9. Mai 2010

Zitat des Tages: "Sachbeschädigungen empfinden wir als konstruktiv". Das Lumpenproletariat im Wohlfahrtsstaat

Nicht alles, was am 1. Mai vorgefallen ist, finden wir gut. Aber Sachbeschädigungen und die Formulierung von Begehren durch das Aufbrechen des Straßenpflasters empfinden wir als konstruktiven Ausdruck, um die stumme Gewalt, die uns umgibt, überhaupt sichtbar zu machen.

Aus einer vorgestern bei Indymedia publizierten Erklärung einer "AG Repression und Solidarität aus der Roten Flora" zu den Gewalttaten am 1. Mai in Hamburg.


Kommentar: Der Text, dem ich dieses Zitat entnommen habe, ist lesenswert; und zwar aus mehreren Gründen.

Erstens ist er relativ frei von orthographischen Fehlern und offenbar von jemandem geschrieben, der sich um eine ausgesprochen gehobene Sprache bemüht ("Geschichte scheint sich an diesem Punkt als bürgerlicher Abwehrmechanismus zu wiederholen, um die Augen vor einer ungeliebten Realität zu verschließen").

Zweitens wird gar nicht erst der Versuch gemacht, die Gewalt als Mittel zum Erreichen irgendwelcher politischer Ziele zu rechtfertigen. Man ist kriminell, nicht weil man etwas durchsetzen möchte, sondern weil man Wut im Bauch hat. Da wird man doch wohl mal zuschlagen dürfen:
Die Jugendlichen, die in Hamburg auf der Straße revoltiert haben, haben Bedürfnisse, Wünsche und eine Sehnsucht nach Teilhabe am Leben. Manche kommen aus reicheren Elternhäusern, andere aus ärmeren. Sie sind Querschnitt der Menschen, die hier leben, die die Flora besuchen oder hier im Stadtteil abhängen. Manche sind Anarchist_innen oder Autonome, andere nicht. Was sie und uns verbindet, ist keine Ideologie oder feststehende Utopie, sondern die Unzufriedenheit und der Wunsch, dass etwas anders wird. Wir finden dies nicht verurteilenswert, sondern gut.
Daß der "Wunsch, daß etwas anders wird", sich vermutlich nicht dadurch erfüllen wird, daß man Polizisten verletzt und Geschäfte plündert, dürfte auch dem Autor, der ja kein Dummkopf ist, klar sein.

Jedenfalls dann, wenn man diesen Wunsch so interpretiert, daß diese heutigen Politkriminellen eine neue, eine andere Gesellschaftsordnung anstreben würden; so wie ihre Vorgänger in der Zeit nach 1968. Aber ihre Ziele sind - drittens - handfester: Spaß für alle, Champagner für alle:
Es wird beklagt, junge Aktivist_innen trügen Markenklamotten und seien nicht politisch. Mal abgesehen davon. dass wir nicht wissen, weshalb man als politische_r Aktivist_in schlecht angezogen sein sollte, drückt sich darin vor allem eine Verachtung und ein Ressentiment gegenüber einer Bevölkerungsschicht aus, der solcher Luxus anscheinend nicht zustehen soll. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (schon gar nicht den bei Rossmann befreiten Schampus trinken)", ist die dahinter liegende alte Devise, die als neoliberale Binsenweisheit und Mitwirkungspflicht bei HartzIV neuen Schwung erfährt.



Marx und Engels verwendeten gern den Begriff des Lumpenproletariats. Engels hat es so beschrieben:
Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich.
Und Marx schrieb schilderte es als
von den Abfällen der Gesellschaft lebend, Leute ohne bestimmten Arbeitszweig, Herumtreiber, dunkle Existenzen, verschieden nach dem Bildungsgrade der Nation, der sie angehören, nie den Tagediebcharakter verleugnend.
Das moderne Lumpenproletariat, das sich in Texten wie dem dieser "AG Repression und Solidarität" artikuliert, unterscheidet sich nur in einem Punkt von demjenigen zur Zeit von Marx und Engels: Niemand muß sich sorgen, nichts zu essen oder kein Dach über dem Kopf zu haben. Wer im Wohlfahrtsstaat lebt, lebt angenehm.

Der Mundraub dieses heutigen Lumpenproletariats besteht darin, daß man "befreiten Schampus" trinkt. Man gönnt sich ja sonst nichts.



Aufmerksam geworden bin ich auf den Text dieser "AG Repression und Solidarität" durch den Artikel von F. Hanauer und A. Zand-Valili, der gestern in "Welt-Online" erschien.



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