7. September 2006

Der Somst

In diesen Tagen beginnt meine Lieblings-Jahreszeit. Sie ist keine der "Vier Jahreszeiten", sondern eine Zeit weit minderen Rangs - nur eine Zwischenzeit, eine Zeit des Übergangs. Im Deutschen heißt sie erst Spätsommer und dann, wenn sie fortschreitet, Frühherbst. Ein anderer Name ist Altweibersommer (Das ist, wie wir der Wikipedia entnehmen können, gemäß Urteil des Landgerichts Darmstadt keine ältere Damen diskriminierende Bezeichung). In England nennt man sie ganz gleichartig Old Wives' Summer. Der Indian Summer in den USA und in Canada (dort also auch Été Indien) umspannt unseren Frühherbst, ja ragt teilweise bis spät in den Herbst hinein; denn bis in den November findet man dort in bestimmten Gegenden das, was diese Zeit des Jahres ausmacht: Das spezifische Wetter, den spezifischen Zustand der Vegetation.

Wie also diese Zeit nennen? Ich will mich im Folgenden für keinen der aufgezählten Namen entscheiden und spreche schlicht vom Somst, zusammengezogen aus Sommer und Herbst wie der Smog aus Smoke und Fog.



Was kennzeichnet ihn, den Somst?

Das Wetter? Ja, natürlich. Die Hitze des Sommers ist vorbei. Der Tag beginnt nicht selten mit Nebel. Dann stellt sich das ein, was die Meteorologen gern "Ruhiges Spätsommerwetter" nennen. Viel Sonne, wenig Wind. Die Schatten sind lang geworden. Der Tag beginnt spät und endet zu einer Stunde, in der man im Hochsommer noch am Strand liegen konnte.

Dann die Vegetation. "Bunt sind schon die Wälder", wir wissen es zu singen (kennen aber zumeist nicht den Autor, einen gewissen Johann Gaudenz Frhr. v. Salis-Seewis, der das 1782 gedichtet hat). Manchmal ist es in dieser Zeit so schön wie die Neuengland-Landschaft, in der Edmund Gwenn und Shirley McLaine in Hitchcocks wunderbarem Film ihren Ärger mit Harry in den Griff zu kriegen versuchen.

Drittens: Diese Eigenarten des Wetters und der Vegetation haben eine Bedeutsamkeit, die über solche sinnlichen Eindrücke hinausreicht. Sie werden durch den Umstand mit einem bestimmten, sagen wir, Timbre versehen, daß sie auf ein baldiges Ende hindeuten. Es wird eng mit der Zeit. Die letzten Früchte, die letzte Süße des Weins, und wer jetzt nicht behaust ist, der geht harschen Zeiten entgegen. So ungefähr sagt es der Dichter, und wir alle haben es im Kopf.

Warum in aller Welt wird dieser schönen Zeit der Status einer vollgültigen Jahreszeit verwehrt? Warum verteilt man sie auf zwei andere Jahreszeiten, so wie Völker, denen ihr eigener Staat verwehrt wird, auf verschiedene Länder verteilt werden?

Die Frage mag kurios erscheinen. Ja, gibt es sie denn nicht nun mal halt, die Vier Jahreszeiten?



In welchem Sinn "gibt" es die uns vertrauten vier Jahreszeiten? Es gibt sie im Grunde nur in einem einzigen Sinn: In Bezug auf die Länge der Tage; genauer, auf ihre Änderung im Jahreszyklus. Zweimal im Jahr herrscht Tag-und Nachtgleiche. Einmal im Jahr werden die Tage wieder länger, einmal wieder kürzer. Diese vier Ereignisse definieren den Beginn von Frühling, Sommer, Herbst und Winter.

Die vier Zeitpunkte ergeben sich aus der Neigung der Erdachse und dem Lauf der Erde um die Sonne, wie man es sich hier anschauen kann. Man kann sich anhand dieses Schemas auch leicht klarmachen, warum die Unterschiede in der Länge von Tag und Nacht in Polnähe am Ausgeprägtesten sind und zum Äquator hin abnehmen; wie hier zu sehen. Am Äquator selbst herrscht immer Tag- und Nachtgleiche. Denn egal, wo sich die Erde bei ihrem Umlauf um die Sonne befindet - der Äquator ist derjenige Breitengrad, der immer genau zur Hälfe auf der Tag- und zur Hälfte auf der Nachtseite liegt.

Gibt es am Äquator also keine Jahreszeiten? Nein, im astronomischen Sinn nicht. Meteorologisch aber schon; es gibt die Regenzeit, die Trockenzeit, beispielsweise.

Woraus erhellt: Wenn wir von Jahreszeiten sprechen, dann meinen wir das gar nicht im astronomischen Sinn. Täten wir das, dann würde ja der Nikolaustag in den Herbst fallen. Der Bauer würde im Märzen sein Rößlein einspannen, wenn Winter herrscht. Und die vergangene Fußball-WM hätte in ihren beiden ersten Wochen im Frühling stattgefunden.

Wir grenzen die Jahreszeiten offensichtlich nicht so ab, wie die Astronomie es befiehlt. Wir tun es vielmehr nach Wetter und Vegetation, oft auch sehr subjektiv (für mich zB beginnt der Frühling mit den ersten Krokussen, der Sommer mit dem ersten Tag, an dem man sich unbekleidet sonnen kann).

Wenn wir uns aber ohnehin die Freiheit nehmen, uns in diesem Punkt von der Astronomie zu emanzipieren - was verpflichtet uns dann eigentlich dazu, uns an die Heilige Zahl vier zu halten? Meine Lieblings-Jahreszeit, der Somst, könnte dann durchaus Anspruch auf jahreszeitliche Eigenstaatlichkeit erheben.

Oder wenigstens auf einen Autonomiestatus.



Wenn es nach mir ginge, dann gäbe es sechs Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Somst und Winter, und dazwischen zwei Sturm- und Matschzeiten; eine vor dem Sommer (sagen wir, im April) und eine - der Herbst - zwischen dem Somst und dem Winter.

Die Länge dieser sechs Jahreszeiten variiert von Jahr zu Jahr. Manchmal fällt eine davon auch fast ganz aus, in bestimmten Gegenden. Wie der Herbst im Jahr 2003. Da verbrachten wir den Somst in Südbaden, im Dreiländereck. Anfang Oktober war es noch warm; man lag in der Sonne. Dann fiel von einem Tag auf den anderen Schnee, und der Schauinsland präsentierte sich mit einer weißen Spitze, wie der Fujiyama.