24. September 2006

Arabiens Misere (3): Das Erbe des Osmanischen Reichs

Die arabische Misere ist nicht eine Folge des Islam, sondern der Islamismus ist umgekehrt wesentlich eine Folge der arabischen Misere nach dem Scheitern des arabischen Sozialismus. Das war die Hauptthese des vorausgehenden Beitrags. Daß der Islam nicht ursächlich für diese Misere ist, erhellt auch daraus, daß islamische Staaten außerhalb des Nahen bzw. Mittleren Ostens ja durchaus am Aufstieg Asiens partizipieren. Malaysia zum Beispiel - ein Land, in dem der Islam Staatsreligion ist - ist seit Anfang der siebziger Jahre laut World Factbook vom Rohstoffproduzenten zu einer sich entwickelnden multisektoriellen Wirtschaft geworden. Die Wachstumsrate betrug nach derselben Quelle 4,9 Prozent im Jahr 2003, mehr als 7 Prozent 2004 und 5 Prozent 2005. Das BSP pro Kopf der Bevölkerung liegt bei 12100 Dollar (geschätzt für 2005 - zum Vergleich: Syrien und Ägypten jeweils 3900 Dollar).



Es gibt also kaum Belege dafür, daß es der Islam ist, der Arabien daran hindert, dem Beispiel anderer Teile Asiens zu folgen und sich auf den Weg zum modernen, kapitalistischen Industriestaat zu machen. Was aber dann?

Der gescheiterte arabische Sozialismus, gewiß. Aber aus einem gescheiterten Sozialismus kann ja auch gerade neue Wachstumsdynamik hervorgehen, wie China und Osteuropa, wie Indien und inzwischen auch Vietnam zeigen. Was sind die Besonderheiten Arabiens, die bisher dort eine solche Entwicklung verhindert haben?

Eine einfache Antwort kann es natürlich nicht geben. Es könnten politische und kulturelle Traditionen eine Rolle spielen, gesellschaftliche und psychologische, geographische und klimatische Faktoren, wirtschaftsgeschichtliche Besonderheiten wie der traditionelle Schwerpunkt beim Handel; natürlich auch religiöse Unterschiede zwischen den nahöstlichen und den fernöstlichen Spielarten des Islam.

Solche Faktoren und ihre komplexen Wechselwirkungen zu untersuchen ist Sache der Fachleute; ich will und kann mich da nicht beteiligen. Ich möchte aber auf einen Umstand aufmerksam machen, der eine Rolle spielen könnte, und von dem ich den Eindruck habe, daß er kaum gewürdigt wird: Die Geschichte im 19. Jahrhundert.



Hier ist eine Weltkarte vom Ende des 19. Jahrhunderts. Wie üblich sind die britischen Kolonien hellrot und die französischen Kolonien violett eingezeichnet. Tiefrot findet man das niederländische, hellbraun das deutsche Kolonialreich usw.

Man sieht das weltumspannende Netz dieser Kolonien - und mitten darin sozusagen eine koloniale Lücke: den Nahen und Mittleren Osten. Vom Balkan bis nach Afghanistan erstreckt sich ein Band von in der Karte braun gezeichneten Staaten, die in der Legende als "Mohammedanische Reiche" bezeichnet werden. Es sind im wesentlichen das Osmanische Reich, Persien und Afghanistan. Asiatische Staaten, die niemals zu europäischen Kolonialreichen gehörten.

Das ist diejenige Region Asiens, die - mit Ausnahme der Türkei - heutzutage den Sprung in die Moderne nicht zu schaffen scheint, sondern die im Gegenteil vom Islamismus bedroht ist. Eine Koinzidenz? Gut möglich. Aber es könnte auch sein, daß hier ein wesentlicher Faktor liegt.



Der heutige Erfolg großer Teile Asiens basiert wesentlich darauf, daß sie es geschafft haben oder auf dem Weg dazu sind, auf der Basis einer sich immer mehr liberalisierenden Wirtschaft hochwertige Güter herzustellen und Dienstleistungen anzubieten, die international konkurrenzfähig sind. Das ging nur durch die Übernahme westlicher Technologie, westlicher Management-Methoden, vor allem aber der Disziplin, der Arbeitsmoral, der Effizienz, wie sie im westlichen Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet wurden.

Träger dieser Entwicklung waren und sind Eliten, die westlich orientiert sind - oft mit Englisch oder Französisch als Muttersprache, mindestens als Zweitsprache. Menschen, die in der westlichen Kultur ebenso verwurzelt, jedenfalls zu Hause sind wie in ihrer Nationalkultur. Englisch ist nicht nur in Indien Verkehrssprache, sondern auch in vielen anderen Ländern Asiens; die Eliten auch des kommunistischen Vietnam, von Laos und Kambodscha sind kulturell geprägt durch die französische Kolonialzeit.

Und die Länder Arabiens? Deren Kolonialherr war jahrhundertelang das rückständige Osmanische Reich. Es gab für einige von ihnen kurze Mandatszeiten nach dem Ersten Weltkrieg; es hatte gelegentliche britische Besatzungen gegeben, wie in Ägypten. Aber es hat sich nicht über ein Jahrhundert hinweg eine Elite herausgebildet, die wesentlich durch die westliche Kultur geprägt wurde.

Ein wesentlicher Faktor, der vielen Ländern Asiens den Eintritt in die Moderne, das Aufschließen zu Europa und Nordamerika erleichtert, fehlt also weitgehend. Gewiß gibt es Araber, die in Europa oder den USA studiert haben; gewiß gibt es - wie jetzt im Irak - heimgekehrte Emigranten. Aber das sind einzelne Personen, nicht eine ganze Schicht, wie beispielsweise in Indien die britisch geprägte Oberschicht.



Nochmals gesagt: Ich bin fern davon, zu behaupten, das sei der einzige oder auch nur der Hauptfaktor für den Rückstand Arabiens. Anderen Ländern ohne koloniale Vergangenheit - Japan, China, der Türkei - ist es gelungen, durch eine große Kraftanstrengung (Japan schon im 19. Jahrhundert, China unter der Kuomintang, die Türkei durch die eiserne Herrschaft Kemal Atatürks) den Weg in die Moderne zu beschreiten. Ländern mit kolonialer Vergangenheit, wie den meisten Afrikas, ist das andererseits bisher nicht gelungen.

Aber dies zugestanden - ist es nicht verwunderlich, daß das, was eine koloniale Vergangenheit an positiven Folgen doch zumindest nach sich gezogen haben könnte, in der heutigen Globalisierungsdiskussion so wenig beachtet wird?



© Zettel. Links zu allen drei Folgen dieser Serie findet man hier. Titelvignette: Lawrence of Arabia, 1919 gemalt von Augustus John. In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.