24. Oktober 2011

Scharia, Chuzpe, Sarkozy. Nachrichtensplitter zum freien Libyen

Libyen ist jetzt, so lesen wir es überall, frei. Oder auch "befreit". Die FAZ von heute:
Der Vize-Präsident des Nationalen Übergangsrats in Libyen, Abdel Hafis Ghoga, hat das nordafrikanische Land nach dem Tod des langjährigen Machthabers Muammar el Gaddafi am Sonntag offiziell für "frei" erklärt. Zu der Zeremonie in der nordöstlichen Stadt Benghasi hatten sich zuvor tausende Menschen versammelt.(...) Der Nationale Übergangsrat hatte angekündigt, mit dieser Feier formal den acht Monate dauernden Krieg gegen Gaddafi zu beenden und den Prozess für den Übergang in eine demokratisch legitimierte Ordnung einzuleiten.
Das klingt ein wenig wie die legendäre Formulierung von Präsident Bush am 1. Mai 2003 an Bord der "Abraham Lincoln":
Major combat operations in Iraq have ended. In the battle of Iraq, the United States and our allies have prevailed.

Die Kampfhandlungen im Irak sind im wesentlichen beendet. In der Schlacht um den Irak haben die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten den Sieg davongetragen.
Hinter dem Präsidenten sah man ein Spruchband: "MISSION ACCOMPLISHED" - Auftrag erfüllt.

Im Mai 2003 war in der Tat der Auftrag erfüllt, das Regime Saddam Husseins zu stürzen. Im Mai 2003 begannen damit der jahrelange Krieg gegen Aufständische und der jahrelange Zwist, in dem sich Iraker gegenseitig bekämpften und in dem sie von der Kaida terrorisiert wurden.

Daß es in Libyen jetzt zu einem friedlichen Übergang in eine "demokratisch legitimierte Ordnung" kommen wird, ist angesichts der dortigen Gegebenheiten nach dem Sturz Gaddafis ungefähr so wahrscheinlich, wie daß die Bewohner eines Haifischbeckens spontan zu Veganern werden (siehe Probleme Libyens nach dem Tod Gaddafis; ZR vom 20. 10. 2011).



Bei dem Festakt in Bengasi sprach auch der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, Mustafa Abdul Dschalil. Unter der Überschrift "Scharia soll neues Recht in Libyen werden" berichtete darüber gestern "Focus-Online":
Doch es gibt einen faden Beigeschmack: Die islamische Scharia soll als neues Rechtssystem eingeführt werden. (...) Die von Dschalil präsentierte Vision eines neuen Libyen war stark religlös gefärbt. Vor Tausenden Menschen verkündete Dschalil, im neuen Leben werde das islamische Recht Scharia die Grundlage aller Gesetze sein und bestehende Gesetze, die im Widerspruch zum Islam stünden, würden annulliert.
Falls Sie regelmäßig ZR lesen, wird diese Meldung Sie nicht überrascht haben. Anfang September habe ich auf die Naivität eines deutschen Juristen hingewiesen, der bei den Rebellen zu Besucht gewesen war und der danach meinte, daß man im neuen Libyen "eine Islamisierung des Justizwesens ... nicht befürchten" müsse. Schon damals lagen Informationen vor, die das Gegenteil besagten: Scharia im neuen Libyen; ZR vom 2. 9. 2011.



Wie ist nun Muamar al-Gaddafi ums Leben gekommen? Anfangs hatte der Nationale Übergangsrat eine Autopsie seiner Leiche strikt abgelehnt. Dann wurde sie plötzlich doch erlaubt.

Mit jenem Ergebnis, das sich angesichts der Videos von Gaddafis Mißhandlung durch eine Bande von Aufständischen aufdrängt (siehe Wie starb Muammar al-Gaddafi? (mit Links zu Videos); ZR vom 21. 10. 2011)?

Oder doch nicht? Drei Stunden später, um 18.52 Uhr, erschien im Nouvel Observateur diese Meldung:
Le rapport d'autopsie rédigé après l'examen du corps de Mouammar Kadhafi conclut que l'ancien dirigeant libyen a succombé après un échange de tirs, a déclaré dimanche 23 octobre Mahmoud Jibril, numéro deux du Conseil national de transition (CNT).

"Le médecin légiste affirme dans son rapport qu'il (Kadhafi) était déjà blessé, a été sorti, mis dans un camion, et sur le chemin vers l'hôpital de campagne, il y a eu un feu croisé des deux côtés", a déclaré Mahmoud Jibril lors d'une conférence de presse en marge du Forum économique mondial sur les bords de la mer Morte en Jordanie.

"Je ne sais pas si la balle qui l'a frappé à la tête provenait de sa propre sécurité ou des brigades des révolutionnaires", a-t-il précisé, ajoutant qu'il n'y avait selon lui "aucune raison de douter de la crédibilité" de cet examen.

Der nach der Untersuchung der Leiche von Muamar Gaddafi erstellte Autopsiebericht kommt zu dem Ergebnis, daß der frühere Führer Libyens nach einem Feuergefecht starb. Dies erklärte am Sonntag die Nummer Zwei des Nationalen Übergangsrats, Mahmud Dschibril.
Auf einer Pressekonferenz am Rande des Weltwirtschaftsforums am Strand des Toten Meers in Jordanien sagte Mahmud Dschibril: "Der Gerichtsmediziner stellt in seinem Bericht fest, daß er (Gaddafi) bereits verletzt herausgeholt und in einen Lastwagen gelegt wurde. Auf dem Weg zum Feldlazarett gab es von beiden Seiten ein Feuergefecht".

"Ich weiß nicht, ob die Kugel, die ihn in den Kopf getroffen hat, von seinen eigenen Sicherheitsleuten oder von Brigaden der Revolutionäre kam", ergänzte er und fügte hinzu, daß aus seiner Sicht "keinerlei Zweifel an der Glaubwürdigkeit" dieser Untersuchung bestehe.
Angesichts der Videos, die zeigen, wie der noch lebende Gaddafi auf der Motorhaube eines Autos transportiert, dann heruntergezerrt und herumgestoßen wird, kann man diesem Mahmud Dschibril wohl ein beträchtliches Maß an Chuzpe attestieren.

Offenbar war man sich im Nationalen Übergangsrat uneins, ob man die Version vom Feuergefecht aufrechterhalten oder aber eine Autopsie erlauben sollte. Dann muß wohl jemand auf den Gedanken gekommen sein, daß man ja auch eine Autopsie veranstalten könnte, die diese Version vom Feuergefecht bestätigt.



Ebenfalls im Nouvel Observateur befaßt sich dessen Redakteur Vincent Jauvert damit, wie segensreich der Sieg in Libyen für den Wahlkämpfer Nicolas Sarkozy sein könnte (Überschrift: "Gaddafi - ein schöner Skalp für den Kandidaten Sarkozy"). Dieser kann, so Jauvert, jetzt argumentieren,
  • wie richtig es war, daß er Frankreich in die militärische Integration der Nato zurückgeführt hat;

  • daß die jetzige militärische Zusammenarbeit mit Großbritannien auf das Militärabkommen zwischen den beiden Ländern zurückgeht, das im vergangenen Herbst von ihm unterzeichnet wurde;

  • daß er, Sarkozy, mit seinem Engangement die Durchsetzung der Menschenrechte in Libyen erreicht hat;

  • daß auch seine Annäherung an das Rußland Putins eine Voraussetzung für das Eingreifen in Libyen war, denn Rußland hätte es durch ein Veto im Weltsicherheitsrat blockieren können;

  • und daß er zwar einst mit Ben Ali in Tunesien und mit Ägyptens Mubarak gut Freund gewesen war, sich aber im entscheidenden Augenblick für die Sache der Freiheit in Arabien entschied.
  • Nicht schlecht für einen Präsidenten, der sich im kommenden Mai zur Neuwahl stellen muß. Allerdings hat Jauvert einen Wermutstropfen bereit:
    A moins que d'ici mai 2012 des islamistes radicaux et armés ne prennent tout le pouvoir à Tripoli et/ou qu'un groupe terroriste n'utilise l'un des milliers de missiles anti-aériens volés dans les casernes libyennes pour abattre un avion de ligne et tuer des centaines de touristes.

    Le scalp de Kadhafi deviendrait alors un fardeau pour le candidat Sarkozy.

    Es sei denn, daß zwischen jetzt und dem Mai 2012 radikale, bewaffnete Islamisten in Tripolis die gesamte Macht übernehmen und/oder daß eine Gruppe von Terroristen eine der Tausende von Boden-Luft Raketen, die aus libyschen Kasernen entwendet wurden, dazu benutzt, ein Linienflugzeug abzuschießen und Hunderte von Touristen umzubringen.

    Der Skalp Gaddafis würde dann für den Kandidaten Sarkozy zum Klotz am Bein werden.
    Wohl nicht nur am Bein des Kandidaten Sarkozy. Es gehört keine prophetische Gabe dazu, vorherzusagen, daß auch der Kandidat Obama wenig Freude an der kommenden Entwicklung in Libyen haben könnte; jener Präsident, der den Krieg gegen Gaddafi am 29. März mit rhetorischem Kanonendonner eröffnet hatte (siehe "Gaddafi hat den Zynismus des Westens unterschätzt"; ZR vom 22. 10. 2011).
    Zettel



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