10. Mai 2010

Nach der Wahl in NRW (1): Die Stunde der Wahrheit lag vor dem Wahlsonntag

Die Titelvignette zu dieser kleinen Serie zeigt den deutschen Politiker Otto Grotewohl (1894 - 1964); langjähriger Sozialdemokrat und dann als SED-Mann der erste Ministerpräsident der DDR. Er repräsentiert zwei Hauptthemen der Serie: Die Politik einer Volksfront aus Sozialdemokraten, Kommunisten und sogenannten "progressiven bürgerlichen Kräften" und das Versagen in einer Stunde der Wahrheit.

Die Stunde der Wahrheit, in der sich die Wahl in NRW entschied, lag nicht am Wahlsonntag, sondern in der vergangenen Woche. Das war die Stunde der Wahrheit für Sigmar Gabriel, und er versagte. Vorausgegangen war die Stunde der Wahrheit für die Kanzlerin. Sie lag noch früher, nämlich am Mittwoch vorvergangener Woche, dem 28. April.

Bis dahin hatte die Kanzlerin die Entscheidung über die Rettung des Euro bis nach den Wahlen in NRW hinauszuzögern versucht. Denn sie wußte natürlich, daß das, was finanzpolitisch notwenig war - der Beschluß über Kreditbürgschaften für Griechenland in Milliardenhöhe - eine innenpolitische Katastrophe für die Union und für Schwarzgelb sein würde.

Es gab und gibt in Deutschland eine massive Stimmung gegen diese Griechenland-Hilfe, die ihre Grundlage in nachgerade existenziellen Sorgen hat; siehe Die Wahlen in NRW als "Volksabstimmung über Griechenland"; ZR vom 9. 5. 2010. Man fürchtet um die Stabilität des Euro, also seine Ersparnisse und die eigene wirtschaftliche Zukunft; in dieser Lage auch noch anderen unser Geld zu geben oder zu versprechen, ist für viele nicht nachvollziehbar.

Würde die Kanzlerin sich in der vorletzten Woche entscheiden, die Griechenland-Hilfe noch vor dem 9. Mai durchs Parlament zu bringen, dann bedeutete das den Verlust von NRW und damit auch der Mehrheit im Bundesrat. Aber die Zeit drängte, denn der Euro geriet unter immer stärkeren Druck; die Finanzmärkte reagierten immer nervöser. Am Donnerstag, dem 29. April schrieb Nicholas Kulish in der New York Times:
As the crisis worsened, political calculations had to take a back seat to the more basic task of ensuring the stability of the euro currency that replaced Germany’s beloved mark. Mrs. Merkel said after meeting with Dominique Strauss-Kahn, the managing director of the International Monetary Fund, that negotiations with the Greek government had to be accelerated and that Germany would do its part to safeguard the euro. But she sounded less than happy about it.

Mit der Verschlimmerung der Krise mußte das politische Kalkül hinter die grundlegendere Aufgabe zurücktreten, die Stabilität der Währung Euro zu sichern, die an die Stelle von Deutschlands hochgeschätzter D-Mark getreten war. Nach einem Treffen mit Dominique Strauss-Kahn, dem geschäftsführenden Direktor des Weltwährungsfonds, erklärte Merkel, daß die Verhandlungen mit der griechischen Regierung beschleunigt werden müßten und daß Deutschland seinen Teil dazu beitragen würde, den Euro zu sichern. Aber sie klang dabei nicht eben glücklich.
Verständlich, denn sie hatte damit das Todesurteil über die Regierung Rüttgers gesprochen, und sie hatte es in Kauf genommen, daß ihre eigene Regierung künftig in einer ähnlichen Situation sein würde wie diejenige Helmut Kohls in den Jahren ihres Niedergangs: Auf Gedeih und Verderb abhängig von der SPD, die über den Bundesrat die meisten wichtigen Gesetze blockieren kann.



Das hat damals Oskar Lafontaine erbarmungslos ausgenutzt. Er legte die Regierung Kohl über den Bundesrat faktisch lahm und ebnete damit den Weg für den Sieg von Rotgrün im Jahr 1998.

Sein Nachfolger im Amt des SPD-Vorsitzenden, Sigmar Gabriel, hatte seine Stunde der Wahrheit in der vergangenen Woche. Er hätte sich als Staatsmann verhalten und die Kanzlerin unterstützen können. Er hat sich aber opportunistisch verhalten.

Natürlich wußte auch er, selbstverständlich wußte auch die SPD, daß kein Weg an einer Finanzhilfe für Griechenland vorbeiführen würde, und daß Deutschland sich bis Freitag festgelegt haben mußte, damit das Hilfepaket in Brüssel beschlossen werden konnte, bevor am heutigen Montag die Börsen öffnen würden. Aber er wußte auch, daß die Koalition das allein mit ihrer eigenen Mehrheit würde durchsetzen können.

Also konnte sich die SPD die Stimmenthaltung leisten. Während Merkel die Interessen des Landes über die ihrer Partei und ihrer Regierung stellte, verhielt sich die SPD Sigmar Gabriels so, wie sich einst die SPD von Oskar Lafontaine verhalten hatte: Sie ließ sich von parteipolitischen Interessen leiten, nicht von denen der Bundesrepublik Deutschland.

Sie tat das aber nicht geschlossen. Vier Abgeordnete der SPD stimmten für das Gesetz, das den Namen "Währungsunion-Stabilisierungsgesetz" trägt.

Der bekannteste von ihnen war Hans-Ulrich Klose. Er ist ein Unikum in der SPD: Einst war er ihr Shooting Star, mit 37 Jahren bereits Regierungschef des Bundeslands Hamburg, später Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. Das war er bis 1994. Seither wurde er immer wieder in den Bundestag gewählt, dem er jetzt seit mehr als einem Vierteljahrhundert angehört. Aber Minister ist er nie geworden, dieser aufrechte Demokrat und Freund der USA.

Seit dem 1. April dieses Jahres ist er Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit; in dieses Amt berufen von einer Regierung des politischen Gegners, während er in seiner eigene Partei als Außenseiter gilt, seit er die amerikafeindliche Politik des Kanzlers Schröder nicht mittragen wollte.

Zwei der drei anderen Abweichler stehen noch am Beginn ihrer politischen Karriere. Die Namen dieser Couragierten sollte man sich merken. Es sind die Juristin Dr. Eva Högl und der Diplom-Politologe Michael Roth. Die vierte im Bunde ist die Lehrerin und Familientherapeutin Dr. Angelica Schwall-Düren.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen drei Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Bundesarchiv; unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Germany License (CC-BY-SA) freigegeben; bearbeitet.