2. Mai 2010

Zettels Meckerecke: Wann tritt Wolfgang Thierse als Vizepräsident des Bundestags zurück?

Wolfgang Thierse kann man zugutehalten, daß er in einem Unrechtsstaat aufgewachsen ist. Er hat nicht in der Schule und möglicherweise auch in den Jahren danach nicht gelernt, daß die Gesetze für alle gelten.

Aber immerhin lebt er seit 1990 in einem Rechtsstaat. Immerhin hat er es in diesem Staat bis zum Vizepräsidenten des Bundestags gebracht; zeitweise sogar zu dessen Präsidenten. Er hatte, so sollte man meinen, Zeit und Gelegenheit genug, zu lernen, daß in diesem Staat, in dem er jetzt lebt und für den er Mitverantwortung trägt, das Grundgesetz Gültigkeit hat, und zwar für alle Bürger.

Er weiß es offenbar nicht. Oder sagen wir genauer: Er akzeptiert es nicht.



Für den gestrigen 1. Mai hatten Rechtsextreme in Berlin eine Demonstration angemeldet, die vom S-Bahnhof Bornholmer Straße zum S-Bahnhof Landsberger Allee führen sollte. Die Demonstration war genehmigt worden und wurde folglich von der Polizei begleitet und geschützt.

Dazu ist die Polizei in unserem demokratischen Rechtsstaat verpflichtet. Das Demonstrationsrecht ist bekanntlich ein hohes Gut, das vom Grundgesetz garantiert wird, und zwar als ein Grundrecht in Artikel 8:
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
Eine Einschränkung nach Absatz 2 gilt zum Beispiel für Bannmeilen um Parlamente und das Verfassungsgericht. Eine Einschränkung je nach politischer Gesinnung derer, welche die Demonstration anmelden und an ihr teilnehmen, gibt es nicht und kann es in einem Rechtsstaat nicht geben. Sie wäre seine Selbstaufgabe als Rechtsstaat.

Wenn Extremisten von diesem Recht Gebrauch machen, dann ist es gut, daß Demokraten dies mit Gegendemonstrationen beantworten. Der öffentliche Raum darf Extremisten nicht überlassen werden, ob sie nun unsere rechtsstaatliche Ordnung von links oder von rechts her beseitigen wollen. Je mehr Menschen gegen die Extremisten demonstrieren, umso deutlich kann man es diesen selbst und der Öffentlichkeit machen, daß sie mit ihren politischen Bestrebungen auf entschlossenen Widerstand treffen.

Aber es ist eine Absurdität, den demokratischen Rechtsstaat verteidigen zu wollen, indem man seine Gesetze bricht. Es zeugt von einem fundamentalen Mangel an demokratischer Gesinnung, wenn man versucht, andere an der Wahrnehmung des vom GG garantierten Rechts auf Demonstrationsfreiheit zu hindern, indem man zum Beispiel den Weg des Demonstrationszugs blockiert.

Es ist ein Unding, für diesen Staat eintreten zu wollen, indem man sich der Polizei widersetzt, die ihn schützt. Und es ist eine unglaubliche Pflichtvergessenheit, wenn ein Vizepräsident des Bundestags das tut.



Jedenfalls nach übereinstimmenden Presseberichten hat Wolfgang Thierse das getan. Aus dem Bericht der BZ über den Ablauf der Demonstration:
14.02 Uhr: Knapp 500 Rechtsextreme haben sich jetzt am Bahnhof Bornholmer Straße versammelt, wollen demnächst mit ihrem Aufmarsch beginnen. (...)

15.22 Uhr: Wolfgang Thierse steht vor dem Aufzug und versucht, ihn zu stoppen. (...)

15.29 Uhr: Wolfgang Thierse, Wolfgang Wieland (Grüne) und andere Politiker haben in Höhe der Schönfließer Straße eine Sitzblockade gebildet. Die Polizei spricht sie namentlich an und will sie zum Weggehen bewegen. Weitere 50 Personen setzen sich ebenfalls auf die Straße, um den Aufzug zu stoppen.

15.39 Uhr: Die Polizei greift durch: Thierse wird von einem Beamten abgeführt. Zudem erhält der Bundestagsvizepräsident einen Platzverweis.
Ähnlich schildert zum Beispiel die taz den Ablauf; dort heißt es:
15:25, Berlin-Prenzlauer Berg Bornholmer, Schönfließer Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, Wieland und Köhne und andere sitzen auf der Straße. Sie werden persönlich per Polizeilautsprecher aufgefordert, die Straße frei zu machen. Blieben aber sitzen.
Wußte Thierse nicht, daß er sich spätestens dann strafbar machte, als er der Aufforderung der Polizei nicht nachkam? Er wußte es. Die BZ in einem anderen Artikel:
Wegen seiner Sitzblockade beim Aufmarsch Rechtsextremer muss Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) mit rechtlichen Konsequenzen rechnen. "Ich werte das als rechtswidrige Handlung", sagte sein Parteifreund, der Berliner Innensenator Ehrhart Körting. (...)

Körting sagte, er habe Thierse freundlich und bestimmt eine Rechtsbelehrung erteilt. "Lieber Wolfgang", habe er ihn angesprochen. Es habe aber nicht gefruchtet: "Er ist ja jünger als ich", meinte Körting. Nun müssten Juristen werten, ob Nötigung vorliege, eine Ordnungswidrigkeit oder die Verhinderung einer nicht-verbotenen Versammlung.
Noch deutlicher wurde laut "Spiegel-Online"der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Konrad Freiberg:
Ich finde das Verhalten von Wolfgang Thierse empörend. (...) Es ist unerträglich, wenn Vertreter von Verfassungsorganen aus billigem Populismus gegen Recht und Gesetz verstoßen. (...) Bei allem Verständnis für die Wut auf Neonazis lässt sich die Demokratie sicher nicht durch Rechtsbruch verteidigen.



Ein Vizepräsident des Bundestags, der sich bewußt über die Gesetze hinwegsetzt, ist in diesem Amt fehl am Platz. Er sollte ein Vorbild für gesetzestreue Bürger sein, und er benimmt sich wie ein Vorbild für Politkriminelle.

Thierse hat gestern vorgeführt, daß man seiner Ansicht nach das Demonstrationsrecht mißachten und sich weigern darf, einer Aufforderung der Polizei Folge zu leisten, sofern es sich um eine Aktion gegen Rechtsextreme handelt. Darauf kann sich künftig jeder Politkriminelle berufen, wenn er sein rechtswidriges Verhalten damit entschuldigt, es ginge ja gegen rechts.

Laut Innensenator Körting ist unklar, gegen welche Gesetze Thierse im einzelnen verstoßen hat. In jedem Fall wird sein Verhalten rechtliche Konsequenzen haben. Bevor er sein Amt weiter beschädigt, sollte Thierse zurücktreten.



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