30. Juni 2010

Marginalie: Wulff mit absoluter Mehrheit - 625 Stimmen - im dritten Wahlgang gewählt. Noch ein Kommentar mit fremder Feder

Mein Kommentar zur Wahl von Bundespräsident Wulff ist bereits seit Mitternacht hier zu lesen. Zu den heutigen Ereignissen fällt mir nur noch dies ein:
Als der Dampf sich nun erhob,
Sieht man Merkel, die - gottlob! -
Lebend auf dem Rücken liegt;
Doch sie hat was abgekriegt.
Frei nach Wilhelm Busch.



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Marginalie: 615 zu 613. Wulff ist fast durch

Christian Wulff hat im zweiten Wahlgang mehr Stimmen bekommen als Gauck und Jochimsen zusammen.

Selbst wenn alle kommunistischen Abgeordneten im dritten Wahlgang für Gauck stimmten, würde es also nicht reichen; es sei denn, es kämen noch einige derer hinzu, die sich jetzt enthalten haben. Wulff ist also fast durch.



Die Kommunisten werden jetzt beraten. Die Lage ist für sie relativ klar:

Gauck kann kaum noch gewinnen. Wenn man jetzt die Kandidatin Jochimsen zurückzieht, dann wird das wahrscheinlich Gauck nicht zur Mehrheit verhelfen, aber die Gespaltenheit der Kommunisten in dieser Frage offenbaren.

Das spricht aus Sicht der Kommunisten dafür, daß Lukrezia Jochimsen auch im dritten Wahlgang noch einmal antritt.

Andererseits könnten diejenigen in der Partei "Die Linke", die wie Bartsch auf eine möglichst baldige Volksfront-Regierung zusteuern, jetzt ein Signal an die Rotgrünen senden, das sie nichts kosten würde: Sehet, wir sind bei euch, wenn es darauf ankommt.



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Zitat des Tages: "Die FDP steht", sagte Westerwelle. Sie stand nicht. Die Union stand nicht. Debakel für Merkel

Die FDP steht und ist geschlossen, und das ist dann auch ein gutes Signal.

Guido Westerwelle gegenüber der Presse unmittelbar vor Beginn der Bundesversammlung, übertragen vom Sender "Phoenix".


Kommentar: Von 644 Wahlleuten der Regierungsparteien haben im ersten Wahlgang maximal 600 für den Kandidaten Christian Wulff gestimmt.



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Gorgasals Kleinigkeiten: Sommerloch 2010

Es ist Sommer, die Temperaturen steigen. Politiker und Prominente sind im Urlaub oder auf dem Weg dorthin. Und manchmal hat man den Eindruck, auch in deutschen Redaktionen seien nur noch die Volontäre da, die jetzt auch einmal lange Artikel über Ereignisse von nationaler Bedeutung schreiben dürfen - oder solche, die sie dafür halten.

Dieses Jahr hat uns das Sommerloch bislang zwei Artikel in der Online-Ausgabe der FAZ beschert, beide im weitesten Sinne auf die anstehende Bundespräsidentenwahl bezogen.

Zum einen lesen wir etwas über die Oberarmtätowierung der Gattin des Kandidaten Wulff, unter der gelungenen Überschrift "Enthüllungen: Die Flammen der Frau Wulff". Vorweg: nein, enthüllt wird nichts. Es wird lediglich über das vage durch Frau Wulffs Kleidung hindurch sichtbare "schmückende Ornament, dem man seine Bedeutung auf den ersten Blick nicht ansieht", geschrieben. Unter anderem verrät uns Frau PD Dr. Aglaja Stirn, ihres Zeichens Leiterin der Abteilung für Psychosomatische Medizin an der Universitätsklinik Frankfurt und - soweit ich das ergoogeln konnte - Autorin von "Veröffentlichungen zu Essstörungen, Körpermodifikationen, Neurobiologie, buddhistische Kunst und Nordostindien": "Eine Bedeutung hat eine Tätowierung aber immer." Wir sind beruhigt, Frau PD Dr. Stirn.

Zum anderen finden wir im Sommerloch einen Artikel über die Lieblingsromane der Kandidaten. Christian Wulff liest am liebsten Antoine de Saint-Exupérys Kleinen Prinzen. Der im übrigen bei der FAZ ganz schlecht wegkommt - so wird folgendes zur Rezeption des Kleinen Prinzen auf dem studentischen sozialen Netzwerk unicum.de berichtet: "Mit Männern, die beim Chat-Geplänkel vor dem ersten Date auf die Frage nach ihrem Lieblingsbuch den „Kleinen Prinzen“ nennen, sollte man sich besser überhaupt nicht treffen, ist hier zu lesen. Die Gefahr ist zu groß, an einen ganz gewissen Typus zu geraten: außen soft, innen knallhart, ein Weichei aus Berechnung." Leider konnte offenbar kein Wissenschaftler für eine fundierte Aussage über die Psychopathologie von Kleinprinzlesern gewonnen werden, wahrscheinlich war Frau PD Dr. Stirn nicht zu erreichen, so muss man eben unicum.de zitieren.

Der Kandidat Gauck wird mit seiner Lektüre seitens der FAZ gnädiger behandelt, aber Hemingways For Whom the Bell Tolls ist ja auch einfach präsidialer. Dennoch fällt auf, dass Gaucks Lieblingslektüre in der FAZ deutlich kürzer abgehandelt wird als die Wulffs; möglicherweise findet sich bei unicum.de ja einfach kein Eintrag zu Hemingway? Tatsache: die einzigen Treffer beziehen sich auf eine Verfilmung, nicht auf das Buch. Nun ja, wenn sowohl Frau PD Dr. Stirn als auch unicum.de einen im Stich lassen, dann bleibt dem FAZ-Autor in der Tat nicht mehr viel übrig.

Wir freuen uns auf jeden Fall auf die Bundespräsidentenwahl und auf die scharfsinnigen Analysen, in denen uns die FAZ den Einfluss von Hemingway oder von Gattinnentätowierungen auf die politisch-repräsentative Arbeit des neuen Bundespräsidenten erläutern wird.


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Bundespräsident Christian Wulff

Die erste Laudatio auf unseren neuen Präsidenten ist bereits erschienen. Hajo Schumacher, einst "Spiegel"-Redakteur und jetzt freier Journalist, hat sie für "Welt-Online" geschrieben. Sie liest sich über weite Passagen so, als bewerbe sich Schumacher um das Amt des Sprechers des Präsidialamts. Kostprobe:
Er entstammt keinem edlen Gestüt, sondern Verhältnissen dicht am Prekariat. Wenn die jungen Herren von der Jungen Union auf Reisen gingen, bekam Wulff von Gönnern oft ein paar Mark zugesteckt. Seine Anzüge saßen selten gut, dafür glänzten sie vom vielen Aufbügeln.
Man sieht, Schumacher hat sich an Charles Dickens geschult. Und so geht es weiter, bis hin zu stilistischen Höhepunkten wie:
Es geht keinen was an, dass sein Opa ihm auf dem Sterbebett mitgab: "Du musst in deinem Leben Verantwortung tragen und für andere da sein."
Nun wird er also für andere da sein, ab heute Mittag voraussichtlich. Für uns alle wird er da sein, jener Christian Wulff, der, so will es uns Hajo Schumacher nahebringen, so ist wie wir alle:
Es gehört zu den ewigen Geheimnissen der deutschen Seele, warum die Menschen verabscheuen, was sie selbst ausmacht. Wulff ist ein Kandidat wie Deutschland, nicht besser, aber auch nicht schlechter.
Genug des Schmuses. Verlassen wir den Laudator Schumacher bei diesem Urteil über Deutschland und fragen wir, wie es nach der Wahl von Wulff weitergehen wird.



Zunächst: So ganz sicher ist sie nicht, diese Wahl. Sie ist nur sehr, sehr wahrscheinlich.

Nicht unbedingt im ersten Wahlgang; da mag es manche in den Reihen der Regierungsparteien geben, die sich nicht durch die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin vorschreiben lassen wollen, wen sie zu wählen haben. Zumal bei der FDP viele Gauck für den liberaleren Kandidaten, auch für persönlich überzeugender halten dürften als Christian Wulff.

Sie werden diese Meinung haben, obwohl doch Wulff, Hajo Schumacher zufolge, so gut und so schlecht ist wie Deutschland. Dem einen oder anderen mag das als Qualifikation für das Amt des Bundespräsidenten als noch nicht ganz ausreichend erscheinen.

Aber wer von den Wahlleuten im ersten Wahlgang aus einem solchen Motiv heraus (oder vielleicht auch, weil er einfach der Kanzlerin eins auswischen will) Wulff nicht mitwählt, der wird es in der Regel mit dieser Demonstration gut sein lassen und im zweiten, spätestens im dritten Wahlgang so wählen, wie man es von einem Politiker erwarten kann: Nach Machtkalkül.

Also werden die Schwarzen und die Gelben dann in hinreichender Zahl Wulff wählen, und die Grünen und die Roten in nicht hinreichender Zahl Gauck.

Spannend könnte es allenfalls dann werden, wenn Wulff auch im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit deutlich verfehlen sollte; dann könnten die Kommunisten ins Grübeln kommen, ob sie nicht im dritten Wahlgang doch Gauck unterstützen, zwecks Vorbereitung der Volksfront im Jahr 2013. Man kann ja dann sagen, gegenüber Wulff sei er immer noch das kleinere Übel.



Alles denkbar. Alles denkbar unwahrscheinlich. Wir werden wohl den Bundespräsidenten Wulff bekommen.

Und dann? Dann werden wir keinen Bundespräsidenten vom Format eines Theodor Heuß, eines Gustav Heinemann, eines Richard von Weizsäcker, eines Roman Herzog oder auch (jawohl) eines Horst Köhler haben.

Aber es wird auch nichts Schlimmes passiert sein.

Eine Chance ist dann vertan; die nämlich, mit Joachim Gauck jemanden zu wählen, der sich in diese Reihe eingefügt hätte. Die Chance, einen bedeutenden Mann zu bekommen, einen selbständigen Kopf, einen großen Liberalen; siehe "Sich aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse erlösen"; ZR vom 23. 6. 2010.

Stattdessen werden wir ab heute Mittag wohl einen der "kleinen" Bundespräsidenten haben, einen wie Heinrich Lübke (der so übel nicht war, bevor ihn die beginnende Altersdemenz ereilte), wie Walter Scheel, wie Karl Carstens oder Johannes Rau. Eben einen, der so ist "wie Deutschland, nicht besser, aber auch nicht schlechter".



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Christian Wulff 2009. Vom Autor Ukko.de unter GNU Free Documentation License, Version 1.2 oder später, freigegeben. Bearbeitet.

29. Juni 2010

Zitat des Tages: Die Ministerin Schröder ist für fast "alle zuständig". Nebst einem Blick auf die Geschichte der Aufblähung ihres Ministeriums

Ich bin dem Namen des Ministeriums nach für alle zuständig - außer für mittelalte, kinderlose Männer.

Bundesministerin Kristina Schröder am vergangenen Sonnabend in einem Interview mit der "Rheinischen Post".


Kommentar: Wahr gesprochen. Der volle Name des Ministeriums, dem Kristina Schröder vorsteht, lautet Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Nur wer nicht Frau ist, keine Kinder hat und weder zur Jugend noch zu den Senioren gehört, entgeht der Betreuung durch dieses Ministerium.

Vor der zitierten Antwort der Ministerin steht in der "Rheinischen Post": "(lacht)". Ja, das ist zum Lachen. Nur eine Minderheit der Deutschen fällt heute durch ein Raster, das ansonsten alle mit staatlicher Betreuung, Förderung, Unterstützung, mit Betütelung aller Art überzieht.

Der "Sozialstaat" wurde, als er sich vor mehr als einem Jahrhundert herauszubilden begann, als ein Staat verstanden, der den Schwachen hilft, die sich selbst nicht helfen können; also einer Minderheit. Heute ist dieser Sozialstaat für das Wohl (fast) aller Bürger zuständig.

Kaum einem von uns wird mehr zugetraut, sich selbst helfen zu können. Aus der Fürsorge für eine Minderheit ist die Bevormundung der großen Mehrheit geworden. Und eine wesentliche Schaltstelle ist dabei dieses Ministerium mit dem langen Namen.

Ausgenommen ist bedauerlicherweise noch jene Minderheit der mittelalten, kinderlosen Männer. Das ist eine Lücke. Es wird Zeit, die Bezeichnung des Ministeriums mindestens um "Singles" zu ergänzen; besser noch gleich auch um "Männer".

"Bundesministerium für Familie und Singles, Jugend und Senioren, Frauen und Männer" - wäre das nicht ein schöner Name?



Die Geschichte dieses Ministeriums spiegelt die Entwicklung der Bundesrepublik vom Staat der sozialen Marktwirtschaft zum durchsozialdemokratisierten Versorgungsstaat wider.

Am Anfang gab es dieses Ministerium gar nicht. Im ersten Kabinett Konrad Adenauers von 1949 war keine der Aufgaben, die heute das Ressort der Ministerin Schröder ausmachen, durch ein Ministerium vertreten.

Als Konrad Adenauer nach den Wahlen 1953 sein zweites Kabinett bildete, wurde erstmals ein einschlägiges Ressort geschaffen: Das "Bundesministerium für Familienfragen" des konservativen Katholiken Franz-Josef Wuermeling. Unvergessen ist, von ihm 1955 eingeführt, "Der Wuermeling"; jener Ausweis, den man als Kind aus einer "kinderreichen" (ab drei Kinder) Familie erhielt und der es erlaubte, zum Kindertarif Bahn zu fahren, auch wenn man zum Beispiel schon studierte.

Dann ging es los mit dem Erweitern.

Nach dem Wahlsieg Adenauers von 1957 wurde Wuermelings Ministerium um die Zuständigkeit für Jugendfragen erweitert. "Bundesministerium für Familien- und Jugendfragen", dann nur noch kurz "Bundesministerium für Familie und Jugend" hieß es auch noch, als es 1962 Bruno Heck von Wuermeling übernahm, auf den in der Großen Koalition kurzzeitig die heute vergessene Änne Brauksiepe folgte.

Sie war die erste Frau an der Spitze dieses Ministeriums. Fortan sollte es - mit einer einzigen Ausnahme - eine Frauendomäne sein.

Auf Brauksiepe folgte im ersten Kabinett Willy Brandts Käthe Strobel. Durch Zusammenlegung mit dem zuvor von ihr geleiteten Gesundheitsministerium wurde das Ressort abermals erweitert und hieß jetzt "Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit". Jugend also nun vor Familie, anders, als es unter Adenauer, Erhard und Kiesinger gewesen war.

Nach dem Wahlsieg der sozialliberalen Koalition 1972 blieb diese Bezeichnung erhalten; und natürlich übernahm das Ministerium wieder eine Frau, Katherina Focke. Es folgten bis zum Ende der sozialliberalen Koalition die Ministerinnen Antje Huber und Anke Fuchs.

Eine Frau aus der SPD, das war von 1969 bis 1982 die sozusagen geborene Besetzung für dieses Ressort, das in dieser Zeit auch seinen Namen nicht änderte. Er blieb auch noch erhalten, als 1982 mit Heiner Geißler noch einmal ein Mann das Ressortchef wurde. 1985 folgte ihm die sehr populäre Rita Süßmuth; seither ist das Ministerium wieder fest in Frauenhand.

Im Wahljahr 1986 kam ein erneuter Durchbruch. Wähleranalysen hatten gezeigt, daß der CDU die Frauen davonliefen. Als Gegenmittel wurde das Ministerium von Rita Süßmuth um die Zuständigkeit für Frauen erweitert. Vom Juni 1986 an trug es den stolzen Namen "Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit".

1988 folgte der zur Bundestagspräsidentin aufgestiegenen Rita Süßmuth die Professorin Ursula Lehr nach, eine Psychologin mit dem Forschungsschwerpunkt Alter. Das Ministerium kümmerte sich unter ihr folglich verstärkt um Senioren; auf seine Bezeichnung - sie wäre damit wohl allzu unhandlich geworden - wirkte sich das aber zunächst nicht aus.



Aber es war nun natürlich weiter für die Familie zuständig, dieses Ministerium. Es war zusätzlich für die Jugend zuständig geworden und nun auch die Senioren. Es war für die Frauen zuständig geworden und für die Gesundheit; auch jene der Männer. Das Ministerium, das es im ersten Kabinett Adenauer noch gar nicht gegeben hatte, war zu einem Monster herangewachsen.

Nach der Wiedervereinigung, als es auch darum ging, Ministerien an Politiker aus dem Osten zu vergeben, wurde das Ministerium zerlegt wie einst das Reich Karls des Großen. Zugleich tauchten nun die Senioren auch offiziell im Namen auf. Familie und Senioren ging an Hannelore Rönsch, Frauen und Jugend an Angela Merkel und die Gesundheit an Gerda Hasselfeld.

Bald aber wuchs wieder zusammen, was zusammengehörte. Nach den Bundestagswahlen von 1994 machte Helmut Kohl aus zwei wieder eins, und die junge Claudia Nolte aus dem Osten erhielt ein Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Und so heißt es heute noch. Zuständig für uns alle; es sei denn, wir sind männlich, mittleren Alters und kinderlos.



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Warum wird der Bundespräsident von der Bundesversammlung gewählt? Aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Ein Gastbeitrag von Gilbert

Morgen tagt die vierzehnte Bundesversammlung; ein kurioses Verfassungsorgan, das nur alle fünf Jahre für ein paar Stunden existiert. Die Mitglieder des Bundestages treffen sich mit gleich vielen von den Landtagen gewählten Vertretern, wählen den Bundespräsidenten und gehen dann wieder auseinander. Eine Debatte gibt es nicht.

Die Bundesversammlung ist damit, etwas böse ausgedrückt, das einzige deutsche parlamentarische Gremium, in dem nicht parliert wird.

Wie kommt es zur Existenz solch eines merkwürdigen Gremiums? Die Bestimmungen über den Bundespräsidenten und seine Wahl wurden, wie das ganze Grundgesetz, vom Parlamentarischen Rat geschaffen, einem selbst nicht minder merkwürdigen Gremium. Mit 65 Mitgliedern (und 5 nicht stimmberechtigten Vertretern Berlins) war er viel kleiner als andere Parlamente. Die Mandate waren nach Bevölkerung auf die Länder verteilt, die Abgeordneten von den Landtagen per Verhältniswahl bestimmt worden.

Demokratisch legitimiert war der Parlamentarische Rat also, aber auch wieder nicht zu sehr demokratisch legitimiert. Man wollte nämlich auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, hier gäbe sich ein neuer Staat seine Verfassung. Vielmehr sollte das Grundgesetz ausdrücklich eine Übergangslösung sein. Nach der Wiedervereinigung und dem Ende der Besatzung würde es dann eine "richtige" verfassungsgebende Versammlung geben.

Noch ein Aspekt unterscheidet den Parlamentarischen Rat von anderen deutschen Parlamenten:

In parlamentarischen Systemen wie unserem deutschen wird die Regierung in der Regel von einer Mehrheit des Parlaments unterstützt. Die Gesetze, die am Ende verabschiedet werden, schlägt die Regierung vor. Dafür "findet" sie dann eine Mehrheit im Parlament, und zwar immer dieselbe. Damit ist die Rollenverteilung klar: Die Regierungsfraktionen sind für den Regierungsvorschlag und die Oppositionsfraktionen dagegen. Wechselnde Mehrheiten sind sehr selten, denn dazu würde man mindestens eine Regierungsfraktion brauchen; und wenn Regierungsfraktionen gegen die Regierung stimmen, riskieren sie deren Ende.

Zum parlamentarischen Rat gab es aber keine Regierung. Regiert wurde natürlich schon; die Länder waren ja schon organisiert und regelten einiges, was später wieder Bundesangelegenheiten sein würden. Einiges regelte auch der Wirtschaftsrat der Trizone und die Besatzungsmächte waren ja auch noch da. Aber eine Regierung, die eine ständige Mehrheit im Parlament brauchte, gab es eben erst wieder, nachdem das Grundgesetz in Kraft getreten war.

Zwar hatten die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates einen Vorentwurf des Grundgesetzes; die Ministerpräsidenten hatten ihn von einer Konferenz auf Fachebene erarbeiten lassen, dem Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee. Aber das war eine überparteiliche Veranstaltung gewesen, mehr mit Beamten als Politikern besetzt und schon vorbei.

So ergab es sich, dass es im Parlamentarischen Rat wechselnde Mehrheiten geben konnte. Die Parteien hatten zwar relativ einheitliche Positionen; aber welche Parteien zusammen die Mehrheit bildeten, konnte durchaus schwanken. Außerdem konnte man auch noch Kompromisse schließen, ohne dass damit eine Seite ihr Gesicht verloren hätte, denn die Frage, wer denn nun die Mehrheit hat, schwebte nicht ständig mit im Raum.

Das prägte den Charakter der Aussprache: Es war nicht eine reine Debatte, die im Wesentlichen für das Publikum stattfindet, sondern auch eine inhaltliche Diskussion, in der man gemeinsam die Details festklopfte. Einigen kam das damals sozusagen "unpolitisch" und langweilig vor. In der Tat hat eine normale Parlamentsdabatte oft einen wesentlich höheren Unterhaltungswert. Andererseits geschah im Parlamentarischen Rat aber genau das, was im Bundestag nur simuliert wird: Es wurde ergebnisoffen über den Wortlaut des auszuarbeitenden Gesetzes diskutiert.



Was nun den Präsidenten anging, so war man sich einig, dass der übermächtige Reichspräsident ein Konstruktionsfehler der Weimarer Verfassung gewesen war. Eine Minderheit der Chiemsee-Delegierten hatte sogar vorgeschlagen, ganz auf einen Präsidenten zu verzichten, was der Parlamentarische Rat dann aber recht früh ablehnte.

Vom Volk sollte der neue Präsident jedenfalls nicht gewählt werden. Volkswahl und Kompetenzen wurden anscheinend als eine einheitliche Frage gesehen; jedenfalls redeten die Delegierten auf Herrenchiemsee ebenso wie die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates von einem plebiszitären Präsidenten, wenn sie einen so mächtigen Präsidenten wie in Weimar meinten. Und den wollte man eben nicht.

Der neue Bundespräsident sollte dagegen "eine Gewalt" sein, die, so Carlo Schmid während des Chiemsee-Konvents, "mehr durch ihr Dasein als durch ihr Tun wirkt". Einem handlungsfähigen Parlament sollte er niemals zur Konkurrenz werden können. Rein repräsentativ sollte er dann aber auch nicht sein. Wenn der Bundestag nämlich einmal nicht handlungsfähig wäre, dann würden ihm bedeutende Reserverechte zukommen.

Dazu musste er natürlich möglichst unabhängig vom Bundestag sein - gar nicht so leicht, wenn man keine Volkswahl will. Neben der fünfjährigen Amtszeit hatte der Chiemsee-Konvent darum eine doppelte Wahl durch Bundesrat und Bundestag vorgeschlagen. Nur wenn das zweimal gescheitert wäre, hätte es eine "besondere Wahlversammlung" gegeben. Diese hätte in der Zusammensetzung allerdings nicht der heutigen Bundesversammlung entsprochen, sondern umgekehrt aus allen Mitgliedern des Bundesrates und gleich vielen Vertretern des Bundestages bestanden.

Ein so zusammengesetztes Gremium hätte übrigens auch in der Gesetzgebung zwischen den beiden Kammern vermitteln sollen; der Parlamentarische Rat hat daraus den heutigen Vermittlungsausschuss entwickelt.

Im Parlamentarischen Rat schlug die FDP dann eine Wahl durch einen "Nationalkonvent" vor. Dieser war der Bundesversammlung schon recht ähnlich. Allerdings sollte im Grundgesetz ein festes Vertretungsverhältnis stehen; auf 150.000 Einwohner eines Landes wäre jeweils ein Vertreter entfallen. Damit wären es nicht unbedingt gleich viele Ländervertreter wie Bundestagsabgeordnete gewesen. Das hat man dann eher beiläufig geändert. Ebenso beiläufig strich man den für einen Gleichstand der Stimmen vorgesehenen Losentscheid, da man ihn für unwürdig hielt.

Thomas Dehler begründete den Vorschlag seiner Partei im Hauptausschuss so:
Ein Bundespräsident soll ein breiteres Fundament haben. Wenn schon kein plebiszitärer Bundespräsident erwünscht ist, so soll er doch - darin sind wir uns wohl alle einig - von dem Vertrauen einer größeren Zahl von Vertretern des Volkes getragen werden. Daher schlagen wir vor, daß ein Nationalkonvent, eine Bundesversammlung zusammentritt (...).
Es ging also darum, dem Präsidenten eine möglichst breite und volkstümliche Basis zu verschaffen. Was freilich nicht unbedingt der Verfassungswirklichkeit entspricht (siehe Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010); aber das war die Idee.



Das Amt des Bundespräsidenten selbst war in seinen Grundzügen nicht besonders strittig. Jedenfalls zum entscheidenden Zeitpunkt nicht; sehr spät in den Verhandlungen hat die FDP ihre Meinung geändert und ein Präsidialsystem vorgeschlagen. Da waren die Institutionen aber schon weitgehend festgeklopft und der Antrag wurde ziemlich klanglos abgelehnt.

Eine zentrale Streitfrage war allerdings der Umfang des Föderalismus und insbesondere der institutionellen Mitwirkung der Länder im Bund. In der Tendenz wollten die konservativen Parteien eine möglichst starke und gleiche Mitwirkung der Landesregierungen (für mehr Eigenstaatlichkeit der Länder) und die SPD eine möglichst schwache und nach Bevölkerung gestaffelte Mitwirkung von Vertretern der Landtage (für mehr Demokratie). Unser Bundesrat ist ein Kompromiss: eine (aus damaliger Sicht) relativ schwache und nach Bevölkerung gestaffelte Mitwirkung der Landesregierungen.

Die konservativen Parteien (das waren damals neben CDU/CSU auch Zentrum und DP) waren auch beim Bundespräsidenten in Sorge, dass die Länder als solche in einem Nationalkonvent, wie ihn die FDP vorgeschlagen hatte, kaum mehr auftreten würden. Die CDU setzte sich darum, wenn es denn schon keine getrennte Wahl des Präsidenten in Bundesrat und Bundestag geben würde, dafür ein, dass auch die Mitglieder des Bundesrates der Bundesversammlung angehören sollten.

Die DP schlug vor, dass die Wahl durch die Bundesversammlung der Bestätigung des Bundesrates bedürfen sollte. Später konkretisierte sie diesen Vorschlag dahingehend, dass bei Ablehnung durch den Bundesrat eine neue Bundesversammlung einberufen werden sollte. Hätte diese den Abgelehnten nochmals gewählt, hätte der Bundesrat dagegen kein Veto mehr gehabt.

Hiergegen gab es nun Einwände von Theodor Heuss, der später bekanntlich selbst zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde. (Ob er das da schon geahnt hat, weiß ich nicht, aber das Thema hat ihn jedenfalls sehr interessiert. Seine Redebeiträge im Hauptausschuss füllen zu diesem Thema Seiten; sonst war er dort eher still.)

Die Bundesratsmitglieder, argumentierte Heuss, würden in der Bundesversammlung als kleine, nichtgewählte Minderheit dastehen, und eine Ablehnung durch eine getrennte Abstimmung im Bundesrat würde andererseits die Würde der Bundesversammlung verletzen, die ja gerade eine ganz breite Volksvertretung sein sollte.

Bis auf Heuss scheint sich die FDP allerdings für diese Detailfrage nicht besonders interessiert zu haben. In verschiedenen Kompromissen hat sie ihr Abstimmungs-verhalten zur Mitgliedschaft der Vertreter des Bundesrats fast von Lesung zu Lesung geändert.



Zusammengefasst war die Situation also so:

Die FDP wollte eine möglichst breite Wahlbasis für den Bundespräsidenten und deswegen eine Bundesversammlung. Die konservativen Parteien stimmten zwar zu, dass man solch eine breite Basis brauchte, sahen darin aber zu wenig Mitwirkung der Länder als Institutionen. Für die SPD war dieses geringe Gewicht der Länder eher ein zusätzlicher Vorteil.

Über die Einrichtung einer Bundesversammlung war man sich also weitgehend einig; strittig war, ob der Bundesrat in der Bundesversammlung sitzen oder eventuell ein Vetorecht bekommen sollte. Am Ende hat man mehr oder weniger beiläufig auf beides verzichtet. Der Bundespräsident war eben eine der weniger wichtigen Fragen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Der Autor ist den Lesern von "Zettels kleinem Zimmer" als "gelegentlicher Besucher" bekannt. Titelvignette: Thomas Dehler. Deutsches Bundesarchiv, B 145 Bild-F018867-0013; unter Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 freigegeben; bearbeitet.

28. Juni 2010

Marginalie: Das amerikanische Oberste Gericht stärkt die Rechte der Besitzer von Feuerwaffen

Viele Europäer verstehen das nicht oder mögen es gar überhaupt nicht glauben: Das Recht, Feuerwaffen zu tragen, ist in der amerikanischen Verfassung verankert, und zwar durch den Zweiten Verfassungszusatz von 1791; einem Teil des Bill of Rights, der Garantie der Grundrechte.

Gewiß hatte das Tragen von Feuerwaffen damals eine andere Bedeutung als heute; zumal der Verfassungszusatz die Verbindung zur Miliz herstellt ("A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed" - Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staats notwendig ist, darf das Recht des Volks, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht angetastet werden).

Aber so ist das nun einmal in den USA: Die Verfassung ist sakrosankt. Niemand käme auf den Gedanken, die Verfassung einfach durch eine neue zu ersetzen, wie das die Franzosen zum Beispiel 1958 getan haben, oder sie ständig zu ändern, wie wir das mit unserem Grundgesetz machen.

Vor zwei Stunden fand ich in meinem Posteingang eine Eilmeldung der New York Times, die auf diesen Artikel hinwies: Das Oberste Bundesgericht hat entschieden, daß der Zweite Verfassungszusatz nicht nur die Bundesregierung in Washington bindet, sondern ebenso die gesetzgebenden Körperschaften auf den anderen Ebenen, bis hinunter zu den Kommunen.

Es ging um eine Klage gegen die Stadt Chicago, die den privaten Besitz und das Tragen von Waffen im Innenstadtbereich und in dem Vorort Oak Park grundsätzlich untersagt; und zwar durch eine Verordnung, die schon seit knapp dreißig Jahren besteht. Sie muß jetzt geändert werden. Allerdings ist der Spruch der Richter des Obersten Gerichts noch nicht unmittelbar wirksam; der Fall geht jetzt an ein lokales Bundesgericht, das auf der Grundlage der Entscheidung des Supreme Court urteilen wird.



Das Recht eines US-Bürgers auf das Tragen von Waffen stößt bei vielen Europäern nicht nur auf Unverständnis, sondern in den einschlägigen Diskussionen ist oft Empörung zu verspüren. Man erregt sich gegen diese Freiheit der Amerikaner, so als sei sie etwas Verwerfliches, Unzivilisiertes.

Ich kann das nicht nachvollziehen. Auch in Europa kann sich jeder Kriminelle, wenn er das will, auf dem Schwarzen Markt eine Feuerwaffe besorgen. Der gesetzestreue Bürger aber kann das legal nur in sehr eingeschränkten Fällen. Nicht die Kriminellen werden durch unser striktes Waffenrecht benachteiligt, sondern die Nichtkriminellen.

Ob das Recht gesetzestreuer Bürger, in der Öffentlichkeit Waffen zu tragen, die Kriminalität begünstigt oder ihr entgegenwirkt, ist eine empirische Frage, keine grundsätzliche. Ob der Staat das Recht hat, dem friedlichen, gesetzestreuen Bürger den Selbstschutz mittels einer Feuerwaffe zu verbieten, ist freilich eine grundsätzliche Frage.

Ich sehe keine Erwägungen, die von vornherein gegen die amerikanische Verfassung und zugunsten derer sprechen würden, die sich gegen sie ereifern.



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Marginalie: Die Unbeliebtheit der Parteien und die Freiheit der Wahlleute in der Bundesversammlung. Wulffs geschickte Rhetorik

Der Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten Christian Wulff hat der "Rheinischen Post" ein Interview gegeben.

An einer Stelle sagte der Interviewer Michael Bröcker: "Die Parteien scheinen im Volk derzeit sehr unbeliebt zu sein". Darauf Wulff:
Parteien und Politiker sind besser als ihr Ruf und für ein erhebliches Maß an dem Erfolg unseres Landes verantwortlich. Die Antiparteienstimmung mancher Anhänger Joachim Gaucks ist gefährlich, denn wir brauchen Hunderttausende, die sich ehrenamtlich und freiwillig vor allem auf kommunaler Ebene für ihre Gemeinde engagieren und sich dafür Zeit nehmen.
Eine geschickte Antwort, wenn man es freundlich ausdrücken möchte. Ein rhetorischer Trick, weniger freundlich formuliert.

Denn natürlich will niemand die Arbeit der Parteien auf der kommunalen Ebene anrühren. Es ist abwegig, die Vorbehalte gegen die Parteien, die es in der Tat offenbar verstärkt gibt, mit der Arbeit des Gemeinderats von Winsen an der Luhe oder des Frankfurter Stadtrats in Zusammenhang zu bringen. Wulff lenkt vom Thema ab; er weicht der Frage aus.

Die aktuelle Kritik - die Wut zum Teil -, die derzeit den Parteien entgegenschlägt, zielt selbstredend auf eine andere als die kommunale Ebene; nämlich auf die Art, wie im Bund die Entscheidungen, die das Grundgesetz bestimmten Gremien zuweist, von den Parteien okkupiert werden. Die Art also, wie zum Beispiel der Kandidat Christian Wulff via einsamem Entschluß der Kanzlerin und Vorsitzenden der CDU in die Bütt gestellt wurde; siehe Die Väter des Grundgesetzes und die selbstherrliche Entscheidung der Kanzlerin; ZR vom 6. 6. 2010).



Es ist in diesen Tagen, wo die Entscheidung zwischen Wulff und Gauck näher rückt, eine seltsame Diskussion zum Thema "Freigabe der Abstimmung" entstanden. Der Professor Biedenkopf hatte das mit einem Artikel in der FAZ angeregt; siehe Dagmar Schipanski und Kurt Biedenkopf zur Wahl des Bundespräsidenten; ZR vom 19. 6. 2010. Inzwischen haben sich die beiden Alt-Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Roman Herzog Biedenkopf angeschlossen.

Dieser Forderung wird nun entgegengehalten, die Abstimmung sei doch geheim, ergo ohnehin frei. "Die Wahl in der Bundesversammlung ist eine geheime Wahl. Und freier als eine geheime Wahl geht es nicht", sagte zum Beispiel Alexander Dobrindt, Generalsekretär der CSU.

Ja hält er denn die Professoren Biedenkopf und Herzog, beide übrigens Juristen, für Deppen, der Alexander Dobrindt? Glaubt er denn, dem Altbundespräsidenten von Weizsäcker sei nicht bekannt, daß die Wahl in der Bundesversammlung geheim stattfindet?

Es geht doch nicht um Formales. Es geht darum, ob von den Führungen der Parteien der Eindruck erweckt wird, es würden keine sich frei zwischen den Kandidaten entscheidenden Wahlleute in die Bundesversammlung geschickt, sondern Parteisoldaten mit einem Auftrag.

Dieser Eindruck entsteht, wenn zum Beispiel die CSU keine nicht parteigebundenen Persönlichkeiten in die Bundesversammlung entsendet; entgegen der bisherigen Gepflogenheit. Dieser Eindruck wird massiv herbeigeführt, wenn die thüringische CDU Dagmar Schipanski von der Liste der Wahlleute streicht, weil Zweifel daran aufgetaucht waren, ob sie auch Wulff wählen würde.

Dieser Eindruck ist es, der den Interviewer Bröcker zu der Aussage veranlaßte, die Parteien schienen derzeit im Volk unbeliebt zu sein.

Diesem Eindruck könnten die Führungen der Parteien entgegenwirken, wenn sie gemeinsam vor der Wahl am kommenden Mittwoch eine Erklärung abgeben würden, die beispielsweise so lauten könnte:
Wir - die im Bundestag vertretenen demokatischen Parteien - haben zwei Kandidaten nominiert. Es ist jetzt an jedem einzelnen der 1244 Mitglieder der Bundesversammlung, frei und unbeeinflußt, allein nach eigenem besten Wissen und Gewissen, zwischen diesen beiden Kandidaten zu entscheiden. Die Nominierung der beiden Kandidaten ist nicht mit der Erwartung verbunden, daß sich die Wahlmänner und Wahlfrauen an diese Entscheidungen ihrer jeweiligen Parteiführung gebunden fühlen.
Natürlich wird es eine solche Erklärung nicht geben. Natürlich wird man sich einerseits auf die Formalie zurückziehen, die Wahl sei doch geheim, also frei; und andererseits werden beide Seiten wie bisher alles dafür tun, damit ihre Wahlleute genau das sein werden: "Ihre" Wahlleute. Verantwortlich nicht ihrem eigenen gewissenhaften Urteil, sondern der Parteiräson.

Und da wundert man sich darüber, daß die Parteien "derzeit im Volk sehr unbeliebt" sind?



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Zitat des Tages: "Wenigstens nicht gegen Argentinien". Britischer Fußball, britischer Humor, britische Fairness. Über das Zivilisieren von Affekten

Falling out of the tournament will be a blow not just to fans but to the economy. But the consolation for England's followers was that at least they didn't lose to Argentina in the next round.

(Das Ausscheiden aus dem Turnier ist nicht nur für die Fans ein Schlag, sondern auch für die Wirtschaft. Aber die Anhänger Englands konnten sich damit trösten, daß sie wenigstens nicht in der nächsten Runde gegen Argentinien verloren haben.)

Die britische Daily Mail über das gestrige Spiel Deutschland gegen England.


Kommentar: Britischer Humor. Gegen Argentinien zu verlieren, gegen das man den Falkland-Krieg gewonnen hatte, das wäre wirklich eine nationale Schande gewesen. Dann doch besser gegen die Krauts.

In der britischen Presse wird die krasse Fehlentscheidung des Schiedsrichters Jorge Larrionda herzhaft kritisiert; wie auch anders. Aber man hat ganz überwiegend soviel Gefühl für Fair Play, dieses Versagen von Larrionda samt seinem Gespann nicht als Entschuldigung für das eigene Ausscheiden zu bemühen.

In den Kommentaren zu dem Artikel in der Daily Mail schreibt zum Beispiel der Leser "Eric the Red":
The Lampard decision was a disgrace but let's not delude ourselves - we were awful from day 1. There wasn't a good performance from any one player in any of the games.

Die Entscheidung bei Lampard war eine Schande. Aber machen wir uns nichts vor - wir waren von Anbeginn an erbärmlich. Kein Spieler hat in irgendeinem der Spiele eine gute Leistung gebracht.
Der Guardian schreibt:
Not that England could claim to have deserved any other result. Germany came to South Africa with their youngest squad since the 1930s and their play was full of freshness, verve and mutual understanding – all the things their opponents, despite their greater experience, have been lacking for years.

Nicht daß England den Anspruch erheben könnte, irgend ein anderes Ergebnis verdient zu haben. Deutschland kam mit der jüngsten Mannschaft seit den dreißiger Jahren nach Südafrika, und ihr Spiel war voller Frische, Dynamik und gegenseitigem Verständnis - alles Dinge, die ihre Gegner trotz ihrer größeren Erfahrung seit Jahren vermissen lassen.
Und im Daily Telegraph ist zu lesen:
Don't be be fooled by Fabio Capello's smokescreen over Frank Lampard's "goal". Even if the midfielder's exceptional shot had stood, as it should, England cannot escape the brutal reality that Germany were superior in every department.

Lassen Sie sich nicht von den Nebelkerzen von Fabio Capello zu Frank Lampards "Tor" zum Narren halten. Selbst wenn das außerordentliche Tor des Mittelfeld-Spielers anerkannt worden wäre, wie das hätte geschehen müssen, kann England nicht der brutalen Realität entgehen, daß Deutschland in jedem Belang überlegen war.



Sport hat, gewiß doch, etwas mit Gruppenegoismus zu tun, mit Chauvinismus und Nationalismus. Aber diese phylogenetisch sehr alten Affekte werden durch die kühlen Regeln des Sports, durch seine erbarmungslose Gerechtigkeit, durch die Unterwerfung aller unter dieselben Regeln gebändigt; sie werden zivilisiert.

Von ein paar unreifen Schreihälsen abgesehen, wird man bei den Fans eines Fußballvereins fast immer eine objektive, schonungslose Beurteilung ihrer Mannschaft finden. Man trauert, wenn sie verliert, aber man hat kein Ressentiment. So ist das jetzt auch im Mutterland des Sports.

Früher als die meisten anderen Nationen haben die Briten erkannt, welche zivilisatorische Kraft dem Sport innewohnt (siehe Fahrer, Prügler, Krieger. Über den Prozeß der Zivilisation; ZR vom 2. 7. 2007). Sie haben dadurch manche Sportart erfunden oder waren in ihr - als "Mutterland des Fußballs" zum Beispiel - einmal führend.

Das ist vorbei. Aber die britische Fairness ist geblieben.



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27. Juni 2010

Kurioses, kurz kommentiert: Aus der Arbeit des Europäischen Parlaments

Dem Europäischen Parlament liegt derzeit die folgende "Schriftliche Erklärung" vor (Nr 0057/2010), die bisher von 17 Parlamentariern unterzeichnet wurde:

Schriftliche Erklärung zur Aufhebung der Geheimhaltung von Dokumenten über Ufos


Das Europäische Parlament,

– gestützt auf Artikel 123 seiner Geschäftsordnung,

A. gestützt auf die Artikel 4, 179, 180 und 189 des Vertrags von Lissabon,

B. in der Erwägung, dass in der 33. Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1978 das Ufo-Problem formell anerkannt wurde,

C. unter Hinweis darauf, dass dem Europäischen Parlament im Jahr 1993 eine von dem italienischen Physiker Tullio Regge unterzeichnete Entschließung vorgelegt wurde, in der es darum ging, die Untersuchungsbefugnisse der einzigen bestehenden staatlichen Stelle in Europa (der damaligen S.E.P.R.A. und der heutigen G.E.I.P.A.N.) im Bereich der Ufos auf die europäische Ebene auszudehnen,

D. in der Erwägung, dass viele Vertreter der wissenschaftlichen Welt Interesse an dem Phänomen der Ufos gezeigt und die systematische Geheimhaltung der Informationen kritisiert haben,

1. ist der Auffassung, dass eine Untersuchung des von den Regierungen aller Mitgliedstaaten gesammelten Materials wichtige wissenschaftliche und technologische Auswirkungen nach sich ziehen würde;

2. hält die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beobachtungszentrums für die Analyse und die Verbreitung der bisher von den verschiedenen europäischen Stellen und Regierungen gesammelten Daten für wichtig;

3. fordert die Öffnung der staatlichen Archive über Ufos und die Aufhebung der Geheimhaltung seitens der Mitgliedstaaten, um den Bürgern und den Massenmedien die öffentliche Nutzung aller Dokumente zu ermöglichen;

4. beauftragt seinen Präsidenten, diese Erklärung mit den Namen der Unterzeichner den Regierungen der Mitgliedstaaten, der Kommission und dem Rat zu übermitteln.

Kommentar: Wenn Sie nichts Besseres zu tun haben, können Sie diesen Text hier in 22 Sprachen abrufen, übersetzt auf Kosten des europäischen Steuerzahlers.



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Zitat des Tages: "Der Zaun von Toronto ist ein Symbol". Ja, aber wofür?

The fence is a symbol that they can build a fence and spend a billion dollars on their agenda. The fence is a symbol of what's wrong with this country.

(Der Zaun ist ein Symbol, daß sie einen Zaun bauen und eine Milliarde Dollar für ihre Agenda ausgeben können. Der Zaun ist ein Symbol für das, was in diesem Land schiefläuft.)

Rolf Gerstenberger, einer der "Protestler" in Toronto, gegenüber CNN über den Zaun, der den G-20-Gipfel vor Gewalttätern schützt.


Kommentar: Über diesen Zaun und seine Kosten habe ich bereits am Donnerstag berichtet. Jetzt zeigt sich, wie bitter nötig er ist.

Er ist eine Verteidigungsanlage in einem Krieg.

Ja, in einem Krieg. Denn diejenigen, die in Toronto Gewalttaten verüben - von "willkürlicher Kriminalität und wahlloser Gewalt auf unseren Straßen" spricht der Polizeichef von Toronto, William Blair - sind ja keine Demonstranten, die in der aufgeladenen Atmosphäre einer Demonstration einmal die Beherrschung verlieren und einen Stein werfen.

Es sind straff organisierte Banden von Politkriminellen, die äußerst diszipliniert zu Werke gehen, durchaus vergleichbar militärischem Handeln. Der Toronto Star hat gestern detailliert ihre Taktik bei diesem Gipfel beschrieben:
  • Viele treten zunächst als "friedliche Demonstranten" auf; noch nicht uniformiert. Sie mischen sich in die Menge der Demonstranten und warten auf Gelegenheiten zum Zuschlagen.

  • Wenn es so weit ist, legen sie ihre Vermummung an, die so beschaffen ist, daß einzelne Täter sich nicht identifizieren lassen. Alle sind schwarz gekleidet; alle haben das Gesicht verdeckt.

  • Die Täter sind in Gruppen von ungefähr zehn Mitgliedern organisiert, die sich wie ein militärischer Trupp bewegen und straff geführt werden. Es gibt Kodewörter, über die Befehle übermittelt werden. Am Freitag zum Beispiel war "Umbrella" das Kodewort dafür, nach vorn zu stürmen.

  • Die Taktik beim Begehen der Taten ist darauf ausgerichtet, die Täter nicht identifizierbar zu machen. Das wird auf eine doppelte Weise erreicht: Erstens verteilt sich der ganze Trupp zunächst unter friedlichen Demonstranten, formt sich dann blitzschnell und löst sich aus der Menge. Aus dem Trupp lösen sich wiederum einzelne Täter, werfen Steine, zünden ein Auto an usw. und kehren dann sofort in den Trupp zurück, wo sie nicht mehr von den anderen zu unterscheiden sind. Der ganze Trupp kann sich dann, je nach taktischer Lage, wieder in der Menge auflösen.

  • Die Camouflage geht so weit, daß - der Toronto Star beschreibt das im Detail - gestern an einer bestimmten Stelle schon "Zivilkleidung" bereitlag, welche die Täter gegen ihre schwarzen Uniformen tauschten. Als die Polizei die betreffende Stelle erreicht hatte, lagen da nur noch schwarze Jacken und Vermummungsmaterial; die Täter liefen "friedlich" irgendwo mit den Demonstranten mit.

  • Wie beim Militär wird mit Ablenkungsmanövern gearbeitet. Zum Beispiel wurde gestern an einer Stelle ein Feuer entfacht, um die Polizei an diesen Ort zu lenken. Inzwischen versuchten andere Täter, an einer anderen Stelle den Schutzschirm der Polizei zu durchbrechen. Einer der Täter, ein Anarchist, der sich Roy nannte, hat das gegenüber einem Reporter des Toronto Star mit erkennbarem Stolz erläutert.
  • Daß man in Toronto den Zaun gebaut hat und daß dort 5000 Polizisten zusammengezogen wurden, war also unbedingt nötig, um den Gipfel zu schützen. Jeder, der nicht mit Blindheit geschlagen ist, kann erkennen, daß nicht der Zaun das Übel ist, sondern die Kriminellen, deretwegen er errichtet werden mußte.

    Aber der zitierte Rolf Gerstenberger sieht das umgekehrt. Ich zitiere ihn, weil seine Aussage für eine in der Linken weit verbreitete Heuchelei steht: Nicht die Täter sind schuld, sondern die Opfer. Nicht militärisch organisierte Gewalttäter sind die Verursacher von Ausschreitungen, sondern die Polizei mit ihren Maßnahmen.

    Ja, es läuft etwas schief in Staaten, in denen sich das zutragen kann, was jetzt in Toronto zu beobachten ist. Aber nicht ein Schutzzaun ist das Symbol für das, was da schief läuft, sondern es sind sogenannte friedliche Demonstranten, die nichts dabei finden, gemeinsam mit Kriminellen zu demonstrieren und ihnen Schutz zu bieten.

    Was schief läuft, das ist die Entwicklung einer Linken, die sich immer weniger von Kriminalität als Mittel der Politik distanziert. In der in Deutschland - siehe Was macht eigentlich Andrea Ypsilanti?; ZR vom 20. 6. 2010 - die Sozialdemokratin Andrea Ypsilanti ein Institut zusammen mit der Kommunistin Katja Kipping gründet, die ihrerseits als Mitglied der "Roten Hilfe" inhaftierte Politkriminelle unterstützt.



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    26. Juni 2010

    Zitat des Tages: Joachim Gauck über die Partei "Die Linke". Die "Süddeutsche Zeitung" über Joachim Gauck

    Ich kann noch immer keine Bindung der Linkspartei an das europäische Demokratieprojekt erkennen.

    Joachim Gauck gegenüber dem "Hamburger Abendblatt", zitiert in sueddeutsche.de.


    Kommentar: Mit einem prägnanten Satz trifft Gauck wieder einmal den Kern eines Sachverhalts:

    Nicht an die pluralistische Gesellschaft, an den demokratischen Rechtsstaat, an die Idee der bürgerlichen Freiheiten ist die Partei gebunden, die sich gegenwärtig "Die Linke" nennt.

    Sie ist ebenso wie zu der Zeit, als sie noch SED hieß, eine marxistische Partei, die den Sozialismus will, also die Abkehr von den Werten des demokratischen Rechtsstaats und der offenen Gesellschaft. Sie ist gebunden an eine Veränderung der Gesellschaft von, wie es im Entwurf ihres Parteiprogramms heißt, "revolutionärer Tiefe" (siehe DDR Reloaded; ZR vom 19. 3. 2010 sowie Die Partei "Die Linke" bedroht das Grundgesetz; ZR vom 29. 3. 2009).

    Auch dies zitiert die "Süddeutsche Zeitung" von Gauck:
  • "Ich wüsste nicht, auf welcher Basis etablierte Parteien auf Bundesebene mit der Linkspartei zusammenarbeiten sollten" (ebenfalls gegenüber dem "Hamburger Abendblatt").

  • "Wenn der Verfassungsschutz bestimmte Personen oder Gruppen innerhalb dieser Partei observiert, wird es dafür Gründe geben" (gegenüber der Rheinischen Post").

  • "Ich erwarte von da kaum Stimmen" (gegenüber "Focus")
  • Und nun raten Sie einmal, wie die "Süddeutsche Zeitung" diese Äußerung Gaucks in ihrer Überschrift zusammenfaßt.

    Richtig: "Gauck giftet gegen Linkspartei".

    Wer die Kommunisten kritisiert, der "giftet" nach Auffassung einer Zeitung, die noch immer gern als "linksliberal" bezeichnet wird.

    Man stelle sich vor, jemand hätte, sagen wir, die NPD kritisiert, und in einer Zeitung wäre das unter der Schlagzeile "XYZ giftet gegen die NPD" mitgeteilt worden.

    Manchmal ist eine Schlagzeile entlarvender als ein Dutzend Kommentare.



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    Marginalie: Vor der 24. Woche hat der Fötus kein Schmerzempfinden. Implikationen für das Problem der Abtreibung

    Durch einen Artikel im gestrigen Guardian bin ich auf den Bericht einer wissenschaftlichen Kommission in Großbritannien (einer Arbeitsgruppe des Royal College of Obstetricians and Gynaecologists) aufmerksam geworden, in dem der Stand der Forschung zu der Frage des Schmerzempfindens und des Bewußtseins von Föten aufgearbeitet wird (Fetal Awareness - Review of Research and Recommendations for Practice).

    Die wesentlichen Feststellungen, zu denen die Kommission nach Durchsicht der aktuellen Forschungsergebnisse gelangt, sind hier zusammengefaßt:
  • Unterhalb von 24 Wochen kann der Fötus keinen Schmerz empfinden, weil im Gehirn die dafür erforderlichen Bahnen zum Cortex noch nicht ausgebildet sind.

  • Solange sich der Fötus in der chemischen Umgebung der Gebärmutter befindet, ist er in einem schlafähnlichen Zustand und nicht bei Bewußtsein.

  • Da der Fötus vor 24 Wochen weder Schmerzen empfinden kann noch Bewußtsein besitzt, ist bis zu diesem Zeitpunkt der Einsatz von Schmerzmitteln bei etwaigen Eingriffen nicht sinnvoll.

  • Hinsichtlich des Einsatzes von Schmerzmitteln jenseits von 24 Wochen und deren langfristigen Auswirkungen sind weitere Forschungen erforderlich.
  • Es wird also unterschieden zwischen den notwendigen und den hinreichenden Bedingungen für das bewußte Empfinden von Schmerz.

    Notwendig ist, daß die Schmerzbahn ausgebildet ist, die von den Schmerzrezeptoren im Körper zur Großhirnrinde führt. Solange sie nicht funktionsfähig ist, kann es aus rein anatomischen Gründen kein Schmerzempfinden geben.

    Aber die Schmerzbahn existiert natürlich zum Beispiel auch bei einem Patienten, der in Narkose versetzt wurde. Er befindet sich aber in einem Zustand, der keine bewußte Wahrnehmung des Schmerzes ermöglicht. Die Schmerzbahn ist vorhanden, aber die Schmerzerregungen, die sie transportiert, werden nicht so weit verarbeitet, daß ein bewußtes Empfinden entsteht. Ähnlich ist es nach den Befunden, auf die sich die Kommission stützt, auch beim Fötus; und zwar auch jenseits der 24. Woche.

    Diese beiden Aussagen kommt eine unterschiedliche Sicherheit zu. Solange Schmerzreize nicht zur Großhirnrinde gelangen, ist ein bewußtes Schmerzempfinden nach heutigem Wissen ausgeschlossen. Über den Bewußteinszustand des Fötus lassen sich so sichere Aussagen jedoch nicht machen; es ist hier lediglich sehr unwahrscheinlich, daß er bewußt Schmerz empfinden kann, wenn er sich in einem chemisch bewirkten schlafähnlichen Zustand befindet.

    Bewußtsein zu diagnostizieren ist schon beim Erwachsenen außerordentlich schwer; siehe Bewußtsein bei Patienten im "Wachkoma" (vegetative state); ZR vom 4. 2. 2010. Beim Fötus ist es nicht einfacher.



    Diese Ergebnisse haben natürlich Implikationen für die Frage der Abtreibung. Die Fristenregelung, die in Deutschland de facto gilt (ein Schwangerschaftsabbruch bis zum dritten Monat ist zwar rechtswidrig, aber straffrei, wenn bestimmte Bedingungen eingehalten werden) ist also, was mögliche Schmerzen des Fötus bei der Abtreibung angeht, auf der sicheren Seite. Erst nach rund sechs Monaten ab der Empfängnis sind dafür überhaupt die anatomischen Voraussetzungen entwickelt.

    Selbstverständlich ist die Frage eines möglichen Leids, das dem Fötus zugefügt werden könnte, nur einer der Aspekte in der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch. Man kann die Abtreibung aus bevölkerungspolitischen Gründen ablehnen. Man kann es tun, weil man der Meinung ist, daß auch der Fötus bereits ein Mensch sei. Ein Abbruch kann des weiteren die Mutter psychisch schwer belasten, auch wenn sie die Abtreibung will oder sie ihr jedenfalls zustimmt. Es gibt viele Argumente, die, je nach Standpunkt, gegen eine Abtreibung sprechen können.

    Das alles ist zu bedenken. Was den Gesichtspunkt möglicherweise zugefügten Leids angeht, sollte man aber sehen, daß hier kein Problem liegt. Wenn ein Tier geschlachtet wird, dann wird ihm zweifelsfrei Leid zugefügt. Wenn ein Fötus innerhalb der Dreimonatsfrist abgetrieben wird, dann ist das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Fall.



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    25. Juni 2010

    Zitat des Tages: "Dem Sterben seinen Lauf lassen". Einzelheiten und Probleme des heutigen Urteils des BGH

    Die von den Betreuern ... geprüfte Einwilligung der Patientin rechtfertigte nicht nur den Behandlungsabbruch durch bloßes Unterlassen weiterer Ernährung, sondern auch ein aktives Tun, das der Beendigung oder Verhinderung einer von ihr nicht oder nicht mehr gewollten Behandlung diente. Eine nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten wird dem sachlichen Unterschied zwischen der auf eine Lebensbeendigung gerichteten Tötung und Verhaltensweisen nicht gerecht, die dem krankheitsbedingten Sterbenlassen mit Einwilligung des Betroffenen seinen Lauf lassen.

    Aus der heutigen Pressemitteilung 129/2010 des Bundesgerichtshofs (BGH) mit der Überschrift "Abbruch lebenserhaltender Behandlung auf der Grundlage des Patientenwillens ist nicht strafbar".


    Kommentar: Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor; man wird sie hier finden.

    Der Sachverhalt ist in seinen groben Grundzügen seit heute Vormittag im Internet nachzulesen; zum Beispiel bei FAZ.Net, bei "Spiegel-Online" oder bei "Zeit-Online". Allerdings wirklich nur in den Grundzügen:

    Eine Frau lag im Wachkoma. Im Jahr 2002 hatte sie gegenüber ihrer Tochter, Elke Gloor, geäußert, daß sie in einem solchen Fall keine lebensverlängernden Maßnahmen wünschte. Sie war aber dennoch fünf Jahre in einem Pflegeheim künstlich ernährt worden.

    Ende 2007 wandten sich Frau Gloor und ihr (inzwischen verstorbener) Bruder an den auf Medizinrecht spezialisierten Münchener Rechtsanwalt Wolfgang Putz. Dieser riet zur Beendigung der künstlichen Ernährung gemäß dem Wunsch der Mutter. Das weitere Geschehen wird in den zitierten Berichten sehr verkürzt dargestellt. Hier ist der Wortlaut der Pressemitteilung des BGH:
    Entsprechend einem von Frau K. im September 2002 mündlich für einen solchen Fall geäußerten Wunsch bemühten sich die Geschwister, die inzwischen zu Betreuern ihrer Mutter bestellt worden waren, um die Einstellung der künstlichen Ernährung, um ihrer Mutter ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Nach Auseinandersetzungen mit der Heimleitung kam es Ende 2007 zu einem Kompromiss, wonach das Heimpersonal sich nur noch um die Pflegetätigkeiten im engeren Sinne kümmern sollte, während die Kinder der Patientin selbst die Ernährung über die Sonde einstellen, die erforderliche Palliativversorgung durchführen und ihrer Mutter im Sterben beistehen sollten.

    Nachdem Frau G. am 20.12.2007 die Nahrungszufuhr über die Sonde beendet hatte, wies die Geschäftsleistung des Gesamtunternehmens am 21.12.2007 jedoch die Heimleitung an, die künstliche Ernährung umgehend wieder aufzunehmen. Den Kindern der Frau K. wurde ein Hausverbot für den Fall angedroht, dass sie sich hiermit nicht einverstanden erklären sollten. Darauf erteilte der Angeklagte P. Frau G. am gleichen Tag den Rat, den Schlauch der PEG-Sonde unmittelbar über der Bauchdecke zu durchtrennen.

    Frau G. schnitt Minuten später mit Unterstützung ihres Bruders den Schlauch durch. Nachdem das Heimpersonal dies bereits nach einigen weiteren Minuten entdeckt und die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte, wurde Frau K. auf Anordnung eines Staatsanwalts gegen den Willen ihrer Kinder in ein Krankenhaus gebracht, wo ihr eine neue PEG-Sonde gelegt und die künstliche Ernährung wieder aufgenommen wurde. Sie starb dort zwei Wochen darauf eines natürlichen Todes auf Grund ihrer Erkrankungen.
    Sowohl gegen Frau Gloor als auch gegen Rechtsanwalt Putz wurde vor dem Landgericht Fulda Anklage wegen versuchten Totschlags erhoben.

    Frau Gloor wurde freigesprochen, weil sie sich "angesichts des Rechtsrats des Angeklagten [RA Putz] in einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum befunden und deshalb ohne Schuld gehandelt" habe. Der Rechtsanwalt wurde wegen versuchten Totschlags zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten verurteilt.

    Entscheidend für die Verurteilung war allein das aktive Durchschneiden des Schlauchs gewesen. Die zuvor mit der Heimleitung getroffene Vereinbarung, daß die künstliche Ernährung eingestellt werden sollte und die Geschwister ihre Mutter beim Sterben begleiten würden, hatte das Landgericht ausdrücklich für rechtens erklärt.

    Daß die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens die Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung angeordnet hatte, wertete das Landgericht Fulda sogar als "rechtswidrigen Angriff gegen das Selbstbestimmungsrecht der Patientin".

    Aber dagegen hätten die Geschwister - so das Landgericht Fulda - eben nicht zur Selbsthilfe schreiten und den Schlauch durchschneiden dürfen. Weil Rechtsanwalt Putz ihnen dazu geraten hatte, wurde er verurteilt.

    Der BGH hob nun diesen Teil des Urteils auf, weil er auf der Unterscheidung zwischen Unterlassen - dem Einstellen der Ernährung - und aktivem Tun - dem Durchschneiden des Schlauchs - beruhte.



    Bezogen auf den jetzigen Fall ist diese Argumentation schlüssig.

    Man hatte mit der Klinikleitung vereinbart, die Mutter sterben zu lassen, indem man die Ernährung einstellte. Die Geschäftsleitung des Gesamtunternehmens hatte das - wie man nun weiß, rechtswidrig - verhindert und den Geschwistern sogar Hausverbot angedroht.

    Sie handelten also offensichtlich im Geist der ursprünglichen, rechtlich einwandfreien Vereinbarung, wenn sie sich gegen dieses Eingreifen der Geschäftsleitung wehrten, indem sie den Schlauch durchschnitten. Daß es rechtens sein soll, die Ernährung dadurch zu unterbrechen, daß in den Schlauch keine Nährflüssigkeit mehr eingefüllt wird, daß es hingegen Totschlag sein soll, den Schlauch zum selben Zweck zu entfernen, wäre eine nicht nachvollziehbare Haarspalterei.

    Die Tragweite des Urteils wird man wohl aber erst dann kennen, wenn die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt.

    Es leuchtet ein, daß der BGH sich gegen eine "nur an den Äußerlichkeiten von Tun oder Unterlassen orientierte Unterscheidung der straflosen Sterbehilfe vom strafbaren Töten des Patienten" wendet. Aber diese Unterscheidung war immerhin bisher ein Fixpunkt; eine Krücke, wenn man so will.

    Wenn jetzt aktives Tun dann nicht mehr strafbar ist, wenn es im Dienst der straflosen Sterbehilfe steht - wie grenzt man es dann von dem aktiven Tun ab, das einer strafbaren Tötung des Patienten dient?

    Ohne die schriftliche Urteilsbegründung zu kennen, könnte man befürchten, daß der BGH eine fragwürdige Grenzziehung aufgehoben hat, daß aber damit eine nicht minder schwierige Grenzziehung jetzt zu leisten sein wird. Etwas an Äußerlichkeiten festzumachen, ist oft problematisch; aber Äußerlichkeiten kann man wenigstens leicht erkennen.



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    24. Juni 2010

    Zettels Meckerecke: Der G-20-Gipfel in Toronto und der G-8-Gipfel in Muskoka werden ungefähr $833.000 Dollar kosten. Pro Minute

    Jede Minute der beiden Gipfeltreffen am kommenden Wochenende in Toronto und Muskoka wird den kanadischen Steuerzahler ungefähr umgerechnet 648.500 Euro kosten; rund eine Milliarde kanadische Dollar für das gesamte Unternehmen. So ist es beispielsweise im Toronto Star und in Daily Finance zu lesen. Es wird teurer werden als die gesamten Winterspiele in Vancouver.

    Ein großer Teil des Geldes wird für Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben; aber es wurde beispielsweise auch ein künstlicher See angelegt (Spitzname "Fake Lake"), komplett mit künstlichen Kanus und dem eben so unechten Ruf des Seetauchers.

    Hier können Sie eine Karte der "Festung Toronto" sehen. Ein mehr als sechs Kilometer langer und fast drei Meter hoher Metallzaun wird eine Zone der Innenstadt abriegeln, in der unter anderem das Bankenviertel liegt. Bushaltestellen werden abgebaut, Briefkästen und Müllcontainer zugeschweißt. Rund 5000 Polizisten werden im Einsatz sein; Düsenjäger über der Stadt patrouillieren.

    In Kanada regt sich Opposition gegen diesen gewaltigen Aufwand. Dimitri Soudas, ein Sprecher von Premierminister Stephen Harper, hat dazu erklärt:
    You actually need leaders sitting around the table having these difficult discussions, making progress. (...) So that is exactly why we need these type of summits, that is exactly why leaders sitting around the table face-to-face—and not through Twitter, Skype or video-conferencing—will eventually produce more results.

    Wir brauchen es wirklich, daß die Staatenlenker um den Tisch sitzen und diese schwierigen Diskussionen führen und Fortschritte machen. (...) Also genau deshalb brauchen wir diese Art von Gipfeln, und exakt deshalb wird es mehr Ergebnisse geben, wenn die Staatenlenker sich persönlich am Tisch gegenübersitzen, statt über Twitter, Skype oder in Videokonferenzen [zu kommunizieren].
    Ja, wer wollte das denn bezweifeln? Zumal die wichtigen Entscheidungen ja bekanntlich oft nicht in den formalen Sitzungen fallen, sondern abends am Kamin oder in der Hotelbar. Das gegenseitige Kennenlernen, das Aufbauen von Vertrauen, das Abschätzen der Zuverlässigkeit der anderen Agierenden ist unerläßlich für gemeinsames Handeln auf globaler Ebene.

    Nur - warum muß es denn eine Stadt wie Toronto sein, mit ihren immensen Sicherheitsproblemen? Warum kann man diese Gipfel nicht dort stattfinden lassen, wo es so gut wie keine Sicherheitsprobleme geben würde - sagen wir, auf einem Flugzeugträger oder in einem schönen Resort auf einer kleinen, abseits gelegenen Insel in der Südsee? Vielleicht könnte man ja für die künftigen Treffen auch eine Kunstinsel schaffen, wie sie Arno Schmidt in "Die Gelehrtenrepublik" entworfen hat.



    Daß etwas so Selbstverständliches, etwas für den Weltfrieden und den Wohlstand aller Länder so Wichtiges wie diese Gipfeltreffen von Narren und Fanatikern derart bedroht wird, daß man vor großen Sicherheitsproblemen steht, ist eine bedenkliche Entwicklung.

    Noch nie hatte vermutlich die Dummheit, hatte die Borniertheit so viele Möglichkeiten, sich zu artikulieren, sich auch mit Gewalt Geltung zu verschaffen, wie heute.

    Im National Review hat Daniel Pipes vorgestern einen längeren Aufsatz des Politologen Ernest Sternberg besprochen: "Purifying the World: What the New Radical Ideology Stands For" - Die Säuberung der Welt. Wofür die neue linksextreme Ideologie steht. Daniel Pipes:
    Socialism definitely forms part of this picture but economics no longer dominates, as once it did. The new leftist goal is more complex than mere anti-capitalism, constituting an entire way of life. Sternberg dubs this movement "world purificationism," but I prefer "left-fascism."

    He then asks the vital question: Will the Left’s latest incarnation once again turn totalitarian? He finds it too early to answer definitively but points to several "totalitarian warning signs," including the dehumanizing of enemies and accusations of mass murder.

    Der Sozialismus gehört eindeutig zu diesem Bild, aber die Ökonomie dominiert nicht mehr wie früher. Das Ziel der Neuen Linken ist komplexer als nur Antikapitalismus; es beinhaltet eine ganze Art zu leben. Sternberg nennt diese Bewegung "Weltsäuberei", aber ich sage lieber "Linksfaschismus".

    Er stellt dann die Kernfrage: Wird auch die neueste Inkarnation der Linken wieder totalitär werden? Er findet, daß es noch zu früh ist, um diese Frage definitiv zu beantworten, weist aber auf verschiedene "totalitäre Warnzeichen" hin. Dazu gehören die Enthumanisierung der Gegner, und dazu gehört es, daß man diese des Massenmords beschuldigt.
    Dazu gehört am Offensichtlichsten, daß man Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung einsetzt. Und das tun nicht nur diejenigen, die Bomben werfen und Sprengsätze zünden. Es gibt ein breites Umfeld von Gewaltbereitschaft, es gibt ein noch viel größeres Umfeld von Linksextremen, die das tolerieren und schützen, auch wenn sie selbst nicht prügeln und Molotow-Cocktails werfen.

    Welch eine Illusion war es 1989, daß mit dem Fall des Sowjetimperiums auch der Linksextremismus besiegt wäre. Er gedeiht weiter, in Form einer, wie Pipes schreibt, "new version of its anti-Western, anti-rational, anti-liberty, anti-individualist ideology", einer neuen Variante seiner antiwestlichen, antirationalen, freiheitsfeindlichen und antiindividualistischen Ideologie.



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    Özils Scheitern, Özils Treffer. Und noch einmal Joachim Gauck

    In der 25. Minute des gestrigen Spiels gegen Ghana erhielt Mesut Özil einen - so die sonst eher zurückhaltende FAZ - "traumhaften Pass" von Cacau und lief allein auf den ghanaischen Torhüter Kingson zu; nicht eben ein Weltklasse-Mann (dritter Torhüter von Wigan Athletics; dort seit 2008 insgesamt viermal eingesetzt).

    Es schien nur noch eine Formsache zu sein, den Ball ins Tor zu befördern. Aber Mesut Özil - er auf dem Weg zur Weltklasse - brachte es fertig, genau auf Kingson zu schießen; "dessen in Lilatönen schattiertes Trikot offenbar eine magische Anziehungskraft ausübte", so Christian Zaschke in sueddeutsche.de. Nichts war es mit dem Führungstreffer.

    In der 60. Minute gelang er Mesut Özil dann doch, der Führungstreffer; das - so "Spiegel-Online" - "Traumtor aus der Distanz", welches (darunter tut man's heutzutage nicht) "Deutschland ins Glück" beförderte.

    Wie konnte derselbe Mann im selben Spiel einmal so glänzend treffen und einmal so eklatant versagen?

    Zufall, vielleicht. Das Element des Zufalls spielt nun einmal beim Fußball eine große Rolle und macht nicht zuletzt dessen Reiz aus; siehe Warum ist der Fußball eine so attraktive Sportart?; ZR vom 12.6. 2010.

    Aber die beiden Situationen unterschieden sich auch in einer möglicherweise ausschlaggebenden Hinsicht.

    Als in der 60. Minute Özil den Querpass von Thomas Müller erhielt, gab es nicht viel zu überlegen. Özil hat einfach aufs Tor gehalten; so ähnlich hat er es nach dem Spiel auch gesagt. Die Situation war da, und Özil tat, was sie verlangte.

    Wenn ein Spieler allein mit dem Ball auf das Tor zuläuft, dann muß er aber eine bewußte Entscheidung treffen. Er muß überlegen, ob er den herausstürzenden Tormann zu umdribbeln versuchen soll; ob der Winkel es erlaubt, den Ball an ihm vorbei ins Tor zu schießen; ob er den Ball vielleicht über den Torwart hinweglupfen soll (was Günter Netzer in seinem Dialog mit Gerhard Delling nachträglich empfahl); oder ob er gar den Versuch machen soll, den Torhüter zu "tunneln", also den Ball zwischen dessen Beinen hindurch ins Tor zu befördern.

    Vielleicht wollte Özil den Towart Kingson tunneln; vielleicht wollte er auch den Ball an ihm vorbeischießen, wurde aber von dem Mann, siehe oben, "magisch angezogen". Jedenfalls ballerte er genau auf Kingson. Jedenfalls scheint es, daß er in dieser Entscheidungssituation versagt hat; nervös, wie er war, so wie die ganze Mannschaft. Nicht verwunderlich angesichts des Drucks, unter dem man stand. Özil ist noch keine 22 Jahre.

    Es gibt im Fußball, wie in vielen Sportarten, Situationen, die dem Spieler "sagen", was zu tun ist; in denen er, wenn er routiniert ist, ohne viel Überlegen richtig handelt. In einer solchen Situation war gestern Mesut Özil glänzend; es ist die Art von Situation, in der beispielsweise auch Lukas Podolski glänzt.

    Und es gibt Situation, in denen die bewußte Bewertung von Handlungsmöglichkeiten, die Entscheidung zwischen Alternativen erforderlich ist. Das verlangt ein ganz anderes Talent. Als er die Torchance in der 25. Minute vergab, hat Mesut Özil es vermissen lassen.

    In der sagenhaften Nationalelf der frühen siebziger Jahre verkörperte übrigens Gerd Müller perfekt den intuitiv spielenden Fußballer, der aus der Situation heraus richtig handelt; während Franz Beckenbauer nah an das Idealbild des blitzschnell die Alternativen abwägenden, bewußt entscheidenden Spielers herankam.



    Zurück zu Mesut Özil. Er ist ein sympathischer, introvertiert wirkender junger Mann. Nach dem Spiel hat er ein kurzes Interview gegeben; Ausschnitte können Sie hier sehen.

    Und da bin ich regelrecht erschrocken: Dieser junge Mann, der in Gelsenkirchen geboren und aufgewachsen ist, kann nicht richtig Deutsch! Er sagt Sätze wie "Ich wußte, daß ich heute Tor mache". Und das war nicht der Aufregung geschuldet. Hier können Sie ein etwas älteres Interview mit Mesut Özil sehen, in dem er zum Beispiel sagt "Also, ich will so schnell als möglich, also, in ersten Elf komm".

    Nein, ich will kein Wasser in den Wein der Freude über das Weiterkommen der deutschen Mannschaft gießen. Schon gar nicht will ich es Mesut Özil ankreiden, daß er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, ohne richtig Deutsch zu lernen.

    Er hat das Pech, in Gelsenkirchen geboren zu sein und nicht in Urach (wie der Schwabe Cem Özdemir); oder in Deggendorf (wie der Bayer Django Asül). Diese beiden wuchsen in Bundesländern auf, deren Regierungen die Assimilation der Nachkommen von Einwanderern anstreben. Sie sprechen Schwäbisch und Bayerisch wie jeder andere Schwabe und Bayer auch. Sie sind assimiliert.

    Özil kam hingegen in einem Bundesland auf die Welt und ging dort zur Schule, das bis vor fünf Jahren von den Multikulti-Parteien SPD und Grüne beherrscht wurde. Sie wollten ausdrücklich nicht die Assimilation der Einwanderer, sondern wünschten sich, daß diese "ihre Kultur" erhalten sollten.

    Ich erinnere mich an eine Sendung des WDR-Hörfunks; es mag in den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren gewesen sein. Drei Stunden lang, von neun bis zwölf Uhr vormittags, widmete man sich dort den Kopftüchern türkischer Frauen. Und zwar in einer lobenden, ja enthusiastischen Weise. Wie schön es sei, daß sie dadurch ihr Eigenes bewahrten, ihre Identität zeigten. Wie wunderbar, daß die Türkin durch die Wahl ihres jeweiligen Kopftuchs ihre Stimmung ausdrücken könne. Und so fort.

    In diesem Klima ist Mesut Özil aufgewachsen. Er ist dem Paß nach Deutscher, aber er ist mental noch nicht wirklich in Deutschland angekommen. Als er im Februar 2009 erstmals für die A-Nationalmannschaft nominiert worden war, sagte er:
    Ich habe mir die Entscheidung in den letzten Wochen nicht leicht gemacht, weil meine Familie und viele Freunde aus der Türkei stammen. Das ist auch keine Entscheidung gegen meine türkischen Wurzeln. Doch meine Familie lebt jetzt in der dritten Generation in Deutschland und ich bin hier aufgewachsen, habe mich immer wohl gefühlt, hier habe ich meine Chancen in den Junioren-Auswahlteams bekommen. Ich weiß, dass es die richtige Wahl ist.
    Da ringt einer um seine Identität. Er spielt für Deutschland; sein Geburtsland. Aber die Nationalhymne singt er nicht mit.



    Gestern habe ich aus Joachim Gaucks Rede im Deutschen Theater in Berlin zitiert. Dort hat er auch dies gesagt:
    Wir wollen eine aufnehmende und einladende Gesellschaft sein; jeder weiß, dass wir Zuwanderer schon aus demographischen Gründen brauchen.

    Vor kurzem war ich tief bewegt, als ich die mangelnde Beheimatung spürte, die viele von ihnen immer noch verspüren, selbst wenn sie hier geboren wurden. In den USA begegneten mir Menschen, die erst zwei, drei Jahre im Land lebten, aber dennoch stolz erklärten: This is my country. Hier aber begegnete mir eine junge Frau, die als Tochter türkischer Eltern hier zur Schule ging, hier als akademisch Gebildete in führender Position im politischen Leben aktiv ist, aber mich dennoch mit großen Augen ansah: "Gehöre ich dazu, wenn Sie sagen: Wir sind ein Volk?"

    Offensichtlich haben wir zu lange zu wenige und zu halbherzige Einladungen ausgesprochen und dadurch mit befördert, was uns heute große Probleme bereitet: Ressentiments gegenüber fremden Kulturen auf der einen Seite und mangelnde Integrationsbereitschaft in bestimmten Milieus der Zuwanderer auf der anderen Seite.
    Die Multikulti-Ideologie sah Deutschland als ein Einwanderungsland, wollte uns aber das vorenthalten, was das zentrale Bestreben jedes Einwanderungslandes sein muß: Die Einwanderer zu assimilieren. Aus Einwanderern also normale, gute Staatsbüger zu machen, mit der nationalen Identität ihrer neuen Heimat, mit demselben Nationalbewußtsein wie diejenigen, die Gauck, bezogen auf unser Land, in einem Extempore - nicht enthalten im schriftlichen Redetext - die "Altdeutschen" genannt hat.

    Neudeutsche sollen die Einwanderer und ihre Nachfahren werden, das muß unser Ziel sein. Eine solche Assimilation streben alle klassischen Einwanderungsländer an, von den USA über Australien bis Brasilien.

    Ich erwähne Brasilien, weil Özils Kollege in der deutschen Nationalmannschaft Claudemir Jeronimo Barreto, Künstlername Cacau, ein Einwanderer aus Brasilien ist. Er ist erste Generation; geboren wurde er in Santo André im brasilianischen Bundesstaat São Paulo. Er kam 1999 nach Deutschland und besitzt erst seit Februar 2009 die deutsche Staatsbürgerschaft. Aber als gebürtiger Brasilianer hat er offenbar eine normale Beziehung zur Einwanderung und zur Assimilation. Er singt die Nationalhymne mit.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Mesut Özil bei einem Spiel am 10. Oktober 2009. Von der Autorin Julia Nowikowa unter Creative-Commons-Lizenz freigegeben.

    23. Juni 2010

    Marginalie: Der General Stanley A. McChrystal und Obamas Afghanistan-Politk. Nebst einem Nachtrag

    In dem Musikmagazin Rolling Stone erscheint in der Nummer 1008/1009, die erst am Freitag in den Handel kommt, die aber bereits jetzt im Internet zu lesen ist, eine längere Story des freien Journalisten Michael Hastings. Unter der Überschrift "The Runaway General" (frei übersetzt: Ein General außer Kontrolle) berichtet Hastings über Äußerungen des Oberkommandierenden in Afghanistan, Stanley A. McChrystal, und seiner Mitarbeiter über Präsident Obama, dessen Vizepräsidenten und dessen Stab.

    Hastings, der laut New York Times offenbar freien Zugang zu McChrystals engstem Kreis hatte, notierte sich, was an Orten wie Bars und Restaurants so gesprochen wurde und hat es in seinem Artikel zitiert. McChrystal hat bisher kein Wort davon dementiert.

    Da macht man sich über den Vizepräsidenten Joe Biden lustig. In einer Szene übt man, was McChrystal auf Fragen im Anschluß an einen Vortrag antworten solle. Beispielsweise, wenn nach Biden gefragt werde. "Joe Biden - wer ist das?" schlägt McChrystal selbst vor, und ein hoher Mitarbeiter setzt noch einen drauf: "Biden - haben Sie gesagt 'bite me'?" (zu deutsch: Leck mich).

    So bekommen sie alle ihr Fett ab, die Leute um den Präsidenten Obama. Dessen Sicherheitsberater Jones sei "ein Clown", der "noch im Jahr 1985 lebt". Obamas Sonderbotschafter Holbrooke sei "wie ein verwundetes Tier", immer in Angst, von Obama gefeuert zu werden.

    Und auch dieser selbst wird nicht geschont. Erst vier Monate nach seinem Amtsantritt hätte Obama mit McChrystal gesprochen. Laut einem Mitarbeiter von McChrystal dauerte das Gespräch nur zehn Minuten:
    Obama clearly didn't know anything about him, who he was. Here's the guy who's going to run his fucking war, but he didn't seem very engaged. The Boss was pretty disappointed.

    Obama wußte mit Sicherheit überhaupt nichts über ihn, wer er ist. Da ist der Mann, der diesen verdammten Krieg führen soll, aber er [Obama] schien sich nicht sehr zu kümmern. Der Chef [McChrystal] war ganz schön enttäuscht.
    Der Artikel von Hastings befaßt sich nicht hauptsächlich mit solchen Äußerungen, sondern er porträtiert McChrystal, seine Karriere, sein Konzept für den Krieg in Afghanistan, seinen Umgang mit Untergebenen und Diplomaten. Aber das alles hat wenig Furore gemacht im Vergleich zu dem, was laut Hastings McChrystal und seine Leute über Obama und seine Umgebung gesagt haben.

    Gestern fand in Washington eine Kabinettssitzung statt, nach der Obama seinem Oberbefehlshaber in Afghanistan "poor judgment" bescheinigte, ein schlechtes Urteilsvermögen. McChrystal hat inzwischen ein Rücktrittsgesuch aufgesetzt. Obama will sich aber erst einmal am heutigen Mittwoch mit ihm treffen, bevor er eine Entscheidung trifft.



    Was soll Obama tun, was kann er tun? Ein General, der solche Äußerungen über seinen Oberbefehlshaber und dessen Stab duldet und sie nicht einmal dementiert, wenn sie an die Öffentlichkeit gelangen, gehört gefeuert. Ein Präsident und Oberbefehlshaber, der einem solchen General sein Kommando läßt, verliert jede Autorität.

    Einerseits. Andererseits: Hat Obama denn noch irgendwelche Autorität gegenüber seinen Militärs, sieht man von der formalen Befehlsgewalt ab? Die New York Times spricht von einer "current phase of poisoned relations between the White House and the military", einer gegenwärtigen Phase vergifteter Beziehungen zwischen dem Weißen Haus und dem Militär.

    Es mag dafür viele Ursachen geben, aber ein Grund liegt auf der Hand: Während seiner gesamten bisherigen Amtszeit hat Präsident Obama es nicht fertiggebracht, dem Militär zu sagen, was er eigentlich in Afghanistan will.

    Es begann im März 2009, als er in einer seiner ständigen Großen Reden eine "umfassende Strategie" (comprehensive strategy) für Afghanistan ankündigte; eine Strategie, die so umfassend war, daß niemand wußte, wofür sich Obama nun eigentlich entschieden hatte - für Counterterrorism oder für Counterinsurgency; siehe Präsident Obamas verwirrende Strategie für Afghanistan; ZR vom 31. 3. 2009.

    Die "umfassende Strategie" war bereits im Dezember 2009 wieder Makulatur. Natürlich tat es Obama nicht unter einer erneuten Großen Rede; siehe Obama zu Afghanistan; ZR. vom 2. 12. 2010. Jetzt sollte es doch Counterinsurgency sein (COIN), also nicht nur, wie bei Counterterrorism, das militärische Niederhalten des Gegners, sondern eine Transformation des ganzen Landes, die den Terroristen die Operationsbasis nehmen soll. So, wie das Präsiden Bush und General Petraeus im Irak gelungen war.

    Aber man glaubt es nicht - zugleich mit der Entscheidung über eine massive Aufstockung der Truppen mit dem Ziel eines Surge auch in Afghanistan gab der Präsident auch schon öffentlich bekannt, daß die US-Truppen ab Juli 2011 mit dem Abzug aus Afghanistan beginnen werden.

    Er machte damit den Erfolg der Operation zunichte, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ich habe damals geschrieben:
    Ein Surge kann dann und nur dann funktionieren, wenn er eine psychologische Wirkung hat (siehe John McCain zu Afghanistan; ZR vom 23. 11. 2009). Der Feind und vor allem die Bevölkerung müssen durch ihn überzeugt werden, daß man zum Sieg entschlossen ist.

    Einen Surge zu verkünden und zugleich mitzuteilen, daß man 2011 abziehen wird, ist unverantwortlich. Die Taliban, die Kaida wissen damit, daß sie nur bis 2011 durchhalten müssen, um der Sieger zu sein. Die Bevölkerung weiß das auch und wird sich auf ihre Seite stellen; was bleibt ihr übrig.
    Das ist der Kern der Frustration, die sich im US-Militär breitmacht und die sich im Zynismus von McChrystals Mitarbeitern Bahn bricht: Man macht militärisch alle Anstrengungen und weiß doch, daß man nicht gewinnen kann, weil der Präsident ab Juli 2011 wieder abziehen will, wie auch immer dann die militärische Lage ist.

    Präsident Obama müßte den General McChrystal eigentlich feuern. Aber was wäre damit gewonnen? Wenn er einen kompetenten Nachfolger ernennt - es ist laut New York Times sogar die Rede davon, daß General Petraeus zusätzlich zu seinem Oberbefehl über das USCENTCOM auch noch das Kommando in Afghanistan übertragen bekommen könnte -, dann wird dieser dieselbe Kritik äußern wie McChrystal.

    Obamas Dilemma ist es ja nicht, daß er in Afganistan den falschen Kommandeur hat, sondern daß er selbst bisher nicht in der Lage war, eine kohärente Afghanistan-Politik zu formulieren.




    Nachtrag um 20.15 Uhr: Um 18.12 Uhr meldete CNN, daß Präsident Obama General McChrystal durch General Petraeus als Oberkommandierenden in Afghanistan ersetzt hat.



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    Zitat des Tages: "Sich aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse erlösen". Zu Joachim Gaucks gestriger Rede in Berlin

    Ich träume von einem Land, in dem ich nicht nur zufrieden bin, weil seine Institutionen funktionieren, sondern das imstande ist, sich selber aus der Unkultur von Angst, Resignation und Tristesse zu erlösen, indem es gestaltet und das Seine eigenständig sucht, erkämpft, betreibt.

    Joachim Gauck gestern in seiner Rede "Freiheit - Verantwortung - Gemeinsinn" im Deutschen Theater in Berlin. Die ganze Rede können Sie hier als Video ansehen.


    Kommentar: Mir ist an dieser Rede zweierlei aufgefallen.

    Erstens wird an ihr das deutlich, was wohl das Lebensmotto von Joachim Gauck ist, die Summa seiner biografischen Erfahrungen: Die Überwindung von Angst, das Annehmen von Verantwortung, der Mut zur Freiheit.

    Er sieht Freiheit als etwas an, das man sich erkämpfen muß - und zwar nicht nur gegen diejenigen, die uns die Freiheit nehmen oder sie beschneiden wollen, sondern auch gegen die eigenen Neigungen und Motive, die der Freiheit entgegenstehen:
    Mehr noch als die Bewohner in Deutschlands Westen begleitet die Bewohner des Ostens deshalb eine Angst vor der Freiheit, die den schmerzlichen Prozess der Aufklärung und Säkularisierung auf dem Weg in die Moderne immer begleitet hat. Wir haben durch die Freiheit viel gewonnen, aber wir haben auch Bindungen, die äußere festgezurrte Ordnung und Sicherheit verloren. Für ihre Lebensplanung sind die Menschen nun selbst zuständig - aber zu dieser Eigenverantwortung sind einige nicht mehr, und andere noch nicht fähig. Die Gestaltung der Freiheit ist generell der Gefahr ausgesetzt, durch die Angst vor ihr beschnitten und gehemmt zu werden.
    Es ist nicht nur eine politische Haltung - die eines überzeugten Liberalen -, die Gauck darlegt, sondern es ist nachgerade eine Ethik und auch eine Lebensphilosophie. Gauck steht in der Tradition der Aufklärung, in der Tradition Kants, wohl auch von Philosophen der menschlichen Freiheit und Selbstverantwortung wie Kierkegaard und Sartre.

    Zum zweiten ist diese Rede auf eine angenehme Weise altmodisch. Sie erinnert an das deutsche Lebensgefühl in den Jahren nach der Gründung der Bundesrepublik. Dieses Glück, frei zu sein und sein Leben selbstverantwortlich gestalten zu können, war damals allen Denkenden bewußt; war ihnen bewußt als etwas nicht Selbstverständliches. So wie Gauck gestern redete, dachten und sprachen die Demokraten "der ersten Stunde"; Männer wie Theodor Heuß, Thomas Dehler, Konrad Adenauer, Jakob Kaiser, Kurt Schumacher und Carlo Schmid.

    Später wurden uns Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zur Gewohnheit, zur mitunter fast schon lästigen Gewohnheit. Viele neigen heute dazu, nur noch die Mängel des politischen Systems zu sehen, in dem wir leben; in dem wir das Glück haben leben zu dürfen. Es grassieren Dummheiten wie die von der "wachsenden sozialen Ungerechtigkeit"; oder es wird gar behauptet, wir hätten "gar keine Demokratie mehr". Mängel unseres Rechtsstaats werden mit dem Wesen des Unrechtsstaats DDR in einen Topf geworfen.

    Daß wir - wir im Westen - das ungeheure Privileg haben, nicht nur seit mehr als 60 Jahren in Frieden und in wachsendem Wohlstand zu leben, sondern auch in Freiheit von staatlicher Unterdrückung und Willkür, von Bevormundung durch eine Ideologie - diese schlichte Wahrheit ist vielen so selbstverständlich geworden, daß sie ihnen gar nicht mehr bewußt zu sein scheint. Joachim Gauck ist sie, wie kann es anders sein bei seiner Biographie, nur allzu gegenwärtig:
    Ich erinnere mich daran, wie lange und wie sehnlich ich und andere Bürger Mittelosteuropas darauf warteten, endlich das tun zu dürfen, was für Bürger im Westen seit Großvaters Zeiten ganz selbstverständlich war: in freien, gleichen und geheimen Wahlen die eigene Regierung zu wählen. Ich musste 50 Jahre alt werden, um das zu tun. Ich blicke zurück und sehe mich am Vormittag des 18. März 1990 mit Glückstränen im Gesicht aus dem Wahllokal kommen. Und ich sage zu dem Menschen neben mir, was er doch schon weiß: "Ich habe gewählt".

    Für einen kurzen Moment war alle Freiheit Europas in das Herz des Einzelnen gekommen. Ich wusste: Nie, nie und nimmer wirst du auch nur eine Wahl versäumen.
    Das mag für manchen pathetisch klingen. Aber es drückt das aus, was auch die Menschen nach 1945 empfanden; was geradezu das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik ausmachte: Diese unbändige Freude an der Freiheit. Für Gauck liegt das erst zwei Jahrzehnte zurück.



    Wenn Joachim Gauck gewählt wird, dann bekommt unser Land wieder einen liberalen Bundespräsidenten. Einen, wie es ihn mit dieser in der eigenen Biographie verwurzelten, politisch und philosophisch reflektierten liberalen Überzeugung seit Theodor Heuß nicht gegeben hat.

    Wer als Mitglied der Bundesversammlung ein Liberaler aus einer politischen Haltung heraus ist und nicht nur ein Karrierist mit FDP-Parteibuch, der kann eigentlich nicht anders, als Joachim Gauck zu wählen.

    Aber spielt, wer das tut, damit nicht das Spiel der Rotgrünen, die Gauck just deshalb nominiert haben, weil sie auf solche "Abweichler" spekulierten, um der Regierung zu schaden? Nein. Wird Gauck gewählt, dann war da das am Werk, was Hegel eine "List der Vernunft" nannte.

    Trittin und Gabriel, deren Universum nicht über Machtstrategie und Trickserei hinausreicht, wollten mit der Nominierung Gaucks die Regierung Merkel in Schwierigkeiten bringen; ja gewiß doch. Und die Regierung antwortet auf derselben machtpolitischen Ebene; siehe "Mit der Würde der Demokratie nicht vereinbar"; ZR vom 19. 6. 2010.

    Aber wäre es nicht eine grandiose Ironie der Geschichte, wenn alle diese kleinkarierte Taktiererei am Ende das Ergebnis hätte, daß ein Liberaler Bundespräsident wird; ein Mann, der nicht nur politisch auf der anderen Seite steht, sondern dessen Verständnis von Politik auch so ist, daß es Leuten wie Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin die Schamröte ins Gesicht treiben sollte?



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Nachtrag am 20. 2. 2012: Der ursprüngliche Link zu der Rede funktioniert nicht mehr. Ich habe ihn durch einen anderen ersetzt; mit Dank an Frank Böhmert.