30. Mai 2010

Das Wahlergebnis in Tschechien. Ein Gastbeitrag von Ungelt

In Tschechien wurde am Samstag ein neues Parlament gewählt. Hier das vorläufige amtliche Endergebnis mit einigen kommentierenden Anmerkungen:

22,09% (56 Sitze / -18) CSSD - Sozialdemokraten mit derzeit bedenklicher Nähe zu den Kommunisten und mit einem starken Hang, Wahlgeschenke zu verteilen, unabhängig von der Staatsverschuldung. Bisher mit einem sehr problematischen Vorsitzenden - Paroubek -, der jetzt zurückgegetreten ist.

11,27% (26 Sitze / unverändert) KSCM - Kommunisten, kaum gewendet, nach meinem Eindruck. Ich muß aber zugeben, daß ich aus gesundheitlichen Gründen deren Politik nicht verfolge. ;-

2,44% (0 Sitze / -6) SZ - Die tschechischen Grünen, zuvor für grüne Verhältnisse relativ konservativ, heute zerstritten, praktisch zerfallen und an der 5%-Hürde klar gescheitert.

20,22% (53 Sitze / -28) ODS - Ehemals die "Klaus-Partei", aus der dieser jedoch schon vor einiger Zeit ausgetreten ist und deren Ehrenvorsitz er niedergelegt hat. Bis vor kurzem von Topolanek geführt, jetzt von Petr Necas, der auf mich einen wesentlich besseren (integreren) Eindruck macht. Er wird es aber nicht leicht haben, das verloren gegangene Vertrauen wieder zu gewinnen und gegen die vorhandenen "Strukturen" anzukämpfen. Die Partei befand/befindet sich leider in einem speziellen Wettbewerb mit den Sozialdemokraten - es ging darum, wer bereit war, mehr Wahlgeschenke zu versprechen.

16,71% (41 Sitze / +41) TOP 09 - Neugründung des ehemaligen Finanzministers Kalousek (zuvor KDU-CSL: s.u.) und des sehr populären Fürsten Schwarzenberg, der bis zum letzten Sommer als Parteiloser für die Grünen als Außenminister in der Regierung gewesen war. (Seine Nominierung für dieses Amt war von Václav Havel "angeregt" worden). Die Partei tritt für eine Gesundung der Staatsfinanzen und gegen Korruption ein, ist aber leider auch relativ EU-freundlich.

10,88% (24 Sitze / +24) VV - Ebenfalls eine Neugründung, die sich insbesondere an die unzufriedenen ehemaligen ODS-Wähler wendet. Sie ist für mich noch schwer einzuschätzen; ich sehe aber einige hoffnungsvolle Ansätze. Die Partei ist z.B. explizit gegen einen Beitritt der Türkei zur EU, für einen "schlanken Staat", für klare Rechtsvorschriften und die direkte Wahl des Präsidenten; und sie praktiziert innerparteiliche Demokratie per Internetabstimmung.

4,39% (0 Sitze / -13) KDU-CSL - Eine ehemalige "christliche" Blockflöte, gern zwischen den Sozialdemokraten und der ODS pendelnd. Parteitechnisch ein "Urgestein"; seit 40 Jahren im tschechischen Parlament. Jetzt wie die Grünen an der 5% Hürde gescheitert.



Die Sozialdemokraten haben also kräftig verloren und können die Regierung gemeinsam mit den (oder Duldung durch die) Kommunisten, die sie anstrebten, nicht bilden. Die "bürgerlichen" Parteien - also die jenseits von Sozialdemokraten und Kommunisten - haben dagegen eine solide Mehrheit von 118 Sitzen.

Und wie titelt dazu "Spiegel-Online"? So: "Verluste der Volksparteien - Sozialdemokraten siegen nur knapp bei Tschechien-Wahl".



Noch einiges, das in den deutschen Medien wenig Beachtung gefunden hat:
  • Das Wahlsystem ermöglicht die Vergabe von Präferenzstimmen; der Wähler kann maximal vier einzelnen Kandidaten so zu einem besseren Platz bei der Vergabe der Mandate verhelfen. Diese Möglichkeit wurde jetzt ausgiebig genutzt. Sie bewirkte, daß eine Reihe von Kandidaten ins Parlament kamen, obwohl sie auf einem der hinteren Listenplätze gestanden hatten.

  • Die Wahlentscheidung wird nach übereinstimmenden Vermutungen verschiedener Kommentatoren und Politiker auch die Folge haben, daß der bisher von den Grünen blockierte Ausbau des Atomkraftwerks Temelin um weitere zwei Blöcke jetzt genehmigt werden wird.

  • TOP 09 hatte als Wahlwerbung u.a. Post-Zahlscheine über 121.000 Kronen (ca.4.700 €) zur "Rückzahlung der Staatsschulden" an die Wähler verschickt. Die Sozialdemokraten brandmarkten dies als eine üble Methode, alte Omas zu erschrecken, von denen mindestens eine angeblich einen Herzinfarkt erlitt.

  • Interessant ist, daß die Sozialdemokraten und Kommunisten mehrheitlich auf dem Land und auch mehrheitlich von älteren Menschen gewählt wurden. Die jüngeren Wähler sind eindeutig gegen diese beiden Parteien eingestellt. Eine Testwahl, die rund vier Wochen vor der Parlamentswahl an 128 Gymnasien, "mittleren Fachschulen" und Berufsschulen durchgeführt wurde, liefert dazu interessante Informationen: TOP09 war mit 26,59% die mit Abstand beliebteste Partei. Die Sozialdemokraten erreichten gerade einmal 5,27% und die Kommunisten 2,95%. Die Grünen bekamen in dieser Umfrage 5,3%. ODS erreichte 17,56%, VV 12,11% und KDU/CSL 1,7%.
  • Die Regierungsbildung geht jetzt den üblichen Weg. Der Präsident hat bereits für morgen Gespräche mit Vertretern aller Parteien anberaumt. Ich erwarte eine sehr schnelle Einigung zwischen ODS und TOP 09 und eine etwas langwierigere mit VV.

    Ich zweifle aber nicht daran, daß eine Einigung möglich sein wird, wenn auch der angekündigte Rückzug des Chefs der Sozialdemokraten wohl Verhandlungen mit weniger "belasteten" Personen ermöglichen soll. Paroubek selbst hätte wohl überhaupt keine Chance gehabt, jenseits der Kommunisten einen Partner zu finden.



    Nicht daß ich mit dem Ergebnis wirklich zufrieden wäre, aber besser als eine Mehrheit der (eindeutigen) Linksparteien ist es allemal, natürlich. Und Chancen für eine vernünftige Politik sehe ich durchaus.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Der Autor ist gebürtiger Prager und lebt seit den Ereignissen von 1968 in Deutschland.