28. Mai 2010

Marginalie: "Die Angstmacher der bürgerlichen Presse" und der Riesenstaatsmann Sigmar Gabriel

"Die Angstmacher der bürgerlichen Presse" - wo würden Sie eine solche Überschrift vermuten? In der Sozialistischen Tageszeitung "Neues Deutschland"? In der kommunistischen "Jungen Welt"? Sie dürfen noch einmal raten.

Richtig, in "Zeit-Online".

In den Jahren, als ich sie noch regelmäßig und gründlich las, gehörte die "Zeit" (Verleger: Der liberale CDU-Abgeordnete Gerd Bucerius; langjährige Chefredakteurin und dann Herausgeberin: Die noch liberalere ostpreußische Landadlige Marion Gräfin Dönhoff) selbst zur "bürgerlichen Presse".

Heutzutage macht sich der stellvertretende Chef von "Zeit-Online", Karsten Polke-Majewski, über sie her, die bürgerliche Presse. "Hysterie und Honecker-Vergleiche: Wie manche Medien in der Griechenland-Krise die Ressentiments der Bürger schüren, ist unerträglich" lautete der Untertitel seines Kommentars, der vor vier Wochen erschien, am 28. April.

"Unerträglich"; ein bemerkenswertes Wort, wenn ein Journalist über Journalisten schreibt.

Polke-Majewski (Buchpublikation 2005: "Land in Angst"; mit der Angst hat er's offenbar) geißelte in diesem Artikel etwas, von dem zwar Politiker oft sprechen, auch wohl der eine oder andere Blogger, die professionellen Kollegen aber eher selten: Eine Pressekampagne:
Was ist hier eigentlich los? Die Bild-Zeitung kreischt "Angst um unser Geld". Die Frankfurter Allgemeine lässt sich ausgerechnet von einem fundamentalistischen Europa-Kritiker, dem tschechischen Präsidenten Václav Klaus, bestätigen, der Euro sei an der griechischen Tragödie Schuld. Die Welt beruft sich auf Erich Honecker, um einen vermeintlichen Fortschritts-automatismus in der Europäischen Union zu geißeln und erzählt dem geneigten Leser, was die Hellenen alles erreichen könnten, wenn sie nur die Drachme wieder hätten. Geht’s noch? (...)

... die Art und Weise, wie einige, vornehmlich bürgerliche Blätter, in diesen Tagen Angst und Ressentiments schüren, ist schwer erträglich.
Das also war vor vier Wochen. Die Journalisten der "bürgerlichen Blätter" haben sich bisher von der Schelte ihres Kollegen von "Zeit-Online" nicht sonderlich beeindruckt gezeigt, sondern die Lage weiter so beschrieben, wie sie sich ihnen nun einmal darstellt.

Aber eine Langzeitwirkung hatte er offenbar, der Kommentar von Karsten Polke-Majewski; nämlich bei Sigmar Gabriel, derzeit Vorsitzender der SPD.



Sei es, daß Sigmar Gabriel den Kommentar damals gelesen und ihn dann einen Monat lang in seinem Herzen bewegt hat; sei es, daß er erst jetzt dazu gekommen ist, die alten Beiträge in "Zeit-Online" aufzuarbeiten - jedenfalls hat er jetzt der "Zeit" ein Interview gegeben, das man in ihrer aktuellen Ausgabe vom 27. 5. auf Seite 4 lesen kann. Und darin hat er offenbar das verinnerlicht, was Polke-Majewski vor einem Monat an Kritik vorgetragen hatte. Jetzt gibt er es, in einer originellen Variante von Selbstreferentialität, an die "Zeit" zurück.

Freilich mit einer bemerkenswerten, sagen wir, Weiterentwicklung. In "Zeit-Online" gab es dazu am Mittwoch einen Vorabbericht. Auszug:
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) vorgeworfen, nicht entschieden auf die Anti-Griechenland-Kampagne der Bild-Zeitung reagiert zu haben. Die Kanzlerin hätte sich dezidiert gegen die Bericherstattung der Bild stellen müssen. "Das wäre ihr Job gewesen!", sagte Gabriel der ZEIT. "Da hätte sie sagen müssen: Das geht zu weit! – Wenn nicht sie, so mindestens der Außenminister".
"Unerträglich" hatte Polke-Majewski die Berichterstattung seiner Kollegen gefunden. Wenn etwas unerträglich ist, dann muß natürlich die Regierung etwas dagegen unternehmen, wird sich Sigmar Gabriel gesagt haben. Das ist seine Weiterentwicklung. Sozialdemokraten denken nun einmal so. Wenn etwas nicht gut ist, dann muß die Regierung es reparieren.

Pressefreiheit hin, Pressefreiheit her. Die Presse als Vierte Gewalt? Pff! Der Vorsitzende der SPD sieht es als Aufgabe der Bundesregierung an, Presseschelte zu üben, wenn Journalisten etwas schreiben, was ihr nicht zusagt.

Offenbar übt er schon für das Amt des Kanzlers, der Riesenstaatsmann Gabriel.



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