16. September 2006

Zettels Meckerecke: Beleidigung und Toleranz

Den gestrigen Beitrag über die Vorlesung des Papsts und die Reaktion darauf hatte ich mit einem pessimistischen Ausblick beendet:
Und wie wird man im christlichen Abendland reagieren? Wird man diejenigen, die sich zu Unrecht erregen, in ihre Schranken weisen? Ich fürchte, viele werden das nicht tun, sondern, wieder einmal gebeugt durch the white man's burden, die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich richtig gewesen sei, daß der Papst "die Gefühle von Moslems verletzt" habe.
Ausgerechnet die New York Times erfüllt heute diese düstere Erwartung, ja übererfüllt sie. Nicht einfach in einem Kommentar, sondern in einem Editorial. Ein Editorial ist in amerikanischen Zeitungen ein nicht namentlich gezeichneter Kommentar, der gewissermaßen die offizielle Meinung der Redaktion wiedergibt.

In diesem heutigen Editorial der NYT "The Pope's Words" also lesen wir als das Fazit: He needs to offer a deep and persuasive apology. Er muß eine tiefe und überzeugende Entschuldigung vorbringen.



Sehen wir uns dieses Editorial etwas genauer an:
There is more than enough religious anger in the world. So it is particularly disturbing that Pope Benedict XVI has insulted Muslims, quoting a 14th-century description of Islam as "evil and inhuman."
Das Editorial findet es also "beunruhigend", daß der Papst "Moslems beleidigt" habe, indem er eine "Beschreibung des Islam" aus dem 14. Jahrhundert als "böse und inhuman" zitiert habe.

Daran ist eigentlich nur richtig, daß der von Ratzinger zitierte Kaiser Manuel II. Palaeologos im 14. Jahrhundert lebte.

Ansonsten
  • hat der Papst keine Moslems beleidigt - er hat über sie als Angehörige einer Religionsgemeinschaft ja gar nichts geäußert.

  • Er hat auch nicht eine "Beschreibung des Islam" zitiert, sondern eine Äußerung von Manuel II. Palaeologos über Mohammed.

  • Und dieser Autor hat ausdrücklich auch nicht Mohammed generell gekennzeichnet, sondern er hat sich zu dem geäußert, was Mohammed "Neues gebracht hat".

  • Dort finde man, sagt Manuel II. Palaeologos, "nur Schlechtes und Inhumanes". "Schlecht" mit "evil" zu übersetzen ist zumindest fragwürdig. Ich hätte es mit "bad" übersetzt. "Evil" ist "böse".

  • Und vor allem - hat sich denn Ratzinger das Zitat zu eigen gemacht? In keiner Weise. In "erstaunlich schroffer Form" spreche der Kaiser, sagt Ratzinger. Er tut als ein Professor, der eine Vorlesung hält, etwas, was man in einer Vorlesung ständig tut - er zitiert einen historischen Autor, um von ihm ausgehend seine eigene Argumentation zu entwickeln.

  • Und diese hat überhaupt nicht den Islam zum Gegenstand. Das Thema der Vorlesung ist vielmehr die Vernunft und ihre Beziehung zur Religion.


  • In dem Editorial folgen Anmerkungen zu Papst Benedikt, deren Zusammenhang mit der ihm jetzt vorgeworfenen "Beleidigung" sich jedenfalls mir nicht erschließt.

    Das Editorial erwähnt, daß Ratzinger als Kardinal gegen den Beitritt der Türkei zur EU eingetreten sei - was in aller Welt hat das mit der jetzigen angeblichen Beleidigung zu tun? Neigt jemand zum Beleidigen, wenn er eine solche Erweiterung der EU ablehnt?

    Ein doctrinal conservative (ein doktrinärer Konservativer) sei der Papst, heißt es weiter - angenommen, er ist das (was man mit Gründen bezweifeln kann): Was hat es dann mit der angeblichen Beleidigung zu tun? Neigen Konservative besonders dazu, andere zu beleidigen?



    Aber zitieren wir den ganzen Satz: A doctrinal conservative, his greatest fear appears to be the loss of a uniform Catholic identity, not exactly the best jumping-off point for tolerance or interfaith dialogue. Übersetzt: Ein dokrinärer Konservativer, scheint es seine größte Angst zu sein, daß die einheitliche katholische Identität verlorengeht, nicht gerade der beste Ausgangspunkt für Toleranz oder einen Dialog zwischen den Religionen.

    Und da nun scheint mir der Geist dieses Editorial sichtbar zu werden: Der Autor oder die Autorin sieht das Bewahren der eigenen Identität als ein Hindernis für Toleranz und Dialog an. Welche Überlegung dahintersteckt, weiß ich nicht. Aus meiner Sicht jedenfalls bedeutet Toleranz nicht, daß man sich dem anderen anpaßt, sondern daß man dessen Überzeugung - in ihrer Verschiedenheit zur eigenen Meinung - respektiert.

    Respektieren kann man aber nur, was man ernst nimmt. Und Ernstnehmen bedeutet auch Kritisieren. Die Bereitschaft zu einem Dialog, in dem man das, was man beim Anderen falsch findet, auch offen kritisiert, durchzieht die Vorlesung Ratzingers.

    Der Autor oder die Autorin des Editorial hat augenscheinlich ein anderes Toleranzverständnis. Eines, das es offenbar den Moslems nicht zumuten will, zu ertragen, daß ein Autor des vierzehnten Jahrhunderts zitiert wird.

    Eines, das es offenbar andererseits aber nicht als intolerant klassifiziert - jedenfalls findet das keine Erwähnung in dem Editorial -, daß als Reaktion auf einen Satz in einer akademischen Vorlesung der Papst in effigie verbrannt und daß gewalttätig demonstriert wird.

    Kurz - das scheint mir ein Verständnis von Toleranz zu sein, das man vielleicht in den USA "liberal" nennt, das aber mit europäischem Verständnis von Liberalität wenig zu tun hat. Einem Verständnis von Liberalität, wie es seinen Ausdruck in der berühmten Marginalie gefunden, die Friedrich II. am 22. Juni 1740 an den Rand einer ihm vorgelegten Akte schrieb. In heutiger Orthographie: "Die Religionen müssen alle toleriert werden, und muß der Fiscal nur das Auge darauf haben, daß keine der anderen Abbruch tue, denn hier muß ein jeder nach seiner Fasson selig werden".




    Ergänzende Anmerkung: Der Kommentar in der NYT, der Gegenstand dieser Beitrags ist, steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der (wie fast immer bei der NYT) ausgewogenen und detaillierten Berichterstattung im Nachrichtenteil. Bereits am 13. September war z.B. dieser ausgezeichnete Artikel von Ian Fisher erschienen, der ausführlich über die Vorlesung informiert.