16. September 2006

Randbemerkung: Die Meute als Auditorium

Beim Nouvel Observateur ist es im Augenblick der Aufmacher. Auch Spiegel-Online hat es als Aufmacher. El País hat es auf der Startseite. Der Messagero hat es an zweiter Stelle auf der Titelseite: Der Papst wird massiv, er wird lautstark von Moslems kritisiert.



Was ist geschehen? Der Papst hat eine Abschiedsreise nach Bayern unternommen. Er war an den Stätten, die ihm einmal wichtig gewesen sind. An der Universität Regensburg, an der er lange Professor gewesen ist, hat er eine Abschiedsvorlesung gehalten.

Ich habe sie im TV verfolgt, bevor ich sie hier auf der WebSite der FAZ noch einmal nachgelesen habe. Eine sorgfältige, durchdachte Vorlesung, beim Zuhören noch viele eindrucksvoller, als wenn man sie liest. Eine Vorlesung, die zeigt, wie sehr Ratzinger ein gelehrter Papst ist - so, wie Pacelli und Montini aristokratische Päpste waren, Roncalli ein moralischer Papst und Woytila ein Papst des Charismas.

Ein gelehrter Papst - nein, ein Gelehrter, der es zum Papst gebracht hat, hielt diese Vorlesung. Wie es ein guter Dozent macht, schlug er nach ein paar einleitenden Sätzen sehr bald das Thema an, wenn auch fast beiläufig. Er sprach vom Verhältnis zu seinen Kollegen aus den anderen Fakultäten, damals in Regensburg, und merkte dazu an:
Daß wir in allen Spezialisierungen, die uns manchmal sprachlos füreinander machen, doch ein Ganzes bilden und im Ganzen der einen Vernunft mit all ihren Dimensionen arbeiten und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung für den rechten Gebrauch der Vernunft stehen, das wurde erlebbar.
Damit war das Thema der Vorlesung genannt - die Vernunft, die es ermöglicht, sich über alle Grenzen hinweg miteinander zu verständigen. Sogar mit Agnostikern, denn:
Daß es auch solch radikaler Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität unbestritten.
Es geht also um den Dialog über Grenzen der eigenen Überzeugtheit hinweg, und Ratzinger sagt, daß er auf dem gemeinsamen Boden der Vernunft möglich ist.



Auf diese Textstelle folgt unmittelbar diejenige, die jetzt die Medien füllt. Ich zitiere sie als Ganzes, auch wenn es ein etwas längeres Zitat wird. Der Satz, der jetzt für weltweite Aufgeregtheit sorgt, ist von mir zusammen mit seinem Kontext hervorgehoben:
All dies ist mir wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich den von Professor Theodore Khoury (Münster) herausgegebenen Teil des Dialogs las, den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über Christentum und Islam und beider Wahrheit führte. Der Kaiser hat wohl während der Belagerung von Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet; so versteht man auch, daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben sind als die Antworten des persischen Gelehrten. Der Dialog erstreckt sich über den ganzen Bereich des von Bibel und Koran umschriebenen Glaubensgefüges und kreist besonders um das Gottes- und das Menschenbild, aber auch immer wieder notwendigerweise um das Verhältnis der "drei Gesetze": Altes Testament, Neues Testament, Koran. In dieser Vorlesung möchte ich nur einen, im Aufbau des Dialogs eher marginalen, Punkt behandeln, der mich im Zusammenhang des Themas Glaube und Vernunft fasziniert hat und der mir als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu diesem Thema dient.

In der von Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde kommt der Kaiser auf das Thema des Djihad (heiliger Krieg) zu sprechen. Der Kaiser wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen - es ist eine der frühen Suren aus der Zeit, in der Mohammed selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im Koran niedergelegten, später entstandenen, Bestimmungen über den heiligen Krieg. Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von "Schriftbesitzern" und "Ungläubigen" einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: "Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten". Der Kaiser begründet dann eingehend, warum Glaubensverbreitung durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen der Seele. "Gott hat kein Gefallen am Blut, und nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung": "Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann".
Es geht also auch in dieser Passage um Vernunft. Es geht um die Vernunft, mit der man "eine vernünftige Seele überzeugen" kann. Während man Menschen nicht mit Gewalt zu einem Glauben bekehren kann, den sie ablehnen.

Und so resümiert Ratzinger denn auch:
Der entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht vernunftgemäß handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.
Dies ist für ihn der theologisch-philosophische Ausgangspunkt für eine fundamentale Auseinandersetzung mit dem Islam:
Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazn so weit gehe zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Idolatrie treiben.
Das nun ist in der Tat fundamental - fundamentaler geht es kaum noch. Ratzinger spricht damit eine grundlegende Differenz nicht nur mit dem Islam an, sondern einen Streitpunkt, der die christliche Theologie wie ein Graben durchzieht: Ist auch Gott an die Vernunft gebunden? Ratzinger sagt, in der Tradition von Augustinus und Thomas von Aquin: Ja, er ist. Und das bedeutet: Auch die Theologie hat sich dem Dialog im Licht der Vernunft zu stellen. Ratzinger sagt deutlich, wie fundamental das ist:
Hier tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar herausfordert.


Ratzinger verfolgt dann diesen Gedanken durch die Geschichte der Theologie hindurch. Schon im Alten Testament sieht er die "Bestreitung des Mythos, zu der der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu übersteigen, in einer inneren Analogie steht." "Mit diesem neuen Erkennen Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand" heißt es dann. "So geht der biblische Glaube in der hellenistischen Epoche (...) dem Besten des griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung ..."

Im nächsten, sehr detaillierten Teil der Vorlesung geht Professor Ratzinger den kirchlichen Strömungen nach, die dieser theologischen Position entgegenstanden - der Voluntarismus von Duns Scotus, das "Sola Scriptura" (allein die Schrift) Luthers, die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, mit der - in der Vorlesung vertreten durch Harnack - er sich ausführlich auseinandersetzt, die moderne Theorie der Enkulturation. Gegen die Harnack'sche Verwissenschaftlichung der Religion hat er einen zentralen Einwand. Er sagt im Grunde nicht, daß diese Theologie falsch sei, sondern daß sie gefährlich sei:
Das Subjekt entscheidet mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive "Gewissen" wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit. Dieser Zustand ist für die Menschheit gefährlich: Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so verengt wird, daß ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören.


Das Fazit, zu dem diese Überlegungen führen, liegt auf der Hand:
Die eben in ganz groben Zügen versuchte Selbstkritik der modernen Vernunft schließt ganz und gar nicht die Auffassung ein, man müsse nun wieder hinter die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden. Das Große der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt. (...) Nicht Rücknahme, nicht negative Kritik ist gemeint, sondern um Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs geht es. (...)
Und dann schlägt Ratzinger den Bogen zurück zum Kaiser Manuel II. Palaeologos und seinem Dialog mit dem persischen Gelehrten:
Nur so werden wir auch zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen. (...) Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. (...) Der Westen ist seit langem von dieser Abneigung gegen die grundlegenden Fragen seiner Vernunft bedroht und kann damit nur einen großen Schaden erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe - das ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie in den Disput der Gegenwart eintritt. "Nicht vernunftgemäß (mit dem Logos) handeln ist dem Wesen Gottes zuwider", hat Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her zu seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber immer wieder zu finden ist die große Aufgabe der Universität.


Ratzingers Auditorium waren Studenten und Dozenten der Universität Regensburg. Sein weiteres Auditorium waren und sind Menschen, die in der Lage sind, einen philosophisch-theologischen Text zu verstehen.

Aber nun hat er ein weltweites Auditorium: Ein millionenfaches Auditorium von Moslems, die kein Wort seiner Vorlesung gehört oder gelesen haben, die nichts von ihrer Argumentation oder auch nur ihre Intention wissen und von denen die meisten ihr vermutlich auch gar nicht folgen könnten.

Ihnen wird von denjenigen, denen sie als ihren Imams vertrauen, ein einziger, bewußt oder aus Dummheit falsch verstandener Satz aus der Vorlesung vorgeworfen wie dem Köter ein Stück Fleisch. Oder vielmehr: Mit dem Stück Fleisch wird vor ihnen gewedelt in der Hoffnung, daß sie wild werden und sich hinein verbeißen.

Die Meute als Auditorium, im Zeitalter des Internet.



Und wie wird man im christlichen Abendland reagieren? Wird man diejenigen, die sich zu Unrecht erregen, in ihre Schranken weisen?

Ich fürchte, viele werden das nicht tun, sondern, wieder einmal gebeugt durch the white man's burden, die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich richtig gewesen sei, daß der Papst "die Gefühle von Moslems verletzt" habe.