor der Versuchung, "Eingriffe in Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen", warnt uns also Gregor Gysi. Er macht sich Sorgen darum, daß die "grundgesetzlich gebotene Trennung von Polizei und Geheimdiensten" aufgehoben werde.

Hier ist tabellarisch die Biographie von Gregor Gysi zu lesen. Mit noch nicht zwanzig Jahren trat er 1967 der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands bei. Als die DDR unterging, hatte er es laut diesem biographischen Überblick zum "Vorsitzenden des Kollegiums der Rechtsanwälte Berlin und des Rates der Vorsitzenden der Anwaltskollegien der DDR" gebracht.

Mit anderen Worten, er war der Oberste aller Rechtsanwälte der DDR, die bekanntlich Organe der sozialistischen Rechtspflege waren. In einem System wie dem der DDR war es völlig ausgeschlossen, daß ein Genosse eine solche Schlüsselposition erreichte, der nicht das volle Vertrauen der Staats- und Parteiführung gehabt hätte.

Daß Gysi sich jemals in seiner Funktion in der DDR um "Eingriffe in die Freiheits- und Bürgerrechte" gesorgt hätte, ist nicht bekannt. Ebensowenig ist bekannt, daß er, als er in dieser einflußreichen Position als oberster Rechtsanwalt war, für eine Trennung von Polizei und Geheimdiensten eingetreten wäre.



Als die DDR-Diktatur endete, war Gysi kein unerfahrener junger Mann. Er war über vierzig. Er hatte Zugang zu Westmedien, er konnte sich informieren. Er kannte das diktatorische System der DDR, er kannte die Institutionen, die Rechtsgarantien, die Freiheiten in der Bundesrepublik. Er hat sich für die DDR entschieden. Anders als die Dissidenten hat er diese DDR nicht in Richtung Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zu verändern versucht, solange er das hätte tun können. Jedenfalls gibt es dafür keine Anzeichen.

Und nun fühlt ausgerechnet dieser Mann sich berechtigt, vor Eingriffen in die Freiheits- und Bürgerrechte zu warnen. Und er attackiert dabei eine Kanzlerin, die, anders als er, als DDR-Bürgerin ihre Arbeit nie in den Dienst des Regimes gestellt hat.



Er hat sich gewandelt, Gregor Gysi? Er hat erkannt, daß die ersten Jahrzehnte seines politischen Lebens ein einziger Irrtum gewesen waren, daß er einer Diktatur gedient hatte? Er verurteilt jetzt das, woran er zwanzig Jahre geglaubt hatte? Vielleicht.

Aber selbst wenn: Kann denn jemand, der selbst so eklatant als Demokrat versagt hat, nicht wenigstens zu Fragen der demokratischen Freiheitsrechte schweigen?