Was war das damals für ein Auftritt, am 24. April 1982 in Harrogate, UK! Als achtzehnte und damit letzte war sie ausgelost worden, unsere Nicole. Ein blonder Rauschgoldengel, gehüllt in ein bis fast zum Boden reichendes Kleid, nachthimmelfarben mit Pünktchen darauf, diese glitzernd wie Sterntaler. Weiße Aufschläge an den Ärmeln, weiße Krägelchen dort, wo das Kleid hochgeschlossen endete.
Sie hatte auf einer Art Barhocker Platz genommen, aber anders als bei Marlene Dietrich im "Blauen Engel" sah man nichts von ihm, denn alles verhüllte dieses Kleid. Auch von Nicole sah man fast nichts, außer ihrem Kopf mit dem goldglänzenden Engelshaar, der auf dieses wallende Kleid aufgesetzt erschien wie der porzellane Kopf einer Puppe auf deren textilen Körper.
Nur hatte er keine Harfe, dieser Engel, sondern eine Gitarre. Die Harfe aber schlug eine Harfinistin hinter ihr; bei einigen Einstellungen war sie groß zu sehen und verstärkte den Eindruck, daß da ein Engel vom Himmel gestiegen war.
Es war die perfekte optische Inszenierung; Sie können sie sich beispielsweise hier ansehen.
Und dieser Engel sang den perfekte Text; den dem Lebensgefühl jener Jahre sozusagen auf den Leib geschriebenen Text.
Im April 1982 war es erst ein paar Monate her, daß die großen Friedensdemonstrationen Europa bewegt hatten. Im Oktober 1981 zum Beispiel diejenigen im Bonner Hofgarten (300.000 Teilnehmer) und in Brüssel; im November waren es fast 400.000 Menschen in Amsterdam gewesen.
Man hatte Angst wie schon lange nicht mehr; man "bekannte sich zu seiner Angst", wie eine beliebte Formel hieß. Die Symbole der Angst waren beispielsweise die Neutronenbombe und vor allem die Pershing II-Raketen, die in Europa stationiert werden sollten. Die wollte man "weg haben", und man verband das mit der seltsam naiven Vorstellungen, daß Deutschland und Europa sicherer werden würden, wenn dann nur noch die Sowjets vergleichbare Raketen (SS-20 im Nato-Code) haben würden, gerichtet auf deutsche und andere europäische Städte.
Und in dieser Stimmung nun, die ganz Europa erfaßt hatte, trat ein Engel hin, komplett mit Rauschgoldhaar und Harfe, und sang:
So erlangte sie den bisher einzigen deutschen Sieg in dem Wettbewerb, der einmal Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß und der jetzt European Song Contest heißt.
Und jetzt also Lena? Schafft sie es für Deutschland zum zweiten Mal? Wird sie die neue Nicole? Ich glaube es nicht. Ich wundere mich, daß so viele es glauben.
Als ich heute mit der Straßenbahn fuhr, saß mir gegenüber eine Mutter mit ihrem Dreijährigen. Ein lebhaftes Kind, das die Dinge um es herum benannte, so wie sie vor seinem Auge auftauchten: "Da, Polizei ... da, Baaart!" (das war ich). Und dann: "Da, Deutschland-Auto!". Und tatsächlich: Der Dreikäsehoch hatte ein Auto entdeckt, das Deutschland war. Mit Schwarzrotgold groß auf dem Kühler, mit Schwarzrotgold klein als Fähnlein ringsherum aufgesteckt.
Ein intelligentes Kind war das; ein kleiner Intellektueller, der zwei Konzepte zu einem neuen zusammengefügt hatte.
Ich habe dann tatsächlich heute noch etliche "Deutschland-Autos" gesehen. Ich bin nicht sicher - aber ich vermute, sie wurden für Lena beflaggt. Jedenfalls würde das zu der Stimmung passen, die unser Land ergriffen hat. Nicht weniger seltsam als die Mischung aus irrationaler Angst und pseudoreligiöser Hoffnung im Jahr 1982.
Ich weiß nicht, ob ich sie begreife, diese Lena-Stimmung.
Natürlich ist sie das Ergebnis der Public-Relations-Maschine von Stefan Raab; ungleich effizienter als das, was damals Ralph Siegel auf die Beine stellen konnte. Lena wurde nach allen Regeln des Gewerbes aufgebaut - mit einer Casting Show, mit Auftritten bei Raab, mit entsprechender Medien-Begleitung. Das war Medienbusiness vom Feinsten.
Andererseits hätte das wohl nicht gereicht, einen Hype zu entzünden, wenn Lena nicht schon ein seltsames Wesen wäre.
Ob sie gut singt, kann ich nicht beurteilen. Immerhin kann sie keine Noten lesen; das ist schon einmal eine gute Voraussetzung.
Wenn ich ihr "Satellite" höre - und man kann dem ja gar nicht entgehen -, dann kommt mir das seltsam unmusikalisch vor. Fast schon ein Sprechgesang, gesprochen in etwas, das der englischen Sprache ähnelt. Dem Cockney soll es verwandt sein, habe ich gelesen. Mir klingt es eher so wie die Bemühungen von mir und meinen Mitschülern, wenn wir in der Obertertia Shakespeare "mit verteilten Rollen" laut vorlesen mußten.
Aber seinen Reiz hat das schon. Eine gewisse trotzige Entschlossenheit kann man heraushören. Take it or leave it. Ich singe so, wie es mir gefällt.
Und so wirkt sie auch bei ihren nichtmusikalischen Auftritten, unsere Lena. Sie hat "Präsenz", wie man so sagt; was wohl meint, daß ihr die Meinung der Leute ziemlich egal ist und sie ihr Ding macht.
Das wirkt stark. Der Vergleich mag Ihnen seltsam vorkommen - aber mich erinnert das an den Mynheer Peeperkorn im "Zauberberg", der nie etwas Gescheites sagt, der aber alle ungemein beeindruckt durch die Kraft seiner Persönlichkeit; durch seine "undeutlich – spöttischen Abgerissenheiten".
So ist sie, unsere Lena: Undeutlich, spöttisch, mit Abgerissenheiten wirkend. Irgendwie beeindruckend, aber halt nur irgendwie.
Wird das die Juroren beeindrucken, die diesmal mit ihrem Urteil zur Hälfte das Ergebnis bestimmen? Wird es das Publikum in den Ländern Europas beeindrucken, die das zur anderen Hälfte tun? Ich kann mir das schwer vorstellen. Ich sehe nicht, wie Lena so in die Stimmung der Zeit passen könnte wie damals Nicole.
Und weiter: Anders als 1982 gibt es inzwischen die voting blocks des Balkans, der Osteuropäer; dazu existiert weiter derjenige der Skandinavier, den es auch damals schon gab. Das heißt nicht, daß ein Bewerber, der dadurch nicht begünstigt wird, keine Chancen hätte. Nur hat er es eben schwerer.
Er und vor allem sie; denn es stimmen wohl mehr weibliche Musikbegeisterte ab als männliche. Wer da als Frau aus Deutschland gewinnen will, der muß schon sehr, sehr gut sein. Und diese Sängerin muß den Geist der Zeit treffen, wie damals Nicole. Bei Lena kann ich das nicht erkennen.
Woher also der Hype in Deutschland, die "Deutschland-Autos" gar?
Vielleicht brauchen wir wieder einmal ein Erfolgserlebnis. Nie seit dem Sommermärchen 2006 war die Stimmung in Deutschland so gedrückt wie jetzt; selbst die Mundwinkel der Kanzlerin sinken noch tiefer, als sie schon immer gesunken waren.
Nichts, woran man sich aufrichten, nichts, wofür man sich begeistern könnte. Fußball in Südafrika? Wir ahnen doch alle, daß das nichts wird. Das Wetter? Trübe und unfreundlich; keine Spur von globaler Erwärmung.
Die persönliche Lage? Viele rechnen damit, daß sie schlechter werden wird. 37 Prozent meinen, laut einer Mai-Umfrage von Infratest dimap, daß es ihnen in zehn Jahren wirtschaftlich schlechter gehen wird als jetzt; nur halb so viele sind optimistisch.
Da würde uns eine zweite Nicole doch richtig guttun.
Wunschdenken also? Vielleicht doch nicht. Als ich eben nachgesehen habe, wie denn die Wetten stehen, habe ich gestaunt: Lena mit 1:4,33 auf Platz zwei; nur Safura aus Aserbeidschan liegt mit 1:4,00 leicht vor ihr.
Sie hatte auf einer Art Barhocker Platz genommen, aber anders als bei Marlene Dietrich im "Blauen Engel" sah man nichts von ihm, denn alles verhüllte dieses Kleid. Auch von Nicole sah man fast nichts, außer ihrem Kopf mit dem goldglänzenden Engelshaar, der auf dieses wallende Kleid aufgesetzt erschien wie der porzellane Kopf einer Puppe auf deren textilen Körper.
Nur hatte er keine Harfe, dieser Engel, sondern eine Gitarre. Die Harfe aber schlug eine Harfinistin hinter ihr; bei einigen Einstellungen war sie groß zu sehen und verstärkte den Eindruck, daß da ein Engel vom Himmel gestiegen war.
Es war die perfekte optische Inszenierung; Sie können sie sich beispielsweise hier ansehen.
Und dieser Engel sang den perfekte Text; den dem Lebensgefühl jener Jahre sozusagen auf den Leib geschriebenen Text.
Im April 1982 war es erst ein paar Monate her, daß die großen Friedensdemonstrationen Europa bewegt hatten. Im Oktober 1981 zum Beispiel diejenigen im Bonner Hofgarten (300.000 Teilnehmer) und in Brüssel; im November waren es fast 400.000 Menschen in Amsterdam gewesen.
Man hatte Angst wie schon lange nicht mehr; man "bekannte sich zu seiner Angst", wie eine beliebte Formel hieß. Die Symbole der Angst waren beispielsweise die Neutronenbombe und vor allem die Pershing II-Raketen, die in Europa stationiert werden sollten. Die wollte man "weg haben", und man verband das mit der seltsam naiven Vorstellungen, daß Deutschland und Europa sicherer werden würden, wenn dann nur noch die Sowjets vergleichbare Raketen (SS-20 im Nato-Code) haben würden, gerichtet auf deutsche und andere europäische Städte.
Und in dieser Stimmung nun, die ganz Europa erfaßt hatte, trat ein Engel hin, komplett mit Rauschgoldhaar und Harfe, und sang:
(...) Ich singe aus Angst vor dem Dunkeln mein Lied,Auch eine schlechtere Sängerin als Nicole hätte mit dieser Inszenierung, mit einem solchen Text und mit einer passablen Melodie gute Chancen auf den Sieg gehabt; aber Nicole ist noch dazu, wie sie in den 30 Jahren seither bewiesen hat, eine gute Sängerin.
und hoffe, dass nichts geschieht. (...)
Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel,
ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt.
Allein bin ich hilflos, ein Vogel im Wind,
der spürt, daß der Sturm beginnt. (...)
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Träumen
und dass die Menchen nicht so oft weinen.
Ein bisschen Frieden, ein bisschen Liebe,
dass ich die Hoffnung nie mehr verlier' .
Sing mit mir ein kleines Lied,
dass die Welt im Frieden lebt.
So erlangte sie den bisher einzigen deutschen Sieg in dem Wettbewerb, der einmal Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß und der jetzt European Song Contest heißt.
Und jetzt also Lena? Schafft sie es für Deutschland zum zweiten Mal? Wird sie die neue Nicole? Ich glaube es nicht. Ich wundere mich, daß so viele es glauben.
Als ich heute mit der Straßenbahn fuhr, saß mir gegenüber eine Mutter mit ihrem Dreijährigen. Ein lebhaftes Kind, das die Dinge um es herum benannte, so wie sie vor seinem Auge auftauchten: "Da, Polizei ... da, Baaart!" (das war ich). Und dann: "Da, Deutschland-Auto!". Und tatsächlich: Der Dreikäsehoch hatte ein Auto entdeckt, das Deutschland war. Mit Schwarzrotgold groß auf dem Kühler, mit Schwarzrotgold klein als Fähnlein ringsherum aufgesteckt.
Ein intelligentes Kind war das; ein kleiner Intellektueller, der zwei Konzepte zu einem neuen zusammengefügt hatte.
Ich habe dann tatsächlich heute noch etliche "Deutschland-Autos" gesehen. Ich bin nicht sicher - aber ich vermute, sie wurden für Lena beflaggt. Jedenfalls würde das zu der Stimmung passen, die unser Land ergriffen hat. Nicht weniger seltsam als die Mischung aus irrationaler Angst und pseudoreligiöser Hoffnung im Jahr 1982.
Ich weiß nicht, ob ich sie begreife, diese Lena-Stimmung.
Natürlich ist sie das Ergebnis der Public-Relations-Maschine von Stefan Raab; ungleich effizienter als das, was damals Ralph Siegel auf die Beine stellen konnte. Lena wurde nach allen Regeln des Gewerbes aufgebaut - mit einer Casting Show, mit Auftritten bei Raab, mit entsprechender Medien-Begleitung. Das war Medienbusiness vom Feinsten.
Andererseits hätte das wohl nicht gereicht, einen Hype zu entzünden, wenn Lena nicht schon ein seltsames Wesen wäre.
Ob sie gut singt, kann ich nicht beurteilen. Immerhin kann sie keine Noten lesen; das ist schon einmal eine gute Voraussetzung.
Wenn ich ihr "Satellite" höre - und man kann dem ja gar nicht entgehen -, dann kommt mir das seltsam unmusikalisch vor. Fast schon ein Sprechgesang, gesprochen in etwas, das der englischen Sprache ähnelt. Dem Cockney soll es verwandt sein, habe ich gelesen. Mir klingt es eher so wie die Bemühungen von mir und meinen Mitschülern, wenn wir in der Obertertia Shakespeare "mit verteilten Rollen" laut vorlesen mußten.
Aber seinen Reiz hat das schon. Eine gewisse trotzige Entschlossenheit kann man heraushören. Take it or leave it. Ich singe so, wie es mir gefällt.
Und so wirkt sie auch bei ihren nichtmusikalischen Auftritten, unsere Lena. Sie hat "Präsenz", wie man so sagt; was wohl meint, daß ihr die Meinung der Leute ziemlich egal ist und sie ihr Ding macht.
Das wirkt stark. Der Vergleich mag Ihnen seltsam vorkommen - aber mich erinnert das an den Mynheer Peeperkorn im "Zauberberg", der nie etwas Gescheites sagt, der aber alle ungemein beeindruckt durch die Kraft seiner Persönlichkeit; durch seine "undeutlich – spöttischen Abgerissenheiten".
So ist sie, unsere Lena: Undeutlich, spöttisch, mit Abgerissenheiten wirkend. Irgendwie beeindruckend, aber halt nur irgendwie.
Wird das die Juroren beeindrucken, die diesmal mit ihrem Urteil zur Hälfte das Ergebnis bestimmen? Wird es das Publikum in den Ländern Europas beeindrucken, die das zur anderen Hälfte tun? Ich kann mir das schwer vorstellen. Ich sehe nicht, wie Lena so in die Stimmung der Zeit passen könnte wie damals Nicole.
Und weiter: Anders als 1982 gibt es inzwischen die voting blocks des Balkans, der Osteuropäer; dazu existiert weiter derjenige der Skandinavier, den es auch damals schon gab. Das heißt nicht, daß ein Bewerber, der dadurch nicht begünstigt wird, keine Chancen hätte. Nur hat er es eben schwerer.
Er und vor allem sie; denn es stimmen wohl mehr weibliche Musikbegeisterte ab als männliche. Wer da als Frau aus Deutschland gewinnen will, der muß schon sehr, sehr gut sein. Und diese Sängerin muß den Geist der Zeit treffen, wie damals Nicole. Bei Lena kann ich das nicht erkennen.
Woher also der Hype in Deutschland, die "Deutschland-Autos" gar?
Vielleicht brauchen wir wieder einmal ein Erfolgserlebnis. Nie seit dem Sommermärchen 2006 war die Stimmung in Deutschland so gedrückt wie jetzt; selbst die Mundwinkel der Kanzlerin sinken noch tiefer, als sie schon immer gesunken waren.
Nichts, woran man sich aufrichten, nichts, wofür man sich begeistern könnte. Fußball in Südafrika? Wir ahnen doch alle, daß das nichts wird. Das Wetter? Trübe und unfreundlich; keine Spur von globaler Erwärmung.
Die persönliche Lage? Viele rechnen damit, daß sie schlechter werden wird. 37 Prozent meinen, laut einer Mai-Umfrage von Infratest dimap, daß es ihnen in zehn Jahren wirtschaftlich schlechter gehen wird als jetzt; nur halb so viele sind optimistisch.
Da würde uns eine zweite Nicole doch richtig guttun.
Wunschdenken also? Vielleicht doch nicht. Als ich eben nachgesehen habe, wie denn die Wetten stehen, habe ich gestaunt: Lena mit 1:4,33 auf Platz zwei; nur Safura aus Aserbeidschan liegt mit 1:4,00 leicht vor ihr.
© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Lena Meyer-Landrut am 23. Mai 2010 in Oslo. Vom Autor EnemyOfTheState unter Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic Licence freigegeben (bearbeitet).