30. Oktober 2011

Zitat des Tages: "Wollen Sie ein weiteres Afghanistan erleben?". Die Wahl zwischen Pest und Cholera in Syrien

Syria is the hub now in this region. It is the fault line, and if you play with the ground you will cause an earthquake ... Do you want to see another Afghanistan, or tens of Afghanistans? ... Any problem in Syria will burn the whole region. If the plan is to divide Syria, that is to divide the whole region.

(Syrien ist in dieser Region jetzt der Dreh- und Angelpunkt. Es ist die Verwerfungslinie, und wenn Sie mit dem Boden herumspielen, dann werden Sie ein Erdbeben auslösen ... Wollen Sie ein weiteres Afghanistan erleben, oder zehn Afghanistans? ... Jedes Problem in Syrien wird die ganze Region brennen lassen. Wenn es der Plan ist, Syrien zu spalten, dann bedeutet dies, die ganze Region zu spalten).
Der syrische Staatspräsident Bashar al-Assad in einem Interview mit Andrew Gilligan, über das dieser heute im britischen Telegraph berichtet.

Kommentar: So unschön das ist - Assad hat recht. Ein Ende seines Regimes hätte unabsehbare Folgen für die ganze Region, und zwar vor allem aus zwei Gründen:
  • Syrien hat eine ähnlich inhomogene Gesellschaft wie der Irak. Dort herrschte bis zum Sturz Saddams die sunnitische Minderheit (vor allem Saddams Clan aus Tikrit) über die Mehrheit der Schiiten. In Syrien herrscht die Minderheit der Alawiten (vor allem der Familienclan der Assads) über die sunnitische Mehrheit (siehe Stratfors Analysen: Nahost-Expertin Reva Bhalla über die Hintergründe der Krise in Syrien; ZR vom 9. 5. 2011). Diesem Regime steht eine in sich gespaltene Opposition gegenüber, die nach einem Sturz Assads kaum regierungsfähig wäre (siehe Die Lage in Syrien. Eine Entwicklung wie in Libyen ist nicht zu erwarten; ZR vom 3. 10. 2011).

  • Ein Chaos in Syrien ähnlich dem, das jetzt in Libyen herrscht, würde die ganze Region destabilisieren. Es wäre deshalb schlimmer als das in Libyen.

    Libyen ist strategisch von geringer Bedeutung. Seine beiden Nachbarn Tunesien und Ägypten werden sich mehr oder weniger gut gegen ein Überschwappen der bevorstehenden libyschen Unruhen auf ihre Länder zu schützen wissen. Ansonsten geht geopolitisch vor allem für Europa eine Gefahr vom künftigen Libyen aus, weil dort Stützpunkte der Kaida entstehen werden, und weil Flüchtlinge aus Schwarzafrika durch das Land in Richtung Europa strömen werden (siehe "Piraten in Sizilien". Liegt ein Sturz Gaddafis eigentlich im Interesse Europas?; ZR vom 7. 3. 2011).

    Syrien aber ist - wie Assad richtig konstatiert - der Dreh- und Angelpunkt einer Region, die ohnehin instabil ist. Sein Sturz würde einen Flüchtlingswelle von Christen, Alawiten und Nichtreligiösen auslösen; diese Gruppen unterstützen (so der Eindruck von Andrew Gilligan aufgrund von Interviews in Damaskus) nolens volens aus Furcht vor einem solchen Schicksal die Diktatur Assads als das geringere Übel.

    In einem Syrien, das im Bürgerkrieg versinkt, würden sich die Kaida und andere Terroristen etablieren können; eine unmittelbare Bedrohung Israels, das sich möglicherweise zum Eingreifen gezwungen sehen würde. Auf der Gegenseite würde der Iran seine Interessen in Gefahr sehen. Der ohnehin noch instabile Irak mit seiner sunnitischen Minderheit, die sich von den Schiiten bedroht sieht, könnte hineingezogen werden.
  • Außer den radikalen Islamisten hat niemand gegenwärtig ein Interesse am Sturz Assads. Aber die Aufständischen in Syrien machen sich Hoffnung, daß sie dennoch die Nato zu einem Eingreifen wie in Libyen bewegen können. Die libyschen Auständischen hatten das dadurch erreicht, daß sie das Märchen von einem drohenden Genozid durch Gaddafi verbreiteten (siehe "Gaddafi hat den Zynismus des Westens unterschätzt"; ZR vom 22. 10. 2011).

    Man kann nur hoffen, daß die Nato nicht erneut in die Falle geht.

    Assad ist ein erbarmungsloser Diktator. Aber sein Sturz würde Bürgerkrieg und Kriegsgefahr in der Region bedeuten. Wir haben leider nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.
    Zettel



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